Nur wenige Fälle von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen werden überhaupt angezeigt. Scham und Abhängigkeit bringen viele zum Schweigen. Betroffene fordern dennoch stärkeren Schutz. Doch die Ermittlungen sind langwierig und belastend, besonders, wenn sich Täter und Opfer kennen.

Es vergeht keine Woche, in der die Staatsanwaltschaft nicht eine neue Akte wegen Vergewaltigung einer minderjährigen Person anlegt. Überwiegend handelt es sich um Kinder, die in ihrer eigenen Familie missbraucht wurden. In den meisten Fällen nicht nur einmal, sondern immer wieder. Nicht selten hat der Täter Komplizen, Familienmitglieder, die sich der Mitwissenschaft schuldig gemacht haben. Normalerweise wird das Kind dann direkt aus dem Haushalt genommen und in einer Betreuungsstruktur untergebracht.

„Die Mär vom unbekannten Mann, der das Kind auf dem Weg zur Schule in sein dunkles Auto zieht, hält sich zwar hartnäckig, ist aber bei Missbrauchsfällen die Ausnahme“, bestätigt Simone Flammang. Die Juristin ist zuständig für den Jugendschutz bei der Generalstaatsanwaltschaft und spricht von einer „überwältigenden Mehrheit“ an Missbrauchsfällen im nahen Umfeld. „Überwiegend in der Familie“, berichtet Simone Flammang, „aber auch im Sport, in der Schule, der Kirche, dem Musikverein.“

Steigende Zahlen und hohe Dunkelziffer

Julia* ist 14 Jahre alt. Sie wurde im Frühjahr vom Bekannten einer Freundin vergewaltigt. „Mama, ich habe eine Dummheit gemacht.“ Mit diesem Satz hat sie sich wenige Tage nach der Tat ihrer Mutter anvertraut. Sie habe die Schule geschwänzt, sei mit einer Freundin zu Bekannten gefahren und dort sei „es“ dann passiert. Ihre Freundin habe sie einfach mit dem Mann alleingelassen. Einen Satz wie „Ich bin vergewaltigt worden“ hat Julia bis heute nicht über die Lippen gebracht.

„Es war, als sei ich in ein anderes Zimmer katapultiert worden“, erinnert sich Julias Mutter. „Ich habe natürlich sofort die Polizei angerufen.“ Diese kam dann auch zu ihnen nach Hause und hat Julia und ihre Mutter nach einem ersten Gespräch zur Kriminalpolizei nach Hamm gefahren, um Julia zu vernehmen.

Die Polizei hatte im Jahr 2019 mit 304 neuen Fällen von sexuellem Missbrauch und schweren Verbrechen gegen Minderjährige zu tun. Das entspricht einer Steigerung von 36 Prozent gegenüber dem Vorjahr (223 Fälle). Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer an Fällen, die manchmal erst Jahre später, manchmal auch nie bekannt werden. Scham und Vertrautheit zum Täter halten viele Betroffene davon ab, über das Erlebte zu sprechen.

Medizinische Untersuchung zur Beweissicherung

Die Vernehmung von Minderjährigen führt die Kriminalpolizei in Form von Videovernehmungen durch. Die Aufnahme von Bild und Ton hat für das Kind oder den Jugendlichen den Vorteil, dass es seine Aussagen in einer späteren Gerichtssitzung nicht erneut wiederholen muss. Die Ermittler haben spezielle Ausbildungen, werden darin geschult, wie meist traumatisierte Minderjährige vernommen werden sollen. Psychologen zufolge lässt sich bei einer Vernehmung von einem Kind etwa ein Drittel des Erlebten über die Sprache, zwei Drittel jedoch über die Körpersprache erfahren.

Bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen gilt das Prinzip Null Toleranz. Zu jeder Akte wird immer eine polizeiliche Untersuchung eingeleitet.“David Lentz, beigeordneter Oberstaatsanwalt

Auch Julia wurde vernommen, das Gespräch gefilmt und aufgezeichnet. Da die Vergewaltigung bei ihr erst wenige Tage zurücklag, wurde sie danach direkt ins Krankenhaus zu einer medizinischen Untersuchung gebracht. Zum einen, um eventuelle Verletzungen erkennen und versorgen zu können, zum anderen, um Beweise sicherzustellen.

Die DNA des Täters, die durch Abstriche unter den Fingernägeln, in den Haaren oder im Intimbereich, aber auch an bei der Tat getragener Kleidung festgestellt werden kann, stärkt die Aussage des Opfers vor Gericht erheblich. Leider sei der DNA-Beweis jedoch nur in den seltensten Fällen vorhanden, was die Ermittlungen in Missbrauchsfällen oft langwierig und schwierig mache, sagt Simone Flammang von der Staatsanwaltschaft.

Nur wenige erstatten Anzeige

Elsa do Carmo leitet die Frauen- und Kinderabteilung des Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL) und ist verantwortlich für die medizinischen Untersuchungen nach einer Vergewaltigung. Mit mehreren Fällen wöchentlich hat sie zu tun. Für die Untersuchung der unter 16-Jährigen arbeitet die Gynäkologie mit Kinderärzten zusammen, bei Kindern unter vierzehn Jahren wird auf eine gynäkologische Untersuchung meist ganz verzichtet, das Erlebnis sei zu traumatisch für die Betroffenen. Auch Elsa do Carmo bestätigt, dass Vergewaltigungen meistens in der Familie stattfinden. „Die allermeisten Frauen, die zu uns kommen, wurden in der Ehe vergewaltigt,“ sagt sie.

Zweithäufigster Tatort ist das Prostitutionsmilieu. Auch hier würden die Opfer ihre Täter meist kennen. Die Vergewaltigung durch einen Unbekannten steht an dritter Stelle. „Das sind meistens Frauen, die zu uns kommen, weil sie irgendwo aufgewacht sind und sich an nichts oder kaum etwas erinnern können“, erläutert Elsa do Carmo. Doch im Gegensatz zu K.O.-Tropfen, die nach wenigen Stunden im Körper nicht mehr nachweisbar sind, lassen sich DNA-Spuren des Täters auch noch Tage später sicherstellen. Anzeige erstatten trotzdem die wenigsten der Frauen.

Stellen wir Missbrauch an einem Kind oder Jugendlichen fest, rufen wir sofort die Polizei, die ihrerseits direkt die Staatsanwaltschaft informiert.“Elsa do Carmo, „Pôle Femme, mère, enfant“ des CHL

Für die medizinische Untersuchung arbeitet das CHL, wie auch die anderen großen Krankenhäuser des Landes, mit „umedo“, einer spezialisierten Untersuchungsstelle des nationalen Gesundheitslabors (LNS) zusammen. Die Gerichtsmediziner, die für „umedo“ arbeiten, kommen für die Untersuchungen in die Krankenhäuser, können aber auch vor Ort, in Düdelingen, aufgesucht werden.

In der Regel richtet sich „umedo“ an erwachsene Personen, die Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind, jedoch zunächst keine polizeiliche Anzeige erstatten wollen. Die Untersuchungsergebnisse werden archiviert und können im Bedarfsfall auf Wunsch der untersuchten Person auch Jahre nach der Tat herangezogen werden.

Zufallsentdeckungen in der Kinderklinik

„Handelt es sich um einen unbekannten Täter, empfehlen wir zudem eine prophylaktische Behandlung gegen HIV“, sagt Elsa do Carmo. Meist über Monate müssen die Patienten ein starkes Medikament zu sich nehmen, Nebenwirkungen sind häufig. „Julia zitterte über Wochen so sehr, dass sie nicht einmal ihren Bleistift halten konnte“, erinnert sich die Mutter. „Sie ist zu Hause geblieben und hat sich in ihr Zimmer verkrochen.“

Dann erzählt Elsa do Carmo noch von Zufallsentdeckungen. Von wirren Erklärungen der Eltern in der Kinderklinik, von Blutungen in der Windel, von Gonokokken-Infektionen (Tripper) bei Kleinkindern. „Stellen wir Missbrauch an einem Kind oder Jugendlichen fest, rufen wir sofort die Polizei, die ihrerseits direkt die Staatsanwaltschaft informiert“, erläutert Elsa do Carmo den offiziellen Weg. Gerade kleine Kinder seien den Tätern meist völlig schutzlos ausgeliefert, sie an einen sicheren Platz zu bringen, habe oberste Priorität.

„Bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen gilt das Prinzip Null Toleranz“, sagt David Lentz, beigeordneter Oberstaatsanwalt für Jugendschutz und Familienangelegenheiten. „Zu jeder Akte wird immer eine polizeiliche Untersuchung eingeleitet, die vom Untersuchungsrichter geleitet wird.“ Dieser ist zuständig für die Anordnung eventueller Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen, er ordnet psychologische und psychiatrische Gutachten an und bestimmt über die Untersuchungshaft.

Das lange Warten auf den Prozess

Artikel 375 bis 377 des Strafgesetzbuches sehen für eine Vergewaltigung fünf bis zehn Jahre Freiheitsstrafe vor, für die Vergewaltigung von Minderjährigen zehn bis fünfzehn Jahre. Sex mit einem Jugendlichen von weniger als 16 Jahren wird automatisch als Vergewaltigung angesehen, ob mit oder ohne Einverständnis des Jugendlichen. Der Richter kann das Strafmaß verdoppeln, wenn die Tat etwa durch ein Elternteil oder eine andere Autoritätsperson verübt wurde.

Im luxemburgischen Gesetz verankerte und international verlangte Täterrechte auf einen fairen Prozess bringen komplexe Prozeduren mit sich.“David Lentz, beigeordneter Oberstaatsanwalt

„Ich kenne keine Details des Dossiers“, sagt die Mutter von Julia. „Die Vergewaltigung ist jetzt über ein halbes Jahr her und passiert ist nichts.“ Mindestens ein Jahr müsse man für die Ermittlungen schon einplanen, heißt es von Seiten der Staatsanwaltschaft. Das hänge größtenteils von der Dauer ab, die Gutachter benötigten, um ihre Berichte zu fertigen. „Im luxemburgischen Gesetz verankerte und international verlangte Täterrechte auf einen fairen Prozess bringen komplexe Prozeduren mit sich“, erklärt Oberstaatsanwalt David Lentz.

Betroffene und Kinderanwälte beklagen häufig, dass in der Zeit von der Anzeige bis zum Prozess nicht genug nach den Opfern geschaut werde. „Wir fühlen uns völlig alleine gelassen“, sagt etwa Julias Mutter. „Es gibt nicht viel Hilfe. Wüssten wir wenigstens, wann der Prozess ist, dann könnten wir uns darauf vorbereiten.“

Lücken in der Prozedur

David Lentz möchte den Vorwurf so nicht gelten lassen. Er verweist auf Anlaufstellen für Gewaltopfer, wie etwa die psychosoziale Abteilung für Opferhilfe (Service d’aide aux victimes) des Sozialdienstes, der der Generalstaatsanwaltschaft angegliedert ist (SCAS). Ausgebildete Psychologen betreuen die Opfer und stehen ihnen vor und während der Verhandlung bei.

Am schlimmsten für unsere Kunden und Kundinnen ist die Vorstellung, dem Täter unerwartet über den Weg zu laufen.“Koordinatorin der Opferhilfe

„Wir behandeln vor allem posttraumatische Belastungsstörungen“, sagt Brigitte Vaessen, die Koordinatorin der Anlaufstelle. 412 Menschen, die im Jahr 2019 Opfer von Gewalt wurden, haben die sechs Psychologen des Dienstes im Jahr 2019 betreut. „Am schlimmsten für unsere Kunden und Kundinnen ist die Vorstellung, dem Täter unerwartet über den Weg zu laufen“, sagt die Psychologin.

„Wir hatten erfahren, dass er in Untersuchungshaft gesperrt wurde, das hat Julia schon erst einmal beruhigt“, erinnert sich Julias Mutter. Doch eines Tages, Julia sei völlig aufgelöst gewesen, nachdem sie ein Foto von ihm mit Siegerfaust und Freiheitsspruch auf den sozialen Netzwerken gesehen habe. „Er war wieder draußen. Und keiner hat uns etwas gesagt.“

Provisorische Freilassung

Die Informationen über Freilassungen werden bis heute nicht automatisch an die Opfer weitergeleitet. David Lentz ist sich der offensichtlichen Schwachstelle durchaus bewusst: „Bisher läuft das manuell, da gehen schon immer wieder Informationen verloren“, gibt er zu. „Wir arbeiten daran, das System zu digitalisieren. In Zukunft soll bei der Dienststelle für Opferschutz ein Lämpchen angehen, sobald ein potentieller oder ein verurteilter Täter wieder auf freiem Fuß ist, so dass die Opfer gewarnt werden können. Wann das System einsatzbereit sein wird, konnte David Lentz jedoch nicht sagen.

Die Verteidigung stellt in den meisten Fällen einen Antrag auf eine provisorische Freilassung aus der Untersuchungshaft. Die Ratskammer muss dann analysieren, ob genügend Indizien gegen einen Verdächtigen sprechen. Ist das der Fall, muss entweder noch Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr oder Wiederholungsgefahr bestehen, um dem Antrag nicht stattzugeben und die Untersuchungshaft weiterhin zu rechtfertigen. Ist das nicht der Fall, kommt der mutmaßliche Täter bis zum Prozess wieder auf freien Fuß.

Julia hat mittlerweile die Schule gewechselt, sie spricht nicht über das Erlebte, auch nicht mehr mit ihrer Mutter. „Ich weiß nicht, wann dieser Mann endlich verurteilt wird und für wie lange“, sagt Julias Mutter erschöpft, „meine Tochter aber, sie hat durch ihn bereits lebenslänglich bekommen.“

* Name von der Redaktion geändert.