Sterbefälle: 434. Durchschnittsalter: 83 Jahre. Soviel sagen uns die Statistiken über die an Covid-19 Verstorbenen. Doch hinter den Zahlen verbergen sich 434 Menschen und ihre Geschichten. Reporter.lu zeichnet vier Lebensläufe nach, die mit der Pandemie abrupt geendet haben.

Über 1,68 Millionen Menschen sind weltweit (Stand: 20. Dezember 2020) an den Folgen von Covid-19 gestorben. In Luxemburg liegt die Zahl der Sterbefälle aktuell bei 434. Zwei Drittel davon sind Menschen, die zum Zeitpunkt ihres Todes über 79 Jahre alt waren.

Doch unabhängig von Alter und anderen Statistiken verbergen sich hinter den Zahlen einzelne Gesichter, Schicksale und Lebensgeschichten, Erinnerungen, Trauer und Dankbarkeit – und oft genug der anhaltende Schmerz, weil sich die engsten Vertrauten nicht von ihnen verabschieden konnten. Vier Nachrufe auf vier Menschen, die durch die Pandemie aus dem Leben gerissen wurden.


Albert Schneider

Im Hotelzimmer in Bellaria sitzt Liliane Schneider und putzt Erdbeeren. Zu verdanken hat sie das ihrem Mann Albert. Er war wieder einmal auf dem Markt und hat einen Eimer Erdbeeren für die Kinder am Strand gekauft. So ging das fast jedes Jahr, erinnert sich seine Frau Liliane. Denn für Albert Schneider war Bellaria in der Nähe von Rimini nicht bloß Sehnsuchtsort, sondern eine zweite Heimat. Meist ging es zweimal im Jahr dorthin; einmal im Herbst mit der Familie und einmal um Pfingsten mit dem Fußballverein aus Redingen.

Am 12. April 2020 verstarb Albert Schneider im Alter von 76 Jahren im CHL an den Folgen einer Corona-Infektion. (Foto: Privat)

Albert Schneider, den seine Vereinskollegen nur „Abbes“ nannten, war langjähriger Präsident des SC Réiden. Die Busreisen nach Italien waren für Verein und Präsident die Höhepunkte des Jahres. Immer am gleichen Ort, immer im gleichen Hotel Rosalba, sogar die Busfahrer waren bei den Reisen immer die gleichen. Was für andere eintönig gewesen wäre, war für Albert Schneider eine erweiterte Familie, der man verpflichtet war.

Seine Frau erzählt, dass die Beziehung zu den Hotelbesitzern in Italien so eng wurde, dass diese ihren Urlaub in Luxemburg verbrachten. Und so entstand eine Geselligkeit, in der Albert Schneider aufblühen konnte, umgeben von Freunden in der Fremde. Oft nahm er sich das Fahrrad, fuhr vom Strand in das Stadtzentrum und kehrte vollbeladen mit Eiscreme oder Erdbeeren zurück. Zur sichtlichen Freude der Kinder seiner Vereinskollegen.

Auch in seinem Berufsleben legte Albert Schneider Wert auf Geselligkeit. Den Arbeitstag begann er immer mit einem Café beim Bäcker. Dann ging es zum Postbüro in Redingen. Dort war er Filialleiter und koordinierte die Zustellung durch die Briefträger und die Abläufe in der Zweigstelle. Im Ort kannte er jede und jeden.

Die Arbeit gehörte der Post, aber die Freizeit der Familie und dem Fußball. Neben seinem eigenen Verein SC Réiden schlug das Herz von Albert Schneider für Schalke 04. Die Wohnung zieren Schals, Trikots, Bettwäsche und Kugelschreiber des Ruhrpottvereins. Als er mit 64 Jahren in Rente ging, stand Enkel Joe im Mittelpunkt. Wann immer es ging, fuhr Opa ihn zum Training oder zu den Spielen der Mannschaft.

Kurz vor einer weiteren Reise nach Bellaria erlitt Albert Schneider einen Schlaganfall. Ein Schicksal, das ihn in der darauffolgenden Jahren noch mehrmals ereilen sollte. Etwa zehn Jahre nach seiner Pensionierung fuhr er ein letztes Mal mit seiner Frau ins Hotel Rosalba nach Bellaria. Er war schlecht zu Fuß, Mitarbeiter der Hotels mussten ihn auf dem Weg in den Speisesaal stützen. Die Zeit danach war geprägt von einem sich verschlechternden Gesundheitszustand. Schließlich zog er ins Pflegeheim in Bofferdingen.

Anfang April 2020 erkrankte Albert Schneider an Covid-19. Er wurde ins Centre Hospitalier Luxembourg (CHL) nach Strassen eingeliefert. Seine Frau konnte nur über Telefon mit ihm sprechen. Sie verstand ihn schlecht, das Rauschen der Sauerstoffmaske war zu laut. Am 12. April starb Albert Schneider im Alter von 76 Jahren an den Folgen der Virusinfektion. Drei Wochen vor seinem 51. Hochzeitstag.


André Flammang

Seine Passion für Auto-Rallys konnte André Flammang selbst bei der Fahrt in den Urlaub nicht verstecken. Akkurat plante und notierte er vor einer Reise jedes Zwischenziel und jede Abbiegung. Vom Beifahrersitz aus dirigierte er mit dem eigens angefertigten „Roadbook“, wie der detaillierte Routenplan im Rallye-Sport heißt, den Fahrer, meist seinen Schwiegersohn François Hennequin, präzise bis ans Urlaubsziel. Es war ein Überbleibsel aus der eigenen Vergangenheit als Beifahrer des Rallye-Piloten Menn Klaess bei den damals noch zahlreichen Rennveranstaltungen.

Die Fahrzeugwahl war dabei keineswegs dem Zufall überlassen. Denn das Leben von André Flammang ist eng mit der Marke Ford verbunden. Noch heute fahren Tochter und Enkel ausschließlich Fahrzeuge der US-Marke. Seine berufliche Laufbahn begann André Flammang zunächst in der Ford-Garage in Luxemburg-Stadt, ehe er 1963 zur Grand-Garage Paul Wengler nach Ettelbrück wechselte.

André Flammang ist am 10. April 2020 im Alter von 89 Jahren in den Hôpitaux Robert Schuman in Kirchberg an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. (Foto: Privat)

Flammang war ein Modernisierer und Zahlenmensch, zuständig für die Buchhaltung. Als Gesellschafter war er in die Unternehmensführung eingebunden und führte die computergestützte Bilanzierung mit ein. Es war ein Leben für die Firma. Die junge Familie zog über der Garage ein, bis ins Büro waren es nur einige Treppenstufen. Sogar nach seiner Pensionierung mit 63 Jahren und einer schweren Herz-OP blieb er dem Betrieb treu. Als es Probleme in der Buchhaltung gab, kehrt André Flammang kurzerhand zurück und half zwei Jahre aus.

Geboren wurde André Flammang am 31. Januar 1931 in Sesselich an der belgisch-luxemburgischen Grenze. Seine Kindheit verbrachte er als Sohn eines Schmelzarbeiters jedoch in Rodange. In den Kriegsjahren wurde er zeitweise mit seiner Mutter nach Südfrankreich evakuiert. 1951 machte er im hauptstädtischen Athénée sein Abitur. Schon damals erkennbar: seine Sorgfalt. Akkurat notierte er den täglichen Lernstoff in einem kleinen, roten Büchlein. Ebenso die ersten verliebten Gedanken an seine Frau Marthe, die er bereits damals kennenlernte. Am 9. August 2020 wären die beiden 66 Jahre verheiratet gewesen.

Nach dem Abitur folgt der Armeedienst in Luxemburg. André Flammang stieg schnell auf: Als Offizier verbrachte er einige Zeit in den Vereinigten Staaten. Nach der Rückkehr stieg er ins Berufsleben ein und gründete eine Familie.

Neben der Familie und der Firma, galt André Flammangs Liebe dem Sport. Seine Tochter Réjane Hennequin erinnert sich an eine abenteurliche Episode: Mit dem Rennrad soll er von Rodange zum Onkel nach Brüssel gefahren sein. Es ist eine Liebe, die ihn sein ganzes Leben begleiten sollte. So schrieb André Flammang neben seiner Tätigkeit im Autohaus als freier Mitarbeiter Sportberichte für den „Républicain Lorrain“.

Seiner Familie bleibt André Flammang als warmherziger Mensch in Erinnerung, der ein besonders inniges Verhältnis zu seinen Enkelkindern hatte. „Er war immer für jeden da“, erinnert sich sein Schwiegersohn François Hennequin. Am 1. April wurde André Flammang positiv auf das Coronavirus getestet, am 6. April in die Hôpitaux Robert Schuman nach Kirchberg verlegt. Vier Tage später konnte seine Tochter Réjane ihn unter strengen Schutzmaßnahmen ein letztes Mal besuchen. Einige Stunden später starb André Flammang. Seine Frau Marthe konnte sich nicht von ihm verabschieden.


Jérôme Grandidier

Eigentlich wollte er mit seiner Frau Isabelle und seinen Töchtern Lison, Jeanne und Valentine auf Reisen gehen, sobald er das Krankenhaus wieder verlassen würde. Er mochte es, immer wieder zu wiederholen: „Suis immortel“. Seine Kollegin Élodie Trojanowski, die sich mit ihm das Büro in dem von ihnen gemeinsam gegründeten und geführten Unternehmen LuxFactory teilte, nannte ihn „Phönix“. In Anspielung an jenes mythologische Wesen, das starb, um aus seiner Asche neu zu entstehen.

Am 29. November starb Jérôme Grandidier im Alter von 50 Jahren im Krankenhaus in Kirchberg. Nach mehreren Wochen verlor er den Kampf gegen Covid-19. (Foto: Privat)

Jérôme Grandidier war ein Stehaufmännchen, das sich nicht unterkriegen ließ. Nicht von etlichen Insolvenzen, nicht von politischen Hürden, nicht von komplizierten Geschäftsbeziehungen. „Vor seinem ersten eigenen Bankrott kann man kein wirklicher Unternehmer sein“, soll er immer gesagt haben. Er probierte neue Dinge aus, gründete zum Beispiel eine Firma zum Verleih von Luxuslimousinen. Er mochte es, immer wieder neue Geschäftsideen zu verwirklichen. In erster Linie, um sich selbst eine Freude zu machen. Er war ein Anhänger Epikurs, ein wahrer Genießer, sagt Geschäftspartnerin Élodie Trojanowski.

Seit er 2016 Präsident von LuxFactory wurde, ist das Unternehmen, das sich auf die Beratung bei Geschäftsgründungen und auf Übergangsmanagement spezialisiert hat, aus der hiesigen Start-Up Szene nicht mehr wegzudenken. 30 Mitarbeiter und über ein Dutzend externe Berater – mit über siebzig Prozent Frauenanteil im Management – beschäftigt LuxFactory heute.

Seine Kollegen beschreiben Jérôme Grandidier als Humanisten, als einen Mann seines Wortes, in einer Geschäftswelt, in der ein Handschlag oft nicht mehr viel zählt. Temperamentvoll, impulsiv, meinungsstark, aber immer ehrlich. Als einen, dem es Spaß machte, übliche Rahmen zu sprengen und gedankliche Grenzen abzubauen.

Die Großregion, dieses politische Konstrukt, stellte sich Jérôme Grandidier, der am 23. Februar 1970 in Nancy geboren wurde, gerne als wirklichen, grenzenlosen Raum vor. Mit gemeinsamen Gesetzen und Werten, geprägt von Gleichberechtigung und Solidarität. Als einen kreativen und innovativen Platz mitten in Europa. Das Luxemburger Parlament bezeichnete er als „nicht repräsentativ“ und das ganze politische System als „nicht mehr zeitgemäß“. Er wünschte sich, dass sowohl in Luxemburg wohnende Ausländer, aber auch Grenzgänger aktiv in den politischen Prozess einbezogen würden.

Mit „My Luxembourg“ wollte der Mann, der sich in den letzten Jahren als Unterstützer und Verfechter der Start-Up Szene einen Namen gemacht hatte, ein alternatives Medium für Luxemburg schaffen, das von Lesern für Leser gemacht wird. Bis heute existiert „My Luxembourg“ nur als Facebookseite, den Ausbau zu einem professionellen Medium hatte Jérôme Grandidier für 2021 geplant.

Jérôme Grandidier schaute niemals zurück, sondern lebte für die Zukunft. In einem Video auf Facebook sprach er den regionalen Händlern und Unternehmern kurz vor seinem Tod noch Mut zu. Nach jeder Krise gehe es irgendwann auch wieder bergauf, so seine Botschaft. Vom Krankenhausbett aus machte er Werbung für den von ihm im Einkaufszentrum der Cloche d’or eröffneten Pop-Up-Store für lokale Produkte. „Kauft eure Weihnachtsgeschenke regional. Ich komme vorbei, sobald ich kann“, schrieb er.


Nello Monacelli

Es waren seine Hartnäckigkeit und sein umwerfender Charme, mit denen Nello Monacelli vor einem halben Jahrhundert das Herz von Lory erobert hatte. Das Orchester spielte und sie tanzten und tanzten und tanzten, auf einem Ball im luxemburgischen Mondorf. Nello, der am 11. April 1949 im italienischen Gubbio geboren wurde, nur knapp 60 Kilometer entfernt von Urboni, der Geburtsstadt von Lory.

Am 4. April 2020 ist Nello Monacelli an den Folgen einer Covid-19-Infektion gestorben. Als einer der ersten in Luxemburg. (Foto: Privat)

Mit 16 Jahren kam Nello nach Luxemburg. Er hatte jemanden kennengelernt, der ihm eine Arbeit in der Autobranche in Aussicht stellte. Aus einem Schülerjob in der Autoverschrottung wurden 42 Jahre bei Renault Luxemburg. Zunächst in der Werkstatt, dann in der Rezeption. „Es gibt keine Probleme, nur Lösungen“, hat er immer gesagt und mit seinem ehrlichen Blick und seinem freundlichen Lächeln sofort das Vertrauen der Kunden gewonnen.

Als er 2007 in den Ruhestand ging, bekam er von der Geschäftsführung eine Vespa geschenkt, als Dankeschön für den langjährigen, außergewöhnlichen Einsatz für das Autohaus. Zwischen seinem Kartauto und seinem „Megane-Cabrio“ steht sie nun, in der Garage des ohne ihn viel zu leise und zu groß gewordenen Hauses in Dippach.

Er war die Stütze der Familie. Seine Frau und seine Tochter nannten ihn liebevoll „Mister DHL“. Immer war er unterwegs, erfüllte die Aufgaben, die sie ihm aufgetragen hatten. Er strich ganze Häuser, reparierte tropfende Hähne und schiefe Terrassen. War unglaublich stolz, als seine selbst angepflanzten Tomaten dann im Frühsommer wie rote Weihnachtskugeln an den Sträuchern hingen. Nur wenn Lory ihn ausnahmsweise einmal in den Supermarkt schickte, da konnte sie sicher sein, dass er ratlos vor den Regalen stehend anrief, um zu fragen: „Was soll ich denn nun kaufen?“

Sie sprachen zu Hause eine Mischung aus Italienisch und Französisch. Sprach Nello Luxemburgisch, vergaß er meist die Verben. Das hielt ihn aber noch lange nicht davon ab, auch in der Sprache, die ihm immer etwas fremd geblieben war, lautstark seine Meinung zu sagen. Er war stolz darauf, Italiener zu sein, die italienische Politik jedoch brachte ihn zum Schimpfen.

Lory bedauert, ihm seinen letzten Wunsch nicht mehr erfüllt zu haben. In den letzten Jahren seines Lebens bat er sie mehrmals, ihren Friseursalon in Esch aufzugeben, um mehr Zeit für gemeinsame Reisen zu haben. Der jährliche Urlaub auf Gran Canaria und die Sommer in Italien, in den Geburtsorten der beiden und an der unweit entfernt liegenden Küste, waren ihm nicht mehr genug. Er, der erst durch Lory das Meer lieben lernte, konnte am Ende seines Lebens gar nicht genug davon bekommen. Von dem Rauschen der Wellen, von den geselligen Abenden mit Freunden, dem guten Essen, der Gesellschaft seiner Lory.

Ganz allein war er, als er im April seine letzte Reise antrat. In seinem Krankenhausbett in Esch. Seine Frau Lory und seine Tochter Patricia sprachen ihm zwei Tage zuvor noch durch die Telefonleitung Mut zu, doch da konnte er schon nicht mehr antworten. Seine Lungen waren zu schwach. Die Leere, die er hinterlassen hat, ist für Lory nur schwer auszuhalten. Die Wände des Hauses sind voller Fotos. Auf allen lächelt er und seine Augen funkeln. So wie vor fünfzig Jahren, beim Tanzen in Mondorf.


Anmerkung der Redaktion: Wir bedanken uns herzlich bei den Angehörigen für ihre Zeit, ihre Offenheit und ihre Bereitschaft, das Andenken an die Verstorbenen zu teilen.




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