In Luxemburg waren wissenschaftliche Arbeiten von Politikern bisher kein Thema. Xavier Bettels Abschlussarbeit könnte das ändern. Denn laut Recherchen von Reporter.lu handelt es sich dabei um einen klaren Fall von Plagiat. Das bestätigen auch mehrere unabhängige Forscher.

Es könnte nur eine Fußnote der Geschichte sein, doch Xavier Bettel setzte keine einzige. In seiner Abschlussarbeit an der Universität Nancy findet sich nicht eine korrekte Quellenangabe, die wissenschaftliche Arbeiten eigentlich auszeichnen. Dabei erhärtet sich laut Recherchen von Reporter.lu ein akuter Plagiatsverdacht, der in seinem Ausmaß seinesgleichen sucht.

Xavier Bettels Abhandlung „Vers une réforme possible des modes de scrutin aux élections du Parlement Européen?“ ist ein eindrucksvolles Sammelsurium aus abgeschriebenen Passagen, das den üblichen akademischen Anforderungen nicht gerecht wird. Reporter.lu konnte lediglich auf zwei der insgesamt 56 Seiten keine plagiierten Textpassagen feststellen. Dabei handelt es sich um wenige Absätze in der Einleitung und ein ebenso kurzes Fazit. Der Plagiatsbefund wurde Reporter.lu von mehreren unabhängigen Forschern bestätigt.

Student mit hohen Ambitionen

Seine Abschlussarbeit verfasste Xavier Bettel im Rahmen seines Studiums der Rechts- und Politikwissenschaften an der damals noch so genannten « Université de Nancy II » (heute „Université de Lorraine“). Bereits neben dem Studium war der heutige Premier politisch aktiv, etwa als Vorsitzender der „Jeunesse Démocrate et Liberale du Luxembourg“ (JDL). 1999 gelang ihm mit 26 Jahren der Einzug sowohl ins Parlament als auch in den Gemeinderat der Stadt Luxemburg. Es war eine außergewöhnliche Leistung für einen Jungpolitiker, der zu diesem Zeitpunkt erst seine „Maîtrise“ abgeschlossen hatte.

Doch Xavier Bettel wollte mehr. Während er politisch durchstartete, hat er auch in Nancy weiter studiert und arbeitete auf ein „Diplôme d’études approfondies“ (DEA) in öffentlichem Recht und Politikwissenschaft hin. Das Diplom entspricht heute etwa einem Masterabschluss, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Ein DEA war vor allem forschungsorientiert und durchaus prestigeträchtig. Vor der Bologna-Reform galt es als Vorbereitung auf eine Doktorarbeit und ging damit auch mit – im Vergleich zum Magister- oder Diplomstudium – erhöhten wissenschaftlichen Standards einher.

Abgeschrieben aus dem Internet

Im Fall von Xavier Bettels DEA-Arbeit aus dem Jahre 1999, die Reporter.lu exklusiv einsehen konnte, kann von wissenschaftlichen Standards jedoch kaum die Rede sein. Der heutige Premierminister schrieb nicht nur punktuell oder manche Passagen, sondern seitenlang aus anderen Publikationen ab, ohne dies in irgendeiner Form durch Anmerkungen oder Fußnoten kenntlich zu machen. Bereits die ersten Sätze der Arbeit kopierte Xavier Bettel aus „L’essentiel des institutions de l’Union Européenne“. Das Einführungsbuch über die europäischen Institutionen gilt auch für weitere Stellen der Arbeit als geistige Inspirationsquelle.

Das Ausmaß des Plagiats ist zu groß, um noch zumutbar zu sein. »Nicolas Sauger, Politologe an der « Sciences Po » in Paris

Die Copy-and-Paste-Mentalität zieht sich jedoch durch die ganze Abschlussarbeit. Dabei machte sich Xavier Bettel offenbar nicht allzu viel Mühe, den Anschein eines Plagiats zu vermeiden. Manche der im Literaturverzeichnis aufgelisteten Standardwerke zum Wahlsystem der EU tauchen in der Arbeit auf, jedoch ohne Quellenangabe im Text. Zudem kopierte er insgesamt 20 Seiten seiner Arbeit von der, mit einem deutlichen Copyright-Hinweis versehenen Homepage des Europäischen Parlaments – wohlgemerkt auch ohne Quellenangabe.

Auf über 96 Prozent der Seiten der Abschlussarbeit von Xavier Bettel konnten Übernahmen von fremden Texten – vier Webseiten, zwei Bücher, ein Zeitungsartikel – ohne Quellenangabe nachgewiesen werden. (Foto: Reporter.lu)

Der Kern der Arbeit ist eine Auseinandersetzung über mögliche Reformen des Wahlsystems für die Europawahlen. Doch selbst dieser Teil wurde zu nicht einmal 25 Prozent von Xavier Bettel selbst verfasst. Die Analyse besteht aus zwei Teilen. Zum einen geht es um Reformen auf der europäischen Ebene und zum anderen über die Wahlen in Frankreich. Beide Aspekte waren in den Jahren zuvor sowohl im Europäischen Parlament als auch im französischen Senat ausführlich diskutiert worden.

So hat etwa der damalige griechische Europaabgeordnete Georgios Anastassopoulos 1998 für das Parlament einen Bericht über mögliche Reformvorschläge ausgearbeitet. Der Bericht des konservativen Politikers war für den jungen Studenten Xavier Bettel offenbar von großer Bedeutung. Immerhin stammt fast ein Drittel des zweiten Teils der Arbeit aus der Feder des Europaabgeordneten. Neun Seiten seiner Arbeit schrieb Xavier Bettel vollständig von dem online verfügbaren Bericht ab. Dabei hat er jedoch kein einziges Mal die Quelle zitiert. Lediglich einmal erwähnt Xavier Bettel mit einem Satz den Bericht, ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass weite Teile seiner wissenschaftlichen Arbeit darauf beruhen.

Ja, das kann gut sein, dass Passagen von Internetseiten übernommen wurden. »
Etienne Criqui, „Directeur de Mémoire“ von Xavier Bettel

Noch bedeutender war jedoch ein Bericht des „Mouvement Européen“ von 1996. Selbst der Titel „Réformer le mode de scrutin européen“ deutet bereits auf große textuelle Schnittmengen mit Bettels Abschlussarbeit hin. Tatsächlich kopierte der Autor mehr als 40 Prozent des zweiten Teils seiner Arbeit aus diesem Buch. Die Analyse zu den Vorschlägen einer Reform des Wahlsystems für die Europawahlen in Frankreich gibt der Student und junge Abgeordnete wortgetreu wieder, als wären es seine eigenen Überlegungen.

Ein Plagiat unzumutbaren Ausmaßes

Unabhängig von den vielen, augenscheinlich plagiierten Passagen genügt Bettels Analyse auch inhaltlich nicht den Erwartungen an eine wissenschaftliche Arbeit, geschweige denn einer „Mémoire de DEA“. Seine Ausführungen haben nur wenig mit dem eigentlichen Thema einer Wahlrechtsreform für die Europawahlen zu tun. Nicht einmal die einzige Ausnahme, eine eineinhalb Seiten lange Analyse zur Lage in Luxemburg, erfüllt dieses Kriterium. Dort erklärt Xavier Bettel etwa, dass man in Luxemburg von « Listen schwärzen » spricht, wenn alle Stimmen gleichmäßig auf eine Partei verteilt werden sollen.

Die Plagiate, die ich fand, sind sehr problematisch, weil längere Passagen fast wortwörtlich übernommen wurden. »Anna-Lena Högenauer, Politologin an der Uni Luxemburg

Die Arbeit „Vers une réforme possible des modes de scrutin aux élections du Parlement Européen?“ sei „eine Aneinanderreihung von Fakten, die eigentlich nichts mit dem Thema zu tun haben“, lautet die Einschätzung des Politologen Nicolas Sauger im Interview mit Reporter.lu. „Die in der Arbeit enthaltene Analyse ist nicht tiefgreifend und im Prinzip nichts Neues.“

Xavier Bettel verfasste das « Mémoire » für sein „Diplôme d’études approfondies“ im Jahre 1999. Reporter.lu erhielt exklusiv Einsicht in die Abschlussarbeit des heutigen Luxemburger Regierungschefs. (Foto: Reporter.lu)

Die Frage eines Plagiats sei generell schwer zu beantworten, so Nicolas Sauger weiter. „Ab welchem Ausmaß handelt es sich um ein Plagiat?“, fragt er sich. Im Fall von Xavier Bettels „Mémoire“ stehe dies allerdings außer Frage, so der Forscher des renommierten « Institut d’études politiques de Paris ». „Das Ausmaß des Plagiats ist zu groß, um noch zumutbar zu sein.“ Sowohl die Form als auch die Qualität der Arbeit würden nicht dem Standard entsprechen, den er von seinen heutigen Studenten erwarte, so Nicolas Sauger, der auf Nachfrage von Reporter.lu die Abschlussarbeit selbst durchlas und bewertete.

Auch die Politologin Anna-Lena Högenauer bestätigt den Plagiatsbefund. Auch sie hat Stichproben der Arbeit von Xavier Bettel selbst auf Plagiate untersucht. « Die Plagiate, die ich fand, sind sehr problematisch, weil längere Passagen fast wortwörtlich übernommen wurden ». Für die Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Luxemburg lässt sich das auch nicht mit « Zitierfehlern » erklären. « Man kann nicht aus Versehen mehrere Seiten abschreiben », so die anerkannte Expertin für europäische Politik im Gespräch mit Reporter.lu.

« Une note tout à fait honorable »

Durchaus gelassener schätzt jedoch der damalige Betreuer des Studenten Xavier Bettel die Lage ein. Ein Plagiat schließe er im Rückblick nicht aus, sagt Etienne Criqui im Gespräch mit Reporter.lu. „Ja, das kann gut sein, dass Passagen von Internetseiten übernommen wurden.“ Es habe aber damals nicht die gleichen informatischen Mittel gegeben wie heute, um ein Plagiat zu entdecken, bemerkt der „Directeur de Mémoire“ von Xavier Bettel. Die Abschlussarbeit des heutigen Luxemburger Premiers habe von ihm denn auch eine „note tout à fait honorable“ erhalten.

Etienne Criqui lehrt und forscht heute noch am Campus in Nancy. Dabei kann er sich noch sehr gut an den Studenten Xavier Bettel erinnern. „Xavier Bettel war eine Institution an der Universität. Jeder kannte ihn und er war bereits damals sehr politisch aktiv“, so der langjährige Professor für Politikwissenschaft. Gegen den Vorwurf des Plagiats nimmt er seinen früheren Studenten in Schutz, wenn er auch die Tatsache an sich nicht leugnet. „Es kann gut sein, dass er Informationen reproduziert hat. Aber der Kontext war ein anderer.“

Manchmal fiel uns ein Plagiat auf, manchmal nicht. Wenn es uns auffiel, dann haben wir die Note entsprechend angepasst. »
Etienne Criqui, „Directeur de Mémoire“ von Xavier Bettel

Mit „Kontext“ meint der Politologe vor allem die „deontologischen Vorschriften“, die sich seiner Meinung nach im Laufe der Zeit gewandelt hätten. „Heute werden die Studenten sicherlich stärker betreut und lernen die Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens. Das ist strenger als früher“, so Etienne Criqui. Daran ändere für ihn im Rückblick auch das Ausmaß nichts. Es sei nicht immer einfach gewesen, ein Plagiat zu erkennen, so der frühere Dekan der Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. „Manchmal fiel uns ein Plagiat auf, manchmal nicht. Wenn es uns auffiel, dann haben wir die Note entsprechend angepasst. Heute gibt es dafür sofort eine 0.“

Tatsächlich war der Kontext für Xavier Bettel Ende der 1990er Jahre ein anderer wie für viele seiner Kommilitonen. Er schrieb seine Abschlussarbeit an der Universität in Nancy nämlich im gleichen Jahr, als er in der Heimat für die National-, Europa- und Kommunalwahlen kandidierte. Doch auch aus einem anderen Grund handelte es sich um eine Zeit, die den heutigen Premier wohl für immer geprägt hat. Kurz nach Bettels Vereidigung als Abgeordneter starb sein Vater an einem Herzinfarkt. In einem Interview mit « L’Est Républicain » bezeichnete er das Jahr 1999 demnach als « une année terrible faite de succès et de tristesse ».

Premier schweigt zu Vorwürfen

Wie geht die Universität des heutigen Premiers mit einem akuten Plagiatsverdacht um? Die « Université de Lorraine », die vor rund zehn Jahren aus einer Fusion der Universitäten in Nancy und Metz entstanden ist, betont auf Nachfrage von Reporter.lu, dass sie erst in den vergangenen Jahren verstärkte Maßnahmen zur Plagiatsentdeckung ergriffen habe. Die Universität nutze seit ihrer Gründung 2012 eine Plagiatssoftware, so der « Directeur de la Communication » der « Université de Lorraine », David Diné.

Wie die beteiligten Forschungseinrichtungen vor der Fusion mit der Frage umgingen, sei allerdings « aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen », so der Sprecher weiter. Auf die Frage, welche Prozeduren und mögliche Sanktionen man bei Plagiaten in wissenschaftlichen Arbeiten vorsehe, heißt es von der Universitätsverwaltung schließlich, dass man « zu diesem Zeitpunkt » nicht in der Lage sei, darauf eine Antwort zu geben.

Auch Xavier Bettel selbst wollte zu diesem Zeitpunkt keine Stellung beziehen. « Der Staatsminister sieht sich außer Stande, auf Vorwürfe zu reagieren, deren Grundlage über 20 Jahre zurückliegt, ohne Einblick in die von Ihnen genannten Recherchen zu erhalten », so die Antwort aus dem Staatsministerium. Weder auf den Inhalt seiner Arbeit noch auf den Plagiatsverdacht oder dessen Ausmaße wollte der Premier auf Nachfrage von Reporter.lu eingehen.

Die Gradmesser des Plagiats

Nicht nur in der wissenschaftlichen Welt, sondern auch bei sogenannten Plagiatsaffären im Ausland spielt ebenjenes Ausmaß des festgestellten Fehlverhaltens aber natürlich eine wichtige Rolle. Und das Ausmaß von Xavier Bettels nahezu vollständig abgeschriebener Arbeit ist im internationalen Vergleich durchaus bemerkenswert.

Wenn ich das Gefühl habe, jemand versucht, durch Tricksereien etwas zu erreichen, das verzeihe ich nicht. » Xavier Bettel im Interview mit dem « ZEIT Magazin »

In Deutschland mussten bereits mehrere Politiker wegen Plagiatsaffären zurücktreten. Den meisten Menschen ist dabei wohl die Affäre um Karl-Theodor zu Guttenberg in Erinnerung. In der Doktorarbeit des Ex-Ministers der CSU wurden auf 94,4 Prozent der Seiten Plagiate festgestellt. Die frühere Bildungs- und Hochschulministerin Annette Schavan (CDU) musste 2013 zurücktreten, als auf 40 Prozent der Seiten ihrer Promotionsarbeit kopierte Passagen nachgewiesen wurden. Für Ex-Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reichte im vergangenen Mai bereits ein Nachweis in einem Viertel ihrer Arbeit. Zum Vergleich: Bei Xavier Bettel beträgt der Anteil von betroffenen Seiten mindestens 96,4 Prozent.

Grafik: Reporter.lu

Lediglich ein europäischer Spitzenpolitiker hat fast genau so viel abgeschrieben wie Luxemburgs Regierungschef. Der ehemalige slowakische Ministerpräsident Igor Matovic hatte « nur » drei von 79 Seiten seiner Magisterarbeit selbst verfasst. In einem Punkt unterscheiden sich jedoch beide Fälle: Igor Matovic kopierte aus lediglich zwei Büchern seine Arbeit. Xavier Bettel, der neben dem DEA aus Nancy auch zwei Ehrendoktortitel der Sacred Heart University sowie der Universität Bukarest trägt, nutzte immerhin sieben unterschiedliche Quellen.

Unverzeihliche „Tricksereien“

Im Mittelpunkt der Debatten über Plagiatsaffären im Ausland stand dabei zunächst die Frage der wissenschaftlichen Beurteilung und der Effizienz der Kontrolle seitens der beteiligten Universitäten. Vor allem in Deutschland gelten akademische Betrugsversuche nicht als Kavaliersdelikt. Politisch ging es aber auch schlicht um die Integrität der betroffenen Amtsträger. Die Frage, welche Konsequenzen aus solchen Affären zu ziehen sind, wurde von Fall zu Fall, aber auch von Land zu Land unterschiedlich beantwortet.

Entscheidend ist letztlich jeweils, welcher Wert der wissenschaftlichen Redlichkeit und generell der Aufrichtigkeit von Politikern beigemessen wird. Xavier Bettel hat in dieser Frage eine klare Auffassung, wie er sie zumindest einmal im Interview mit dem „ZEIT Magazin“ unmissverständlich formulierte: „Ich vertrage nur keine Unehrlichkeit. Wenn ich das Gefühl habe, jemand versucht, durch Tricksereien etwas zu erreichen, das verzeihe ich nicht.“