Seit zwei Jahren behalten Eltern auch nach einer Trennung das gemeinsame Sorgerecht. In der Praxis gestaltet sich die Einhaltung des Gesetzes jedoch problematisch. Bei Regelverstößen gerät auch die Justiz schnell an ihre Grenzen. Die Pandemie verschärft die Lage der Betroffenen.
„Sie hatten beide vor kurzem Geburtstag und ich konnte ihnen nicht einmal gratulieren.“ Nathalies* Stimme zittert. Die Mutter hat ihre beiden jüngsten Kinder, zehn- und elfjährig, seit März nicht mehr gesehen. „Er rückt sie einfach nicht heraus“, sagt sie. „Und ich kann nichts machen.“
Es war Sonntagabend, der 15. März. Nathalie wartete darauf, dass ihre Kinder nach Hause kommen. Sie hatten die letzten Tage bei ihrem Vater verbracht. Jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Ferien: So war das Besuchsrecht vor einigen Jahren im Sorgerechtsverfahren festgelegt worden. Doch ihr Ex-Mann hält sich nicht an die rechtlichen Auflagen. Er brachte die Kinder nicht zu Nathalie zurück. Weder am 15. März, noch danach. Zunächst unter dem Vorwand des Lockdowns, mittlerweile beansprucht er sogar das alleinige Sorgerecht für sich und beruft sich dabei auf die angeblichen Wünsche der Kinder. Sie wollten bei ihm bleiben. Ausschließlich.
Bereits Ende März erstattete Nathalie Anzeige. Mit zwei Polizeibeamten war sie zum Wohnort ihres Ex-Mannes gefahren, um die Kinder selbst abzuholen. Es wurde diskutiert, doch die Polizei hatte keine Befugnis, das Haus zu betreten und die Kinder mitzunehmen. Die erste Anhörung vor Gericht wurde vertagt, seitdem wartet Nathalie.
Corona-Krise dient als Vorwand
„Wir fordern seit Jahren schnellere Entscheidungen bei Prozessen, bei denen Kinder involviert sind“, sagt René Schlechter. Verwundert ist der Ombudsmann für Kinder und Jugendliche über Nathalies Geschichte nicht. Ihm sind ähnliche Fälle bekannt, bei denen Eltern die Corona-Krise instrumentalisieren, um ihre Kinder von dem anderen Elternteil fernzuhalten. Dies sei zwar unzulässig, aber: „Die Mittel der Justiz sind nicht sehr zielführend, wenn sich nicht an Abmachungen gehalten wird“, so die nüchterne Beurteilung des Ombudsmannes.
Wir haben jahrzehntelang für das geteilte Sorgerecht gekämpft, jetzt haben wir es und ich sehe, dass es nicht mehr wert ist, als ein paar Worte auf einem Blatt Papier.“Deidre du Bois, Rechtsanwältin
„Die Justiz müsste hier stärker durchgreifen“, meint die Rechtsanwältin Deidre du Bois. Wenn Urteile nicht respektiert würden, müsste die Staatsanwaltschaft ihrer Meinung nach der Polizei die Anweisung geben, die Kinder zum rechtlich vorgesehenen Elternteil zu bringen. Die Anwältin, die auf Familien- und Jugendrecht spezialisiert ist und für Déi Gréng im Staatsrat sitzt, ist sich durchaus bewusst, dass eine erzwungene Rückführung Kinder in den meisten Fällen in eine psychologisch schwierige Lage bringt. Dennoch dürften Verstöße gegen Urteile nicht ohne Folgen bleiben. „Die Staatsanwaltschaft müsste ein Exempel statuieren“, sagt Deidre du Bois. Schon alleine, um andere abzuschrecken. Schließlich gehe es hier auch um die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates.
Die Theorie des geteilten Sorgerechts
Die Staatsanwaltschaft positioniert sich hingegen klar gegen einen polizeilichen Eingriff. „Kinder können durch eine solche Aktion stark traumatisiert werden“, sagt David Lentz, beigeordneter Oberstaatsanwalt der Abteilung Jugendschutz und Familienangelegenheiten. „Wir halten uns hier an internationale Empfehlungen, die Situation für Kinder nicht noch schlimmer zu machen.“ An Kindern würde bei Streitereien zwischen Eltern ohnehin schon genug ausgelassen, dazu müsse nicht noch eine zusätzliche Belastung von Seiten der Staatsgewalt kommen. Auch Ombudsmann René Schlechter vertritt hier die Meinung der Staatsanwaltschaft: Es müsse andere Lösungen geben, als Kinder per Polizeigewalt aus einem Haushalt zu holen.
Die Reform des Scheidungs- und Sorgerechts von 2018, durch die das Prinzip des geteilten Sorgerechtes eingeführt wurde, sollte für mehr Gerechtigkeit sorgen, die Lage bei Sorgerechtsfragen erleichtern und im Konfliktfall entschärfen. Dass einem Elternteil das alleinige Sorgerecht zugesprochen wird, ist sehr selten und soll der Ausnahmefall bleiben.
Dem neuen Gesetz zufolge haben beide Elternteile, ob sie zusammenleben oder nicht, die gleichen Rechte und Pflichten den gemeinsamen Kindern gegenüber. Wichtige Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, der Wohnsitz des Kindes einvernehmlich festgelegt, das Besuchsrecht definiert. Bei Unstimmigkeiten kann sich ein Elternteil an einen Familienrichter wenden, der jegliche Entscheidungen, die das Kind betreffen, immer in dessen Interesse trifft. So weit die Theorie.
Hürden und Konflikte in der Praxis
„Wir haben jahrzehntelang für das geteilte Sorgerecht gekämpft, jetzt haben wir es und ich sehe, dass es nicht mehr wert ist, als ein paar Worte auf einem Blatt Papier“, sagt Anwältin Deidre du Bois. Die Praxis sei nicht an den Gesetzestext angepasst, der Paradigmenwechsel demnach nicht vollzogen. Das heißt konkret: Trotz geteiltem Sorgerecht haben die Kinder nur einen Wohnsitz, tauchen demnach nur auf einer Steuerkarte auf, haben nur eine Versicherungskarte, soziale Vergünstigungen wie etwa die Erziehungszulagen fließen immer nur auf das Konto eines Erziehungsberechtigten.
Wenn Kinder sich bei einem Loyalitätsstreit auf eine Seite schlagen, dann wird es kompliziert.“René Schlechter, Ombudsmann für Kinder und Jugendliche
„Der eine bezahlt die Arztrechnung, dem anderen wird das Geld erstattet, der eine kauft eine Winterjacke und die gesamte Schulausrüstung, der andere bekommt die Erziehungszulagen auf sein Konto überwiesen. Diese Schieflage führt zwangsläufig zu Auseinandersetzungen“, beschreibt Anwältin Deidre du Bois ihre Erfahrungen. Solange die Eltern Sorgerechtsfragen einvernehmlich klären können, müssen administrative Hürden in der Praxis nicht unbedingt ein Problem darstellen. Sobald es jedoch Streit gibt, bietet der rechtliche Rahmen viel Raum für Konflikte.
Kindesentführung und Regelverstöße
Theoretisch darf ein Elternteil große Veränderungen, wie zum Beispiel einen Umzug, nur mit Einverständnis des anderen Elternteils vollziehen. Die Anwältin Deidre du Bois ist jedoch ständig mit genau solchen Regelverstößen konfrontiert, die ein regelmäßiges Besuchsrecht des anderen Elternteils gefährden. Besonders kompliziert wird die Situation, wenn ein Elternteil mit den Kindern ins Ausland zieht. Hier spricht die Justiz nicht mehr von Vorenthaltung, sondern Entführung der Kinder. Mit etwa 20 solcher Fälle pro Jahr befasst sich die Staatsanwaltschaft. Es handelt sich hierbei entweder um Entführungen von Luxemburg ins Ausland oder vom Ausland nach Luxemburg.
Das Haager Abkommen über internationale Kindesentführung besagt, dass der gewöhnliche Aufenthaltsort eines Kindes unter 16 Jahren nicht ohne Absprache ins Ausland verlegt werden kann. Es muss grundsätzlich wieder in den Staat zurückgeführt werden, in dem es zuvor gelebt hat. Die Generalstaatsanwaltschaft kann die unverzügliche Rückkehr des Kindes demnach vor Gericht einklagen, zu einer schnellen Lösung kommt es dennoch nur in den seltensten Fällen. „Die wenigsten Länder halten sich an die internationale Konvention“, sagt Anwältin Deidre du Bois. „Es ist sehr schwer, Kinder gegen den Willen ihrer Mutter in ein Land zurückzubringen.“
Eine hoch konfliktgeladene Situation bekommt man gerichtlich nicht in den Griff.“Deidre du Bois, Rechtsanwältin
„Ich habe keine richtige Handhabe, um diese Probleme zu lösen“, gibt die Anwältin zu. Bei einem Streit über Landesgrenzen hinweg sowieso nicht, aber auch bei Auseinandersetzungen im Inland. Die rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, dauere nicht nur viel zu lange, sondern führe zudem nur selten zum Ziel. „Diese Erkenntnis stiftet viele Betroffene zu Regelverstößen an“, sagt die Anwältin. „Sie holen sich die Kinder einfach. Auch wenn sie sich dafür vor die Schule stellen müssen, um sie heimlich mitzunehmen.“
Hoch strittige Verfahren werden laut der Staatsanwaltschaft leider immer häufiger. Kinder werden verstärkt zum Spielball zwischen den Auseinandersetzungen der Eltern. Sobald Kinder leiden, kann ein Jugendrichter eingeschaltet werden und nicht selten wird den Kindern ein eigener Anwalt zur Seite gestellt. Sobald ein Verfahren auch den Jugendschutz betrifft, ist zudem die Staatsanwaltschaft bei den Verfahren anwesend. Kinder werden dabei mit Loyalitätskonflikten konfrontiert, die sie nur in den seltensten Fällen alleine lösen können. Extremes Verhalten ist häufig die Folge.
Psychischer Kindesmissbrauch
Die Kinder von Nathalie melden sich seit einigen Monaten überhaupt nicht mehr bei ihrer Mutter. Hin und wieder sieht sie ein Foto in den sozialen Netzwerken, wie sie Eis essen oder Fahrrad fahren. „Sie wollen mittlerweile wohl gar nicht mehr zu mir zurück.“, sagt die Lehrerin und schluckt. „Bei mir gab es kein Handy, ich war streng bei den Hausaufgaben“, erzählt sie. „Bei ihm ist alles erlaubt.“ Aus Kinderperspektive könne sie sogar nachvollziehen, dass sie lieber bei ihrem Vater wohnen möchten. „Er hat sie gekauft. Seit Monaten manipuliert er sie und stachelt sie gegen mich auf.“
Kinderpsychologen sprechen in diesem Fall von einer Eltern-Kind-Entfremdung, einer schweren Form von psychischem Kindesmissbrauch, in deren Folge Kinder zum Schutz vor ihrem betreuenden Elternteil den anderen ohne erkennbaren Grund ablehnen müssen. Sie unterdrücken ihre Gefühle, ihre natürliche Zuneigung gegenüber beiden Eltern wird brutal zerstört. Meist werden die Kinder vom betreuenden Elternteil aktiv beeinflusst, ohne dass dieser sich der Schädlichkeit seiner Handlungen bewusst ist.
Keine Aussicht auf Besserung
„Wenn Kinder sich bei einem Loyalitätsstreit auf eine Seite schlagen, dann wird es kompliziert“, sagt auch Ombudsmann René Schlechter. Es möge Kindern in konfliktreichen Familienbeziehungen vielleicht einfacher erscheinen, sich für das eine oder andere Elternteil zu entscheiden, doch das sei eine Täuschung. „Auf lange Sicht schadet das dem Kind“, sagt René Schlechter. Er appelliert an die Verantwortung der Eltern. Ohne sie könne auch kein Gericht der Welt eine Lösung finden. Auch Anwältin Deidre du Bois sagt: „Eine hoch konfliktgeladene Situation bekommt man gerichtlich nicht in den Griff.“
Nathalie hat aufgegeben. Sie möchte alle juristischen Bemühungen einstellen. Die Belastung ist zu groß geworden. Noch mehr Streit, noch mehr Unsicherheit möchte sie vor allem auch ihren Kindern nicht zumuten. Was bleibt, ist ihre Hoffnung, dass die Kinder eines Tages von sich aus wieder zu ihr zurückkommen werden. Und dass sie es vielleicht sein wird, die ihnen an ihrem nächsten Geburtstag die Kerzen anzündet.
* Name von der Redaktion geändert.