In Indien gewährt ein neues Gesetz Angehörigen verfolgter Minderheiten aus Nachbarstaaten die indische Staatsbürgerschaft. Muslime sind ausgeschlossen. Dagegen entstand eine landesweite Protestbewegung. Ein Interview mit der muslimischen Schriftstellerin Sadia Dehlvi.

Interview: Marian Brehmer

Sadia Dehlvi, die aktuellen Proteste wurden international aufmerksam verfolgt. Wie haben Sie die Atmosphäre in Ihrem Umfeld in den letzten Wochen erlebt?

Ich stamme aus einem liberalen und säkular eingestellten muslimischen Umfeld. Meine Freunde und ich unterstützen die Proteste. Obgleich unsere Familien hier seit vielen Generationen etabliert sind, fühlen wir uns im heutigen Indien langsam an den Rand gedrängt und dazu genötigt, Bürger zweiter Klasse zu werden.

Wieso demonstrieren jetzt so viele Menschen gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz?

Dieses diskriminierende Gesetz ist dazu gemacht, weite Teile der muslimischen Bevölkerung zu entrechten. Es wird vielen von ihnen erschweren, ihre Staatsangehörigkeit unter Beweis zu stellen. Dabei müssen Sie wissen, dass weite Teile der indischen Bevölkerung ohne Papiere lebt. Wie sollen diese Menschen nun ihre Staatsangehörigkeit beweisen? Wo sollen sie hin und was sollen sie tun, wenn die Regierung sich dazu entscheiden sollte, sie ins Visier zu nehmen? Das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Die Menschen sind wütend, denn die Regierung geht die wirklichen Probleme der indischen Bevölkerung nicht an, nämlich die schwache Wirtschaft und die Arbeitslosigkeit. Um davon abzulenken, bedienen sich die Herrschenden einer spaltenden Politik. Doch die Bevölkerung will sich nicht auf Grundlage von Religion spalten lassen.

Was hat Sie bei diesen Protesten überrascht?

Noch nie zuvor habe ich so große und spontane Proteste erlebt. Sie finden in vielen Städten überall im Land statt. Die Menschen sind wie aufgeschreckt, denn sie haben erkannt, dass dies zu weit geht. Obwohl Delhi zurzeit von einem besonders kalten Winter heimgesucht wird, gehen Demonstranten der Kälte zum Trotz zu Tausenden auf die Straße. Zudem sind viele Frauen an der Spitze der Proteste gewesen, selbst auf dem Campus der Jamia Millia Universität (einer traditionellen islamischen Hochschule, Anm. d. Red.), wo die Polizeigewalt eskaliert ist. Zum ersten Mal seit Narendra Modi an die Macht gekommen ist, haben die Muslime gesagt: „Genug ist genug“. Das Wunderbare daran ist, dass sich Menschen aller Religionen den Muslimen angeschlossen haben. Die Proteste sind mehr als nur eine rein muslimische Angelegenheit, weil die Leute begriffen haben, dass uns dieses Gesetz in eine faschistische Richtung führt.

Anhänger der oppositionellen Kongresspartei demonstrieren Ende Dezember 2019 gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz in Guwahati, Assam. (Foto: David Talukdar / Shutterstock.com)

Wie geht die Regierung mit diesem anhaltenden Widerstand um?

Man kann sagen, dass sie überrascht wurde. Solch eine Stärke und Resilienz hatte man von den Studenten nicht erwartet. Diese Regierung schien mit allem davon zu kommen: Die Demonetisierung, die Lynchmorde an Muslimen durch Extremisten, die Abriegelung von Kaschmir. Die Menschen waren schlichtweg still. Es gab zwar auch zuvor Proteste, aber nichts, verglichen mit dem was wir jetzt sehen. Vielleicht dachten die Politiker der Regierungspartei BJP, dass man ihnen auch dies durchgehen lassen würde. Doch inzwischen verstehen selbst Durchschnittsbürger, dass solch eine Ausgrenzung von Muslimen ein ganz und gar entzweiender Impuls ist. Es ist, als ob sich nun das wahre Gesicht der BJP-Regierung offenbart. Daher macht das Volk von seinem legitimen Demonstrationsrecht Gebrauch. Ihm dies nicht zu gestatten, ist undemokratisch.

Inwiefern ist das neue Gesetz Teil eines größeren Vorhabens?

Das ist offensichtlich. Der Plan für dieses Gesetz war bereits im Parteiprogramm der BJP verankert. Das große Mandat, welches Modi bei den letzten Wahlen erhielt, gab ihm und seiner Partei die Chance, all das was sie wirklich tun wollten, umzusetzen. Ihre Ideologie wurzelt in der RSS, einer hindu-nationalistischen Kaderorganisation, die, wie wir wissen, von Hitlers Ideologie inspiriert wurde. Diese BJP-nahen Gruppen waren von Anfang an antimuslimisch. Man hätte meinen sollen, dass so eine Partei, nun da sie an der Macht ist, verantwortlich handeln muss. Doch sie sind zu weit gegangen.

Sadia Dehlvi ist Buchautorin mit Schwerpunkt auf indisch-muslimischer Kultur sowie Kolumnistin in indischen Tageszeitungen wie den Hindustan Times und Times of India.

Haben Sie Angst vor zunehmender Gewalt gegenüber Muslimen?

Delhi ist eine kosmopolitische Stadt und hat als Hauptstadt Indiens eine sehr gemischte Bevölkerung. Die meisten Menschen möchten in Frieden leben. Die Unterdrückung der Proteste war jedoch am schlimmsten in den Bundesstaaten, die von der BJP regiert werden. Besonders Uttar Pradesh ist Hauptleidtragender der Polizeigewalt. Selbst kleine Jungen wurden erschossen oder festgenommen. In manchen muslimischen Städten und sozial schwachen Gegenden ist die Polizei in Häuser eingebrochen und hat Moscheen zerstört. Die Menschen haben große Angst. Trotzdem überwinden sie ihre Angst, denn sie wollen gehört werden.

Welche Rolle spielen Intellektuelle bei den aktuellen Protesten?

Viele erheben ihre Stimme, nicht nur die Muslime. Ich glaube, dass die säkularen Stimmen wirklich wichtig sind. Diese Stimmen treten für die Muslime und Unterdrückten ein. Unter den Intellektuellen haben sich selbst manche BJP-Unterstützter kritisch zum Gesetz geäußert. Es ist enorm wichtig, sich friedlich zu äußern und zu schreiben. Wir haben das Recht zu protestieren. Jedes kleine bisschen zählt. Tausende säkulare Stimmen haben sich zu den Muslimen in ihrem Protest gesellt. Das ist ein sehr gutes Zeichen.

Wie können Muslime mit den Bedrohungen und Vorurteilen umgehen, denen sie ausgesetzt sind?

Muslime sollten an den Demonstrationen teilnehmen und sich Gehör verschaffen. Wir müssen jedoch alle mitnehmen. Es geht hierbei nicht allein um die Muslime, sondern darum, das Gewebe des Landes und seine säkularen Werte am Leben zu erhalten. Mehr und mehr Menschen begreifen, dass die Handlungen dieser Regierung sich gegen die Kernwerte unserer Verfassung richten, insbesondere gegen Artikel 14, der besagt, dass niemand auf Grundlage von Religion diskriminiert werden darf.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die Proteste geben mir Hoffnung. Wir können nur das Beste hoffen, sodass etwas Gutes dabei rauskommt. Wir sind eine zahlenmäßig große Minderheit von etwa 20 Prozent. Man kann uns also nicht so leicht loswerden. Wir sind über das Land verteilt, sehr gut integriert und stolze Bürger Indiens. Wir sollten nur hoffen, dass die säkularen Kräfte gewinnen. Dies sind in der Tat harte Zeiten. Doch die Seele Indiens ist inklusiv, pluralistisch, großzügig, gastfreundlich und demokratisch. Durch die Geschichte hindurch gab es immer wieder Wellen von Menschen, die Indien zu ihrem Zuhause gemacht haben. Sie alle haben ein äußerst reiches Kulturerbe geschaffen. Wir müssen es bewahren. Es gibt Platz für uns alle.