Afghanistan ist seit Jahrzehnten von Krieg und Chaos geplagt. Siebzehn Jahre nach dem Sturz der Taliban bildet sich unter Afghanen erst allmählich ein Bewusstsein für Rechte. Im Norden des Landes helfen dabei traditionelle Methoden der Rechtsprechung.

Bürgerrechte sind nicht etwas, an das viele Afghanen normalerweise denken. In einem Land, in dem Arbeitslosigkeit und die fragile Sicherheitslage die Lebenslage eines großen Bevölkerungsteils bestimmen, verlassen sich viele Menschen auf die tradierten Justizmethoden. So ist es auch im Norden des Landes, in der Provinz Balkh.

Im Schneidersitz vor Mohammad Zahir Samim harren vier Männer, ihr Blick fixiert auf Samims Schreibtisch. Noch sind sie ruhig und warten auf ein Zeichen des Justizbeamten im grauen Jackett, der mit wachen Augen den Aktenstapel vor sich durchscannt. In der Ecke des karg möblierten Zimmers steht ein mit bunten Gesetzesbüchern gefülltes Regal.

Jedes Papier gehört zu einem Streitfall, den Mohammad Zahir Samim in den letzten Wochen bearbeitet hat. Seit 13 Jahren arbeitet Samim als staatlicher Streitschlichter in Khulm, einer Kleinstadt in der nordafghanischen Provinz Balkh, etwa sechzig Kilometer östlich von Mazar-e Scharif. In Afghanistan haben Streitschlichter jahrzehntelange Tradition. Die Angestellten des Justizministeriums bieten Konfliktparteien die Chance, ihre zivilrechtlichen Streitigkeiten zu lösen, sodass ein Gerichtsgang überflüssig wird.

Traditionelle Methoden vs. moderner Rechtsstaat

„Als Schlichter sollte ich mich nicht nur mit dem Gesetz auskennen, sondern auch viel Geduld mitbringen.“ Samim lacht. Wie zum Beweis wendet er sich den Männern auf dem Boden zu, die augenblicklich in eine lautstarke Diskussion verfallen. Einer der Zankenden, ein Alter mit Bart und Turban, feuert mit krächzender Stimme eine Salve von Anschuldigen in Richtung seines Kontrahenten. Wild gestikulierend zückt er ein Dokument, das im hohen Bogen auf dem Schreibtisch des Schlichters landet. Samim scheint unbeeindruckt und führt kurz noch ein Telefongespräch.

Es geht um eine Landstreitigkeit: Jemand hat ein Grundstück gekauft, das zugleich Teil einer Erbschaft ist. Wem gehört welcher Anteil am Land? Wie viel darf der Käufer von dem Grundstück bewirtschaften, wie viel der Erbe? Für Samim sind das Routineprobleme. In rund zwei Dritteln seiner Fälle geht es um Land, gefolgt von Familienfehden und Geschäfts- oder Schuldenkonflikten.

Der Ablauf ist jedes Mal derselbe: Jemand reicht eine Beschwerde ein, worauf die gegnerische Seite angehört wird. Wenn nach ein paar Tagen Vermittlung keine Übereinkunft zwischen den Streitenden erlangt worden ist, erteilt Samim eine Einschätzung, wie das Gericht in ihrem Fall urteilen würde. Am Ende der Mediation kommt es zu einer schriftlichen Vereinbarung oder aber der Fall wird dem zuständigen Gericht übergeben.

Streitschlichtung – eine Win-win-Situation

Der Vorteil: Akzeptieren beide Seiten den Schlichtspruch, bleibt das Verhältnis der Streitenden intakt – anders als beim Gerichtsprozess, aus dem einer als Gewinner und der andere als Verlierer hervorgeht. Während die Gerichte in Afghanistan als allgemein korrupt gelten, genießen die Streitschlichter das Vertrauen der Gesellschaft.

„Außerdem nehmen wir uns mehr Zeit für die Menschen als die herkömmlichen Justizinstitutionen“, sagt Samir. Manchmal fährt der 52-jährige direkt in eines der dreißig Dörfer, die in seinem Zuständigkeitsbereich liegen. An Ort und Stelle versucht er, den Konflikt gemeinsam mit allen Beteiligten zu lösen. Der Kontakt zu den Menschen sei ihm wichtig, die Bewohner von Khulm vertrauen ihm. „Wenn ich dazu beitragen kann, dass ein Streit beigelegt wird, ist das für mich auch ein persönlicher Erfolg.“

Die Straße, die von Khulm in die Provinzhauptstadt Mazar-e Scharif führt, verläuft vor der Kulisse schroffer Berge. Mit abfallender Höhe gehen die braunen Felsen in trockengelbe Steppenfelder über. Im Herzen von Mazar-e Scharif liegt die Blaue Moschee, das beliebteste Pilgerzentrum von Afghanistan. Das Moscheengelände ist zu jeder Zeit belebt. Familien sitzen im Schatten der mosaikbesetzten Minarette oder spazieren durch den kleinen Park, der vor dem Heiligtum liegt.

Rechtsinformation direkt im Pilgerzentrum

Vielen Pilgern fällt der weiße Bürocontainer auf, in dem Sefatollah Rafat an drei Tagen die Woche auf Fragen wartet. Rafat ist Öffentlichkeitsbeauftragter des Justizministeriums der Provinz Balkh. Seit Mai 2014 betreibt das Ministerium hier im Schatten der Blauen Moschee ein Rechtsinformationsbüro, das schnell und unbürokratisch Auskünfte rund um das afghanische Rechtssystem erteilt. Rafat wurde von der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) geschult und moderiert juristische Infoveranstaltungen an öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Moscheen oder auf dem Basar.

Das Büro ist mit einer kleinen Bibliothek für Fachliteratur und Broschüren des Justizministeriums ausgestattet. Eine davon trägt den Titel „Falsche Traditionen“ und klärt Besucher über rechtswidrige Praktiken auf, die in Familien von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dazu gehört zum Beispiel die häusliche Gewalt gegen Frauen, worüber ein Plakat an der Bürowand informieren will. Darauf ist eine Frau in Burka abgebildet, die von ihrem Mann mit einem Seil verdroschen wird. In einem Land, wo die Mehrheit der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann, sind Bilder die wirksamsten Informationsträger. Gleichzeitig hat das Justizministerium Werbespots in den Lokalmedien geschaltet, die auf das Infobüro aufmerksam machen.

Immer wieder wird Rafat mit Missverständnissen konfrontiert. Dazu gehört der weitverbreitete Glaube, dass staatliche Gesetze im Widerspruch zur Religion stünden. Er hält mit fundierten Argumenten dagegen und trägt so zu einem langsamen Wandel in den Köpfen der Afghanen bei. „Bei meiner Arbeit habe ich beobachtet, dass die Menschen im Vergleich zu früher mehr Bewusstsein für ihre Rechte haben“, betont Rafat. Dafür spricht auch der konstante Anstieg an Gerichtsfällen in der Provinz Balkh. Diese Entwicklung sei nicht etwa ein Indiz für gestiegene Kriminalität, sondern dafür, dass mehr und mehr Afghanen wissen was ihre Rechte sind und diese auch einfordern.

Nach Jahrzehnten Bürgerkrieg und dem Fall der Taliban ist in Afghanistan seit 2004 eine neue Verfassung in Kraft. Doch bei der Implementation gibt es noch viele Hürden zu überwinden. Rechtsstaatlichkeit ist ein langwieriger Prozess. “Eines der Hindernisse sind die lokalen Stammesgerichte, die auf Basis von Tradition entscheiden. Dort finden Frauen und Kinder kaum Gehör“, sagt Bernd Messerschmidt, der für die GIZ die Schulung von Justizbeamten koordiniert.

Ein Bewusstsein für Rechtsprobleme von Frauen

Doch daran scheint sich langsam etwas zu ändern: Landesweit plant das afghanische Justizministerium nun die Eröffnung von insgesamt 34 Informationsbüros. Bei der Öffentlichtkeitsarbeit wird das Justizministerium in Mazar-e Scharif seit letztem Jahr auch von Jurastudentinnen der Universität Balkh unterstützt. Die jungen Juristinnen erhalten Praktikumsstellen in den rechtlichen Institutionen, wo sie sich gleichzeitig mit der Berufspraxis und den juristischen Problemen der Bevölkerung vertraut machen können. Lida Adeel, eine 22-jährige Jurabsolventin, hat bei ihrem Praktikum im provinziellen Justizministerium sechs Monate lang Frauen in ihren rechtlichen Fällen begleitet. Nun will Lida ihr eigenes Anwältsbüro mit Spezialisierung auf Frauenrechten gründen.

Wenn es nach dem Wunsch der nordafghanischen Streitschlichter geht, sollen in Zukunft auch Frauen in ihrem Amt beschäftigt werden. Diesen Wunsch äußerten die Männer bei einem  der Trainingsworkshops, die von der GIZ durchgeführt werden – insgesamt wurden so bereits über 150 Streitschlichter ausgebildet. Mohammad Zahir Samim aus Khulm jedenfalls ist sich bewusst, wie entscheidend seine Arbeit für Afghanistan ist: „Professionelle Mediation ist für die Menschen hier genauso wichtig, wie es meine Leidenschaft ist. Dieser Beruf ist zu meiner Mission geworden.”