Nicht alle Islam-Konvertiten in Europa sind radikale Salafisten oder eifernde Missionare. Ein Besuch in einem Sufi-Zentrum in der Eifel zeigt einen Islam, in dem vor allem Toleranz und Harmonie großgeschrieben werden.
Beim ersten Gig gibt es im Publikum erstaunte Blicke. Wer schon einmal die „Osmanische Herberge“, eines von Deutschlands größten und populärsten Sufi-Zentren, besucht hat weiß, dass Lebensfreude hier oberstes Gesetz ist. Doch die Band auf der Bühne kreischt wild wie auf einem Hard-Rock-Konzert. Der Bassist hat seine Mütze tief ins Gesicht geschoben und wedelt mit den Haaren. „Bismillah-ir-Rahman-ir-Rahim“ dröhnt es aus dem Mikrofon, „im Namen Allahs, des Barmherzigen und Gnädigen“.
Das Publikum sitzt auf Stühlen oder im Schneidersitz vor der Bühne. Ein paar Dutzend Zuschauer wippen mit, noch etwas verhalten. Die Männer tragen einfache Wollgewänder und Turbane, die um einen Spitzhut gewickelt werden.
In diesem Moment betritt Sheikh Hassan die Halle. Der spirituelle Leiter – oder Sheikh – der Osmanischen Herberge hat einen Turban auf, der genauso weiß ist wie sein langer Rauschebart. Durch kreisrunde Brillengläser blickt er in die Runde. Plötzlich reckt der Sheikh die Hand in die Luft und schwingt sie über seinem Kopf wie ein Metal-Fan. Dann fordert er die Menge zum Tanzen auf. Bald springen die ersten auf und hüpfen auf den Teppichen. Über ihnen, an der Decke, Koranverse. Ein hölzerner Mihrab, die Gebetsnische, weist in der Ecke die Richtung nach Mekka. Bunt gepinselte Ornamente verzieren die Fenster.
Einmal im Jahr an einem Wochenende im Juli lädt die Osmanische Herberge zum „Sufi Soul Festival“ ein, einem Musikevent, bei dem sich Hardrocker und Liedermacher, pakistanische Folkloremusiker und arabische A-Capella-Sänger, zwei Tage lang die Bühne teilen. Sufis, Anhänger des mystischen Pfads im Islam, reisen dafür aus ganz Europa an.
Sufismus statt Salafismus
Die Besucher stammen nicht nur aus muslimischen Familien, wie es die Deutschtürken oder Nordafrikaner aus Frankreich und Spanien sind, sondern es sind auch europäische Konvertiten unter ihnen. Zum Islam gelangten sie nicht durch zwielichtige islamisch-missionarische Erweckungsbewegungen oder etwa den Salafismus, sondern über die Mystik. Auf der individuellen Suche nach Sinn im Leben fanden sie in der nach innen gewandten Frömmigkeit der Sufis eine spirituelle Heimat.
Sufismus ist das Herz des Islam. Sufismus ohne Islam geht nicht und Islam ohne Sufismus geht auch nicht.“Sheik Hassan
Auch ein paar Nachbarn aus dem Umkreis sind heute nach Kall-Sötenich gekommen. Das Zentrum der Nakschbandi-Sufis in Deutschland liegt in jenem Dorf in der Nordeifel, etwa eine Stunde Autofahrt von Köln entfernt. „In jedem Dorf auf der Welt sind die Menschen misstrauisch“, erklärt Sheikh Hassan auf einem Stuhl in der Gaststube der Herberge. Sheikh Hassan wirkt bescheiden und hat sich ein Glas Leitungswasser auf den Tisch gestellt. Immer wieder kommen Menschen an den Tisch, begrüßen ihren Sheikh. Der kennt hier jeden einzeln, erkundigt sich nach Familie und Wohlbefinden.

Sein Zentrum, so der Sheikh, stehe Menschen aller Glaubensrichtungen und auch Atheisten jederzeit offen. Und doch kämen nur wenige von außerhalb vorbei. Früher saßen an den altbackenen Holztischen der Gaststube Kegelspieler. Damals war die osmanische Herberge noch ein Landhotel. Heute gibt es orientalische Sitzkissen, arabische Kalligraphie und Schwarztee in Gläsern. Die Nakschbandiyya, der Sheikh Hassan angehört, ist ein im Mittelalter gegründeter Sufiorden. Dieser hat seinen Ursprung in Zentralasien. Spirituelles Oberhaupt des Nakschbandi-Hakkani-Zweigs, zu dem das Zentrum in der Eifel sich zählt, war lange Zeit der auf Zypern residierende Großsheikh Nazim. Er verstarb im Jahr 2014.
Islamische Mystik und Eifeler Flair
Sheikh Hassan, mit gebürtigem Name Peter Dyck, fand im Studium über seine Liebe zur indischen Sufi-Musik zum Islam. „Sufismus ist das Herz des Islam. Sufismus ohne Islam geht nicht und Islam ohne Sufismus geht auch nicht“, sagt er. Es brauche im Glauben Regeln genauso wie die Liebe und einen mystischen Kern. „Es ist wie bei einer Kokosnuss: Die süße Milch wird von einer harten Schale umgeben, durch die man zunächst vordringen muss.“
Die Osmanische Herberge wurde Mitte der neunziger Jahre im Auftrag des Großsheikhs eröffnet. Vorher lebte Sheikh Hassan ein Jahr in Mekka, betrieb darauf ein Zentrum in Düsseldorf. „Manchmal frage ich mich, warum es uns gerade in die Eifel verschlagen hat!“ Er zuckt mit den Achseln. Gottes Wege sind unergründlich.
Wir leben im Zeitalter der Ignoranz. Der Mensch wird nicht mehr ganzheitlich gesehen.“Sheik Hassan
Im Hof der Herberge sitzt ein buntes Publikum auf Bierzeltbänken: Deutsche, Türken, Araber, Pakistanis, Afghanen und Afrikaner. Am Rand werden Falafel und Döner verkauft. Der Erlös geht als Spende an das Zentrum. Plötzlich ertönt aus einer Ecke Musik. Afrikanische Trommeln und die rhythmischen Anschläge eines Harmoniums, begleitet von lautem Klatschen, verschmelzen zu einem musikalischen Fluss. Ein pakistanischer Sufi singt dazu Qawwali-Hymnen, jene ekstatischen Sufigesänge aus dem indo-pakistanischen Raum. Eine Hand voll Frauen tanzt ausgelassen und mit geschlossenen Augen durch das Zelt.
In der Nacht verwandelt sich die Halle der Osmanischen Herberge für ein paar Stunden in einen Schlafsaal. Überall werden Matratzen ausgerollt. Allgemeines Schnarchen erfüllt die Luft. Schon um halb vier Uhr in der Frühe gibt es ein kollektives Erwachen zum Morgengebet. Erst danach wird weitergeschlafen.
Anfeindung durch radikale Muslime
Die direkte Gotteserfahrung der Sufis war den Fanatikern schon immer zuwider. „Für keinen sind die Extremisten ein größerer Feind als für mich“, sagt Sheikh Hassan und wirft die Hände in die Luft. Das Thema lässt den sanften alten Herren fast ein wenig aufbrausend werden. „1300 Jahre hat der Islam geblüht und große Kultur hervorgebracht. Wo in der Geschichte gibt es eine vergleichbare historische Bewegung, die in kurzer Zeit derart erfolgreich war? Und dann kommen ein paar Menschen und erklären all das für ungültig“, meint er.
Damit spielt Sheikh Hassan auf die wahabbitisch gesinnten Muslime und ihre Brüder im Geiste, die Salafisten, an. Weltweit ist der Sufismus durch radikalere Ausprägungen des Islam in Bedrohung. Auch in Europa begegnen Sufis Anfeindungen durch streng orthodoxe Muslime.
Die Sufis jedoch seien, so Sheikh Hassan, für Europa die besten Partner, um Extremismus zu vorzubeugen und zu bekämpfen. Als Mystiker seien sie offen für den Dialog und sehen alle Religionen als wahrheitssuchende Pfade an, die es zu respektieren gilt. In einem Berliner Nakschbandi-Zentrum etwa gibt es seit Jahren interreligiöse Feste und Diskussionsrunden, ebenso in anderen Städten Europas, wo Sufis leben. Man bemüht sich, Brücken zu bauen und den friedensstiftenden Kern des Islam aus Sicht des Sufismus zu vermitteln.
Sheikh Hassan ist sich des komplizierten Image des Islam bewusst, das seit dem 11. September medial verbreitet wird. „Wir leben im Zeitalter der Ignoranz. Der Mensch wird nicht mehr ganzheitlich gesehen“, sagt Sheikh Hassan und schaut seinen Gegenüber eindringlich an. Die Osmanische Herberge möchte mit einer Kultur des Dialogs dieser Ignoranz entgegenwirken.