„Die Uhren sind aus kinderrechtlicher Perspektive zurückgedreht worden“, sagte Charel Schmit bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts des Okaju (Ombudsman für Kinder und Jugendliche). Während der Pandemie und der „kollektiven Erfahrung von Fremdbestimmung“ hätten sich ohnehin existierende Ungleichheiten verstärkt. Besonders in den Bereichen der Inklusion, der Partizipation und der Integration habe es durch die einschränkenden Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung deutliche Rückschritte gegeben, so der Ombudsman.

Charel Schmit unterstrich, dass er Covid-19 weder relativieren noch banalisieren wolle. Doch habe die Pandemie strukturelle Defizite weiter sichtbar gemacht, es gelte, jetzt Verantwortung zu übernehmen. So fordert der Kinderrechtler zum Beispiel einen freien und direkten Zugang zu psychotherapeutischer Beratung und psychiatrischer Versorgung. „Wir brauchen schnelle Entscheidungen. Studien und Umfragen weisen darauf hin, dass wir in nächster Zeit gerade im Bereich der mentalen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen viel auffangen müssen“, so Charel Schmit.

Partizipation und Mitbestimmung

Seine Mitarbeiterin Ines Kurschat sprach in ihrem Beitrag über verschiedene Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen und machte deutlich, inwiefern die Pandemie diese beeinflusste. Aufgrund der steigenden Infektionswerte ließ die Regierung im März 2020 alle Schulen, Tagesstätten und Bildungseinrichtungen schließen. Die Kritik des Okaju betrifft aber nicht die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, sondern die Art der Kommunikation.

„Besonders während des Lockdowns hat sich die Krisenkommunikation an Erwachsene gerichtet“, so Ines Kurschat. Sie verwies auf Artikel 12 der  UN-Kinderrechtskonvention, der Kindern ausdrücklich das Recht zusichert, bei Angelegenheiten, die sie betreffen, nach ihrer Meinung gefragt und gehört zu werden. Der Okaju fordert, dass die Partizipation von Kindern- und Jugendlichen sowohl lokal als auch national institutionalisiert wird und dass eine kindergerechte Kommunikation entwickelt werden soll.

Physische und mentale Gesundheit

Der Tätigkeitsbericht gibt Aufschluss darüber, welche Auswirkungen das Virus bis jetzt auf die Gesundheit der Kinder- und Jugendlichen hatte. So haben sich über 14.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren mit dem Virus infiziert (Stand 19. September 2021), mehr als die Hälfte von ihnen innerhalb der Familie. Rund 100 Kinder mussten im Krankenhaus behandelt werden, etwa zehn von ihnen auf der Intensivstation.

Ines Kurschat unterstrich, dass angesichts der Verfügbarkeit der Impfung für Kinder ab zwölf Jahren jedes Kind ein Recht auf eine auf wissenschaftlichen Fakten basierte Aufklärung habe, doch dürfe weder für noch gegen die Impfung Druck auf die Jüngeren ausgeübt werden.

Als „großes Sorgenkind“ bezeichnete Ines Kurschat die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Besonders in sozial schwächeren Milieus habe die Lebenszufriedenheit mit dem Fortschreiten der Pandemie abgenommen. Kinderpsychiaterinnen und -psychiater beschreiben eine deutliche Zunahme an Angstzuständen, Depressionen, Ess- und Zwangsstörungen.

Schule und Erziehung

Auch in der Schule und beim Lernen waren es vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Haushalten oder mit spezifischen Bedürfnissen, die unter den Folgen der Pandemie litten. Durch Distanzunterricht und große Mengen an Hausaufgaben verstärkten sich ungleiche Bildungschancen. Auch die zur Inklusion beitragenden schulischen Mischformen, die es Kindern mit spezifischen Bedürfnissen ermöglichen sollen, nicht nur Kompetenzzentren, sondern auch Regelschulen besuchen zu können, wurden über mehrere Monate aufgehoben, wie aus dem Bericht hervorgeht.

Kinder in psychosozialen Belastungssituationen, die zum Beispiel häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, konnten trotz Verstärkung der Hilfstelefone während der Pandemie weniger geschützt werden. Der Tätigkeitsbericht weist darauf hin, dass nicht nur die Meldungen nach dem Lockdown um 20 Prozent gestiegen sind, sondern sich auch die Darstellungen von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Internet vervierfacht haben. „Wir brauchen einen freien Zugang zu Hilfsstrukturen und eine bessere Vernetzung der Hilfstelefone“, fordert Ines Kurschat.

Auch das Besuchsrecht, sei es in Heimen, im Krankenhaus, in der Psychiatrie oder in betreutem Wohnen wurde angesichts der Pandemiebekämpfung erheblich eingeschränkt. Zudem berichtete Ines Kurschat auch von Fällen von getrennten oder geschiedenen Eltern, die Covid-19 als Vorwand benutzten, um dem anderen Elternteil das Kind vorzuenthalten. Sie erinnert hier an die UN-Kinderrechtskonvention, die jedem Kind das Recht einräumt, mit beiden Elternteilen in Kontakt zu sein, solange es dem Wohl des Kindes nicht schadet. (JS)