Die Schweiz gilt aus mehreren Gründen als einer der Hotspots der Coronavirus-Pandemie in Europa. Den vergleichsweise vielen Fällen und Opfern steht aber auch eine hoffnungsvolle Entwicklung gegenüber. Eine Exit-Strategie lässt indes auch hier noch auf sich warten.
„Die Welle hat einen überschaubaren Zeithorizont“, sagt Daniel Koch. Der Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist seit Beginn der Coronavirus-Pandemie eine der zentralen Figuren auf den Schweizer Fernsehschirmen. Anfang dieser Woche wagte er eine erste Prognose über den weiteren Verlauf: „Wir gehen davon aus, dass diese Welle im Frühsommer vorbei ist.“
Anders als diese Prognose vermuten lässt, ist die Debatte in der Schweiz noch lange nicht von einer möglichen Exit-Strategie geprägt. Zwar fordert etwa die rechtspopulistische Soziale Volkspartei (SVP) als erste Partei eine Lockerung der Maßnahmen, „um die Wiederaufnahme des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens herzustellen“. Die Regierung möchte jedoch erst weitere Szenarien einer Task Force aus Experten abwarten, die die politischen Entscheidungsträger berät.
Proportional viele Fälle und Tote
Bis auf Weiteres ist das Land denn auch noch mit den unmittelbaren Folgen der Pandemie beschäftigt. Mit ihren 8,5 Millionen Einwohnern hat die Schweiz laut dem BAG bisher über 17.000 Corona-Fälle und über 500 Tote (Stand: 2. April) registriert. Die hohe Fallzahl ist auf die frühe Diagnostik und die hohe Anzahl von Tests zurückzuführen.
Die Todesrate ist im Vergleich mit den Nachbarländern jedoch eher hoch. Das hat laut ersten Einschätzungen von Experten vor allem damit zu tun, dass der südliche, italienischsprachige Kanton Tessin, an die arg getroffenen norditalienischen Regionen grenzt. Zudem zählt diese Region viele Grenzgänger und schärfere lokale Maßnahmen ließen hier länger auf sich warten.
Erste hoffnungsvolle Entwicklungen
Hoffnung geben aber die jüngsten Fallzahlen. Die Verdoppelungszeit der bestätigten Covid-19-Fälle von zu Beginn alle drei bis vier Tage hat sich mittlerweile auf über zehn Tage verlangsamt. Die Anzahl der täglichen Neuerkrankungen bleibt stabil. „Bis jetzt sehen wir, dass sich die Kurve der neuen Fälle leicht abflacht. Doch der Rückgang ist noch nicht so stark, wie er sein sollte“, sagte Marcel Salathé, Epidemiologe an der ETH Lausanne, am Dienstag.
Die Schweiz erlebe „keine Explosion“ der Fallzahlen, sagte Gesundheitsminister Alain Berset kürzlich, und dies obwohl die Schweiz die Testkapazitäten permanent ausbaut. Da die Intensivpflegestationen nicht voll ausgelastet sind konnten kürzlich, wie auch in Luxemburg, mehrere schwer erkrankte Patienten aus dem Tessin und dem Elsass aufgenommen und im Land behandelt werden.
Zentral regiert und doch eigensinnig
Die Schweizer Regierung (Bundesrat) hat am 20. März die Lage gemäß Epidemiegesetz als „außerordentlich“ eingestuft und die initialen Schutzmaßnahmen vom 10.3. verschärft. Diese höchste verfassungsmäßige Einstufung erlaubt es dem siebenköpfigen Gremium nationale Maßnahmen über die 26 Kantone hinweg anzuordnen. In der ansonsten dezentralen Schweiz hat nun die Hauptstadt Bern das Sagen. So hat die Regierung eine kürzlich vom Kanton Uri verhängte Ausgangssperre für über 65-Jährige aufgehoben.

An den Grenzen zu Italien, Deutschland, Frankreich und Österreich werden Kontrollen durchgeführt. Landesweit sind Ansammlungen von mehr als fünf Personen verboten. Läden, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe sind seit dem 17. März und zunächst bis zum 19. April geschlossen. Ebenso Betriebe, in denen die Abstandsregeln nicht eingehalten werden können, etwa Coiffeursalons oder Kosmetikstudios. Alle Präsenzveranstaltungen an Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten sind bis zum gleichen Datum untersagt.
Keine komplette Ausgangssperre
Ausgenommen sind unter anderem Lebensmittelläden und Gesundheitseinrichtungen. Auch Kindertagesstätten können unter bestimmten Voraussetzungen geöffnet bleiben. Anders als im benachbarten Österreich sind Schutzmasken in den Supermärkten nicht Pflicht. In der Öffentlichkeit trifft man auch nur wenige Menschen mit Masken. Überhaupt ist die Bewegungsfreiheit im Vergleich zu anderen Ländern recht groß.
Dies hat nicht zuletzt mit der eigensinnigen Schweizer Mentalität zu tun. Mitten in Europa – und doch außerhalb der EU – pochen die Schweizer auch in Corona-Zeiten auf ihre spezifische Eigenständigkeit: ausgeprägte Referendumskultur, international praktizierte Neutralität, Drang nach Unabhängigkeit, Freiheit und Eigensinn. Dies erklärt, wieso in der Schweiz ganz bewusst keine komplette Ausgangssperre verhängt wurde.
Schnelle Hilfen für die Wirtschaft
Hinzu kommt das naheliegende Argument, dass die Wirtschaft nicht übermäßig unter den Auflagen der Krise leiden soll. Neben einzelnen Großformen (Banken, Pharmakonzerne, Bundesbahn, Post, Telekom) bilden unzählige kleine und mittlere Unternehmen das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft: Maschinenbau, Bauwesen, Tourismusbranche, Detailhandel und einige mehr.
Der Bundesrat hat mehrere Maßnahmenpakete in Höhe von insgesamt über 40 Milliarden Schweizer Franken zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie beschlossen: Kurzarbeit, Zahlungsaufschub bei Sozialversicherungsbeiträgen, Liquiditätspuffer im Steuerbereich, Rechtsstillstand über Schuldbeitreibung und Konkurs.
Hinzu kommt eine Soforthilfe mittels verbürgter Überbrückungskredite, wobei Beträge bis zu 500.000 Franken von den Banken sofort ausbezahlt und vom Bund zu 100 Prozent garantiert werden. Im Vergleich zu anderen Staaten fällt denn auch die äußerst unbürokratische Ausführung dieses Maßnahmenpaketes auf.
Ein Land der „Papierbürokratie“
Nur in einem Punkt scheint die Schweiz im Vergleich zum Ausland etwas rückständiger zu sein. Wie das Online-Magazin „Republik“ vor rund zwei Wochen berichtete, hätten die Gesundheitsbehörden des Landes die Digitalisierung verschlafen. Deren Mitarbeiter würden auch im Jahre 2020 noch mit „Papierbürokratie“ kämpfen. Das Bundesamt für Gesundheit sei zumindest zu Beginn der Krise nicht in der Lage gewesen, die aktuellen Zahlen angemessen zu erheben. Dieses „Underreporting“ würde einer effektiven Bekämpfung der Pandemie natürlich zuwiderlaufen.
„Die Situation ist der Schweiz unwürdig“, wird der Epidemiologe an der ETH Lausanne, Marcel Salathé, von der „Republik“ zitiert. Der Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit, Daniel Koch, widerspricht dieser Darstellung nur zum Teil. „Die Digitalisierung ist im Gesundheitssystem nicht weit fortgeschritten. Wir sind aber à jour“, wird er in Schweizer Medien zitiert. Bei der Aufarbeitung der Fälle bestehe denn auch kein Verzug mehr.