Nach drei Pandemiejahren ist das Gesundheitspersonal in vielen Ländern zermürbt. Das zeigen auch die Zahlen: Trotz zusätzlicher Mitarbeiter und mehr Geld kommt es in westlichen Staaten zu sehr langen Wartezeiten. Die Folgen werden langsam sichtbar.
Mit der Verhängung von Zwangsmaßnahmen während der Covid-19-Pandemie wurde weltweit das vorrangige Ziel verfolgt, die Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern. Die Regierungen hofften, die Infektionen einzudämmen und Zeit für den Aufbau von Kapazitäten zu gewinnen. Am Ende blieb jedoch ein Großteil dieser zusätzlichen Kapazitäten ungenutzt. Englands sieben „Nightingale“-Krankenhäuser etwa wurden geschlossen, nachdem sie nur wenige Patienten aufgenommen hatten, ebenso wie viele der mobilen Feldkrankenhäuser in den USA.
In einer Studie über Europas Erfahrungen in der Gesundheitspolitik wird nur ein Beispiel angeführt, wo es mehr Covid-Patienten als Intensivbetten gab, nämlich in der italienischen Region Lombardei am 3. April 2020. Und obwohl es jetzt Meldungen über überforderte chinesische Krankenhäuser gibt, da das Land mit einer großen Sterblichkeitswelle konfrontiert ist, lässt sich noch nicht feststellen, ob es sich um isolierte Einzelfälle handelt oder um ein allgemeineres systemisches Versagen. Außerhalb von China machen sich die Menschen derzeit hingegen immer weniger Gedanken um Covid.
Doch die Gesundheitssysteme in weiten Teilen der reichen Welt sind näher am Zusammenbruch als jemals zuvor seit Beginn der Pandemie. Anders als bei der Arbeitslosigkeit oder dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gibt es nur wenige vergleichbare aktuelle Zahlen zur Leistung der Gesundheitsversorgung in den einzelnen Ländern. Deshalb hat „The Economist“ Statistiken durchforstet, die von Ländern, Regionen und sogar einzelnen Krankenhäusern erstellt wurden, um zu beschreiben, was hier vor sich geht. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Patienten, Ärzte und Pflegepersonal derzeit die brutalen Nachwirkungen der Pandemie erleben.
Lange Wartezeiten
Angefangen mit Großbritannien, das qualitativ hochwertige Daten liefert. Der „National Health Service“ (NHS), der staatliche Gesundheitsdienst des Landes, befindet sich in einer Notlage. Kurz bevor die Pandemie ausbrach, wartete jemand mit einem medizinischen Problem, das dringend, aber nicht sofort behandelt werden musste – eine Kategorie, zu der auch Schlaganfall- und Herzinfarktpatienten gehören – durchschnittlich 20 Minuten auf einen Krankenwagen. Jetzt muss man länger als anderthalb Stunden warten. Die Zahl der langen Wartezeiten im Krankentransport – die Zeit zwischen der Entscheidung, einen Patienten aufzunehmen, und der Ankunft auf einer Krankenstation – ist sprunghaft angestiegen.
Die monatlichen Todesfälle in ganz Europa sind derzeit etwa zehn Prozent höher als erwartet.“
Andere Länder haben weniger umfassende Statistiken, aber ebenso betroffene Bevölkerungsgruppen. Im September veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut „Ipsos“ eine weltweite Umfrage, die eine Frage zur Qualität der lokalen Gesundheitsversorgung enthielt. In fast allen der rund 20 untersuchten reichen Länder gaben die Menschen seltener als 2021 an, dass die ihnen angebotenen Dienstleistungen „gut“ oder „sehr gut“ seien. In Großbritannien fiel der entsprechende Anteil um fünf Prozentpunkte. In Kanada ging er um zehn, in Italien um zwölf Prozent zurück.
Italienische Krankenhäuser, die Anfang 2020 von Covid-Patienten überrannt wurden, haben erneut Probleme. „The Economist“ hat Daten aus dem Krankenhaus „Papst Johannes XXIII.“ in Bergamo analysiert, wo vor fast drei Jahren einige der erschütternden Bilder von Menschen mit Beatmungsgeräten aufgenommen wurden. In dem Jahr, in dem Covid Italien traf, wurden die Wartelisten des Krankenhauses bei einigen Maßnahmen etwas länger. Im folgenden Jahr gingen sie wieder leicht zurück. Aber 2022 sind sie fast explodiert. Wer in der Stadt eine nicht dringende Brust-Ultraschalluntersuchung braucht, muss möglicherweise bis zu zwei Jahre warten. Die Behörden in der Emilia-Romagna, einer weiteren Region, die 2020 schwer getroffen wurde, haben einen Plan auf den Weg gebracht, um die Wartelisten wieder auf das Niveau vor der Pandemie zu bringen.
Die Zeitungen in der gesamten angelsächsischen Welt sind voll von Horrorgeschichten. In New South Wales (Australien) musste im dritten Quartal 2022 ein Viertel der Patienten mehr als eine halbe Stunde warten, bis sie vom Rettungsdienst zur Notaufnahme gebracht wurden, gegenüber einem Zehntel zwei Jahre zuvor. In Kanada haben die Wartezeiten zwischen Überweisung und Behandlung mit einer mittleren Verzögerung von einem halben Jahr ein Allzeithoch erreicht.
Sonstige Krankheiten und Katastrophen
Selbst die reichsten und leistungsfähigsten Gesundheitssysteme spüren die Belastung. In der Schweiz gibt es weniger freie Intensivbetten als zu den meisten Zeiten der Pandemie. Deutschland sieht sich ähnlichen Problemen gegenüber, wobei die Kapazität der Intensivpflege aufgrund der steigenden Patientenzahlen abnimmt. In Singapur warteten die Patienten Ende 2021 etwa neun Stunden, um in einer durchschnittlichen Poliklinik untersucht zu werden. Bis Oktober 2022 mussten sie bereits 13 Stunden warten.
Den USA geht es besser als den meisten Ländern, dank der enormen Finanzmittel, die Amerika für die Gesundheitsversorgung aufwendet, und der damit finanzierten Überkapazitäten. Aber es geht nicht wirklich gut. Die durchschnittliche Auslastung der Krankenhäuser lag kürzlich erstmals über 80 Prozent. Selbst in den dunkelsten Tagen der Pandemie berichteten nur wenige US-Bundesstaaten, dass Kinderstationen stark belastet seien (was als zu 90 Prozent oder mehr belegte Betten definiert wird). Anfang November jedoch befanden sich ganze 17 Bundesstaaten in dieser Situation, was auf einen Anstieg aller Arten von Viren bei Kindern zurückzuführen ist.
Vielleicht ist das eigentliche Problem nicht die Anzahl der Mitarbeiter, sondern die Effizienz ihrer Arbeit.“
Der Zusammenbruch der Qualität der Gesundheitsversorgung trägt zu einem erstaunlichen Anstieg der „Übersterblichkeit“ bei – die über das hinausgeht, was in einem normalen Jahr zu erwarten wäre. In vielen Ländern der reichen Welt erwies sich 2022 sogar als tödlicher als 2021, ein Jahr mit mehreren großen Covid-Wellen. Die monatlichen Todesfälle in ganz Europa sind derzeit etwa zehn Prozent höher als erwartet. Deutschland steckt mitten in einer riesigen Sterblichkeitswelle: Seit September liegen die wöchentlichen Todesfälle um mehr als zehn Prozent über dem Normalwert. Anfang Dezember waren sie um 23 Prozent höher.
Sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene wird die Politik dafür verantwortlich gemacht – und manchmal auch zu Recht. Aber die Faktoren, die das Chaos verursachen, gelten in allen Ländern und sind mit der Pandemie verbunden. Sie dürften auch zumindest kurzfristig für die Regierungen kaum zu bewältigen sein.
Weniger Leistung mit mehr Aufwand
Im OECD-Klub der eher reichen Länder liegen die Gesundheitsausgaben jetzt bei knapp zehn Prozent des BIP, nachdem sie vor der Pandemie noch unter neun Prozent lagen. Von den 20 Ländern, zu denen Daten für 2021 vorliegen, gaben 18 Staaten pro Einwohner mehr aus als je zuvor. Fast alle gaben im Verhältnis zum BIP mehr aus als 2019. Diese Ergebnisse ändern sich auch durch eine Anpassung der Zahlen an das Altern der Bevölkerung nicht wesentlich.
Nach den Lockdowns scheinen die Menschen mehr Hilfe zu benötigen als je zuvor.“
Die unmittelbaren Probleme der Gesundheitssysteme werden also nicht durch Geldmangel verursacht. Ein Großteil der höheren Ausgaben ist für Programme zur Bekämpfung von Covid aufgewendet worden, darunter Tests und Rückverfolgung der Infektionen sowie Impfstoffe. Aber die Finanzierung steigt jetzt systemübergreifend auf breiterer Basis. In fast allen reichen Ländern arbeiten mehr Menschen als je zuvor im Gesundheitswesen. Die Gesamtbeschäftigung in den Krankenhäusern lag 2021 in den sechs von „The Economist“ untersuchten OECD-Ländern um neun Prozent höher als im Jahr vor der Pandemie. Den neuesten Daten lässt sich entnehmen, dass in Kanada derzeit 1,6 Millionen Menschen im Gesundheitswesen arbeiten, so viele wie nie zuvor. In der EU sind mehr als zwölf Millionen Menschen im Bereich der Humanmedizin tätig, ein Rekord. Amerikanische Krankenhäuser beschäftigen 5,3 Millionen Menschen, ein weiterer Rekord.
Vielleicht ist das eigentliche Problem nicht die Anzahl der Mitarbeiter, sondern die Effizienz ihrer Arbeit. Die reale Leistung im amerikanischen stationären und ambulanten Gesundheitssektor, die praktisch die Menge der bereitgestellten Versorgung misst, liegt nur 3,9 Prozent über dem Niveau vor der Pandemie, während die Produktion in der gesamten Wirtschaft um 6,4 Prozent gestiegen ist. In England ist die elektive Versorgungsaktivität (d. h. längerfristig geplante Operationen) etwas geringer als vor der Pandemie. In Westaustralien stieg der Anteil verzögerter elektiver Operationen in den zwei Jahren bis November von elf auf 24 Prozent. Einfacher ausgedrückt: Die Krankenhäuser leisten weniger mit mehr Aufwand.
Explodierende Nachfrage
Obwohl das rückläufige Produktivitätswachstum ein gesamtwirtschaftliches Phänomen ist, leidet das Gesundheitswesen derzeit unter zusätzlichem Druck. Eine aktuelle Studie von Diane Coyle und Kollegen von der „Cambridge University“ in Bezug auf Großbritannien befasst sich mit den Auswirkungen des Umgangs mit Covid. Die Anweisungen zum An- und Ablegen der persönlichen Schutzausrüstung und die Hygienevorschriften nach dem Umgang mit Covid-Patienten, die noch heute in vielen Ländern in Kraft sind, verlangsamen den gesamten Ablauf. Durch die Trennung von Covid- und Nicht-Covid-Patienten wird die Bettenbelegung außerdem eingeschränkt.
Unterdessen fühlt sich das Gesundheitspersonal nach drei zermürbenden Jahren erschöpft. Ein Artikel der Fachzeitschrift „Mayo Clinic Proceedings“ hält fest, dass quantitative Faktoren für „Burnout“ bei amerikanischen Ärzten rasant gestiegen sind. Wenn die Mitarbeiter des Gesundheitswesens erschöpft sind, tun sie möglicherweise weniger von den Dingen, die den Betrieb am Laufen gehalten haben, z. B. Überstunden, um sicherzustellen, dass die Patientenakten in Ordnung sind, oder Hilfe bei der Behandlung der Patienten eines anderen Mediziners.
Die Produktivität ist gesunken – aber nicht in dem Maße, dass damit das Chaos erklärt werden könnte. Dies deutet darauf hin, dass die wahre Erklärung für den Zusammenbruch anderswo liegt, nämlich in der explodierenden Nachfrage. Nach den Lockdowns scheinen die Menschen mehr Hilfe zu benötigen als je zuvor. Das hat teilweise mit der Immunität zu tun. Die Leute waren zwei Jahre lang unterwegs, ohne weiteren Mikroorganismen ausgesetzt zu sein. Seitdem haben sich endemische Krankheitserreger wie das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) massiv verbreitet.
Aber die Pandemie hat auch andere Erkrankungen verdeckt, die erst jetzt diagnostiziert werden. In den Jahren 2020-21 zögerten viele Menschen, sich behandeln zu lassen – aus Angst, sich mit Covid anzustecken, oder weil ihr örtliches Krankenhaus wegen Bedingungen, die nicht den Covid-Vorschriften entsprachen, geschlossen war. In Italien gingen die Krebsdiagnosen im Jahr 2020 im Vergleich zu 2018-19 um etwa 40 Prozent zurück. Eine Studie mit US-Patienten stellte einen erheblichen Rückgang der Diagnosen bei Krebsarten fest, die normalerweise während einer Früherkennungs- oder Routineuntersuchung ermittelt werden.
Fatale Folgen des Chaos
In England ist die NHS-Warteliste seit der Feststellung der Pandemie um mehr als 60 Prozent gewachsen. Viele der Personen auf der Liste und auf ähnlichen Listen in anderen Ländern werden wahrscheinlich stärker erkranken und daher mehr Ressourcen in Anspruch nehmen, als wenn sie im Jahr 2020 behandelt worden wären. Einem kürzlich in der Fachzeitschrift „Lancet Public Health” veröffentlichten Artikel zufolge könnten die Todesfälle durch Darmkrebs in den nächsten zwei Jahrzehnten in Australien fast zehn Prozent höher sein, als die Tendenz vor der Pandemie vermuten ließ, und zwar teilweise auch aufgrund von Verzögerungen bei der Behandlung.
Durch Covid erhöhte sich außerdem die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Der Thinktank „Institute for Fiscal Studies” schätzt, dass die Zahl der verfügbaren Betten im NHS durch die Pandemie um zwei bis sieben Prozent verringert wird. Da Covid-positive Patienten Ressourcen beanspruchen, bieten die Gesundheitseinrichtungen allen Betroffenen eine schlechtere Versorgung. Aus Untersuchungen von Thiemo Fetzer von der „Warwick University” und Christopher Rauh von der „Cambridge University” geht hervor, dass für etwa 30 zusätzliche Covid-Todesfälle ein Nicht-Covid-Patient stirbt. Die Ursache: „abnehmende Versorgungsqualität“.
Die Auswirkungen schlecht funktionierender Gesundheitssysteme gehen über unnötige Todesfälle hinaus. Die Menschen bekommen das Gefühl, dass ihr Land auseinanderfällt. Wer in einem reichen Staat lebt und krank wird, erwartet, dass ihm jemand hilft. Mit der Zeit wird der durch die Pandemie entstandene Rückstau verschwinden. Der Anstieg von Atemwegsviren bei Erwachsenen und Kindern hat wahrscheinlich seinen Höhepunkt erreicht. Die Verwaltungen haben Fortschritte bei der Bewältigung der enormen Wartelisten gemacht. Aber bei einer alternden Bevölkerung und einer allgegenwärtigen Bedrohung durch Covid könnte es fast so scheinen, als ob die Gesundheitsversorgung vor der Pandemie aus einem vergangenen Goldenen Zeitalter stammte.
* Dieser Artikel basiert auf einem Originaltext aus dem „Economist“, den Reporter.lu im Rahmen einer Syndizierungspartnerschaft veröffentlicht.
© 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.From The Economist, translated by Hermann J. Bumb, published under licence. The original article, in English, can be found on www.economist.com.