Europäische Solidarität gibt es in der Flüchtlingsfrage schon lange nicht mehr. Daran änderte auch der jüngste informelle EU-Gipfel zur Migrationspolitik nichts. Die Rhetorik wird zunehmend absurder und die Strategien werden zynischer. Ein Kommentar.
Der EU-Kommissar Dimitri Avramopoulos lud vor dem jüngsten informellen Migrationsgipfel zur Pressekonferenz, um die großen Linien der Kommission in der Flüchtlingsfrage zu präsentieren. Während die „neue“ Haltung bei den Staatschefs gestern einen breiten Konsens fand, verrät der Diskurs des zuständigen EU-Kommissars besonders viel über den ambivalenten Diskurs der EU. Bei aller rhetorischen Akrobatik lässt sich die traurige Realität nicht mehr verneinen: An ihren Werten hält die EU schon lange nicht mehr fest.
So spricht Avramopoulus von Solidarität und von europäischen Werten. Er sieht sich und seine Mitstreiter als Hüter der europäischen Verträge, als Verfechter Schengens, als Kämpfer für die Zukunft der nächsten Generationen.
Das scheint nobel, ja, beinahe ritterlich. Nähme er nicht gleichzeitig die Worte „Grenzpolizei“, „Asylzentren“ und „forcierte Rückkehr“ in den Mund. „Wer hätte gedacht, dass nicht die Finanzkrise, sondern die Flüchtlingskrise die größte Zitterpartie Europas wird?“, fragte Avramopoulos vor versammelter Presse. Mit dem Zusatz: Ja, das alles sei ein gefundenes Fressen für Populisten. Und ja, die EU dürfe nicht zulassen, dass diese das europäische Projekt kaputt machen.
Mittelmeerländer wurden alleine gelassen
Doch was die Europäische Kommission nun plant – und was beim informellen Gipfel durchaus Zuspruch fand – hat nicht mehr viel mit den europäischen Werten zu tun, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gründung des großen Projektes Europa geführt haben. Toleranz, Pluralismus, Solidarität? Fehlanzeige. Was bleibt von diesen Werten, wenn die EU verstärkt mit Bürgerkriegsländern kooperieren will? Oder davon die Rede ist, dass Migranten keinen Freifahrtsschein nach Europa bekommen dürfen?
Unter dem Druck rückt Europa nicht zusammen, sondern mehr und mehr von seinen Werten ab.“
Klar ist, dass der Ist-Zustand nicht mehr tragbar ist. Lösungen müssen her. Das Management der Flüchtlingskrise ist gescheitert – nicht zuletzt, weil Europa bis zuletzt die Augen vor den Problemen verschlossen hat. Nicht erst 2015 sind Migranten vor unseren Küsten ertrunken und nicht erst 2015 begannen die Küstenstädte dicht zu machen. Dabei darf man nicht vergessen, dass viele Mitgliedstaaten mit ihren außenpolitischen Entscheidungen maßgeblich für die Ursachen der „Krise“ mitverantwortlich waren, und dies weiter sind.
Die Solidarität, von der Avramopoulos spricht, gibt es schon lange nicht mehr. Italien, Griechenland, Spanien, Malta wurden lange mit der Bürde alleine gelassen. Und die Konzepte der Umsiedlung („resettlement“) scheitern nicht zuletzt daran, dass die Mitgliedstaaten ihren Soll bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht erfüllen. Dass der französische Präsident Macron einem ausgewählten Flüchtling medienwirksam die französische Staatsbürgerschaft erteilt oder Spanien, die Meister des Grenzschutzes, ein ausgewähltes Boot in seinen Hafen lässt, macht die Lage nicht besser.
Kurzfristige Lösungen, langfristige Probleme
Unter dem Druck rückt Europa nicht zusammen, sondern mehr und mehr von seinen Werten ab. „Wir brauchen präventive Solidaritätsmechanismen“ betonte der EU-Kommissar vor der Presse. Ein kleiner Satz, der vieles aussagt. Prävention heißt nun das Zauberwort. Doch braucht es auch handfeste Maßnahmen. Denn Migration kommt nicht aus dem Nichts. Solange die „Push-Faktoren“, also die Fluchtursachen bleiben, werden die Menschen bei uns eine bessere Zukunft suchen. Je undurchlässiger die Grenzen werden, desto gefährlicher die Wege, die Migranten auf sich nehmen.
Solange Kriege outgesourced werden, unsere Handelspolitik zu Lasten von Entwicklungsländern geht und man Konfliktursachen nur zaghaft bekämpft, werden die Menschen immer wieder die Reise nach Europa wagen.“
Doch die Gelder, die die EU mobilisiert, fließen weiter in kurzfristige Lösungen. Das generelle Ziel wird aus dem Vorschlag für den mehrjährigen Finanzrahmen mehr als ersichtlich. Es geht darum, die Migranten fernzuhalten. Die vorgeschlagene Flexibilität, Vermischung von Instrumenten und nicht zuletzt die Verdreifachung des Budgets für Migration deuten alle in die gleiche Richtung.
Die Partnerländer sind dabei nur insofern wichtig, als die Menschen nicht auf die Idee kommen sollen, zu uns zu kommen. Entwicklungshilfe wird dabei immer mehr ein Mittel zum Zweck. Avramopoulus sagt, dass man nordafrikanischen Ländern helfen muss, die berühmt-berüchtigten „Migrationsursachen“ zu bekämpfen. Im Klartext: Geld gibt es nur, wenn die Migranten fernbleiben.
Das Problem, das die EU dabei nicht angeht: Solange Kriege outgesourced werden, unsere Handelspolitik zu Lasten von Entwicklungsländern geht und man Konfliktursachen nur zaghaft bekämpft, werden die Menschen immer wieder die Reise nach Europa wagen. Es ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Doch es sind immer Menschenleben, die auf dem Spiel stehen.
Europas zynische Partnerschaften
Dabei ist die Kommission sich wohl für nichts mehr zu schade, um zu erreichen, dass es keine „Freifahrt nach Europa“ mehr gibt. Mit Ländern wie Algerien, Marokko, Niger, aber auch mit Libyen will die EU zusammenarbeiten, um die Menschen von den Booten zu holen und nicht erst vor den italienischen, spanischen, maltesischen oder griechischen Küsten abzufangen.
„Bis jetzt wirkt es“ beschreibt der Kommissar den Erfolg des Umsiedlungsdeals mit Niger. Er vergisst aber oder blendet bewusst aus, dass genau dieser Deal vor dem Abgrund stand. Die EU ließ Niger, eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, nämlich mit den Lasten allein.
Solidarität gibt es in der Flüchtlingsfrage schon lange nicht mehr. So macht sich Europa früher oder später zum Komplizen von den Populisten, die man eigentlich bekämpfen will.“
Dabei ist der EU-Kommissar an Zynismus nicht mehr zu überbieten. „Wir alle erinnern uns daran, was wir auf CNN gesehen haben“, weist er auf die Misshandlungen und regelrechten Sklavenauktionen in libyschen Auffanglagern hin. Nicht nur verschweigt er so, dass die Missstände fortbestehen und „illegale“ Migranten weiterhin in dem Bürgerkriegsland unbegrenzt festgehalten werden. Nein, im selben Atemzug betont er, dass man für die angedachten Auffanglager außerhalb der EU unter anderem mit genau diesem Land zusammenarbeiten wolle. Ein Teil des großen „Masterplans“ der EU, um Migrationsrouten zu schließen, ist also die Kooperation mit einem Hort von Menschenrechtsverletzungen.
Dies ist nur ein Beispiel für die aktuelle Absurdität der europäischen Migrationspolitik. Solidarität gibt es in der Flüchtlingsfrage schon lange nicht mehr. So macht sich Europa früher oder später zum Komplizen von den Populisten, die man eigentlich bekämpfen will. Spätestens ab dem Augenblick, bei dem man sich die Menschenrechtsverletzungen, Misshandlungen und das Elend der Migranten bildhaft vorstellt und nicht mehr in abstrakten Zahlen denkt, sind die angedachten Strategien nicht mehr haltbar. Und Europas tatsächliche „Krise“ weiter gegenwärtig.