GEFLÜCHTETE IN LUXEMBURG

In die Illegalität gezwungen

von Luc Caregari

Die neue Regierung hält an Jean Asselborns kontroverser letzter Amtshandlung fest. Nicht mehr alle allein reisenden männlichen Geflüchteten werden beherbergt, manche landen auf der Straße. Dabei ist in Belgien eine ähnliche Asylpolitik mehrfach vor Gericht gescheitert.
 

Wäre seine Stimme nicht so rau, würde nichts darauf hindeuten, dass Amadou* die Nacht in einem Zelt unter dem Pont Adolphe verbracht hat. Der 23-jährige Ivorer kam am 5. November in Luxemburg an. Als er am Schalter der „Direction de l’Immigration“ vorstellig wurde, händigte man ihm einen Brief aus. In dem Schreiben wurde er darüber aufgeklärt, dass er zwar ein Anrecht auf eine kleine finanzielle Unterstützung habe, nicht aber auf eine Unterkunft.

Seitdem wohnt Amadou auf der Straße. Dabei sollte Luxemburg die letzte Station seiner mehr als zwei Jahre andauernden Flucht sein. Politische Unsicherheit in seinem Heimatland, mangelnde Zukunftsperspektiven und eine schwierige familiäre Situation hatten ihn dazu bewogen, die Elfenbeinküste zu verlassen. Sein Traum ist es, Architekt zu werden: „Ich liebe das Zeichnen“, sagt er mit einem Lächeln.

Seine Reise führte ihn zuerst nach Algerien, dann nach Tunesien. In Tunis kam es nach einer Brandrede von Präsident Kaïs Saïed zu einer Welle von Aggressionen gegen Migranten. Zehntausende verließen das Land auf der Flucht vor Gewalt und Verhaftungen. 1.300 afrikanische Geflüchtete wurden von der tunesischen Polizei in der Sahara-Wüste ausgesetzt. Auch Amadou wurde Opfer von Gewalt: „Es kam schnell zu Übergriffen – auch ich bin verletzt worden“, sagt er und deutet auf sein Gesicht, auf dem eine Narbe zu erkennen ist.

Folgenreicher Politikwechsel

Die Gewalt habe ihn dazu bewogen, den Weg nach Europa anzutreten. Mit einem Schiff landete Amadou in Italien, wo seine Fingerabdrücke in die „Eurodac“-Datei aufgenommen werden. Damit wurde er – sobald er Italien verlassen hatte – zum „Dublin-Fall“. Unter das sogenannte Dublin-Verfahren fallen Personen, die bereits in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben, über den noch nicht endgültig entschieden wurde.

Amadou bekam auch eine Unterkunft in Italien. „Aber dort hat sich niemand um uns gekümmert. Die Prozeduren in Italien können Jahre dauern und die Bedingungen in der Unterkunft waren schwierig. Manchmal mussten wir tagelang auf einen Arzt warten, wenn jemand krank wurde“, erinnert er sich im Gespräch mit Reporter.lu. So reiste Amadou über die französischen Alpen nach Luxemburg, um einen erneuten Asylantrag zu stellen. Was die Dublin-Regelung auch erlaubt. Anstatt der erhofften Unterkunft und der Perspektive auf eine schnellere Bearbeitung seines Antrags wurde er jedoch von den Luxemburger Behörden in die Obdachlosigkeit gezwungen.

Luxemburg kann nicht all das auffangen, was andere Länder nicht mehr tun.“Max Hahn, Familienminister (DP)

Denn seit Ende Oktober gelten in Luxemburg strengere Regeln für die Erstaufnahme von Geflüchteten. Allein reisende Männer, die bereits in einem anderen EU-Land einen Antrag auf Asyl gestellt haben, erhalten keine Unterkunft, sondern werden auf eine Warteliste gesetzt. Vorrang bei der Unterbringung in den Einrichtungen des „Office National de l’Accueil“ (ONA) haben Familien, Frauen und Kinder. Die neue Regelung war eine der letzten Maßnahmen des früheren Außen- und Immigrationsministers Jean Asselborn (LSAP).

Rechtlich höchst zweifelhaft

Dass dieses Vorgehen rechtlich höchst zweifelhaft ist, zeigt ein Urteil, das die höchste belgische Instanz, der Staatsrat, im vergangenen September fällte. Vorher hatte die Staatssekretärin für Asyl und Migration, Nicole de Moor (CD&V), angekündigt, keine allein reisenden Männer mehr in die Unterkünfte zu lassen. Der Beschluss des Staatsrates, der in einer Dringlichkeitsprozedur von sieben NGOs und der wallonischen und deutschsprachigen Anwaltskammer gegen den belgischen Staat erzwungen wurde, liegt Reporter.lu vor.

In dem Urteil aus Belgien ist klar festgehalten, dass die „Überbelegung des Betreuungsnetzwerks es auf keinen Fall erlaubt, das Gesetz außer Kraft zu setzen“. Dies verstoße gegen die EU-Richtlinie „zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen“ von 2013, die in belgisches Recht übertragen wurde. Luxemburg passte seine Gesetzgebung im Jahr 2015 an. Seitdem ist das Anbieten eines Platzes in den Unterkünften für Geflüchtete rechtlich bindend. Egal, ob es sich dabei um Familien mit Kindern oder allein reisende Männer handelt. Demnach widerspricht die neue Praxis auch der hiesigen Gesetzgebung.

Die Situation in Belgien

Seit die belgische Staatssekretärin für Asyl und Migration, Nicole de Moor, verfügt hat, dass keine allein reisenden männlichen Geflüchteten aufgenommen werden dürfen, gebe es eine Warteliste mit etwa 2.800 Menschen, die gezwungen sind, auf der Straße zu leben, so ein Sprecher des „Vluchtelingenswerk Vlanderen“ im Gespräch mit Reporter.lu. Die Durchschnittszeit, in der diese Geflüchteten einen Platz bekommen würden, betrage sechs bis acht Monate. Dabei verfügt Belgien aktuell über genauso viele Betten in den Strukturen wie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015.

Staatssekretärin Nicole de Moor gibt zwar zu, dass ihre Entscheidung nicht dem Rechtsstaat entspreche, sie betont aber das Argument einer „Force majeure“. Bis jetzt haben die belgischen Behörden nicht nur vor dem Staatsrat eine juristische Niederlage erlitten, sondern auch vor belgischen Verwaltungsgerichten. Die „Fedasil“, das belgische „Office National de l’Accueil“ (ONA), verlor bis jetzt zusammengezählt 8.565 Prozesse gegen Geflüchtete, die ihr Recht auf einen Platz in einer Struktur vor Gericht geltend machten.

Auf diese Argumente setzen auch die vier Luxemburger NGOs „Passerell“, „Ryse“, „Amnesty International“ und „Médecins du Monde“, die am 17. November ankündigten, gegen die Entscheidung Jean Asselborns zu klagen. „Eigentlich führen wir gleich zwei Verfahren“, erklärt Marion Dubois, Direktorin von „Passerell“, im Gespräch mit Reporter.lu. „Wir strengen ein normales Verfahren vor dem Verwaltungsgericht an. Parallel dazu beantragen wir noch eine einstweilige Anordnung, wonach der Beschluss, diesen Menschen den Zugang zu den Auffangstrukturen zu verwehren, ausgesetzt wird, bis das Gericht eine Entscheidung getroffen hat.“

Wenn der Staat bewusst europäisches und nationales Recht bricht, ist es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht weit her.“David Wagner, Abgeordneter (Déi Lénk)

„Die Verhandlung zur einstweiligen Anordnung dauerte ganze zwei Stunden – vielleicht ein gutes Zeichen“, so Marion Dubois weiter. Sie hofft, dass es rasch zu einer gerichtlichen Suspendierung der Entscheidung kommt. Zu diesem Vorgehen inspiriert hat sie das belgische Urteil.

Auch die neue CSV-DP-Regierung will die Maßnahme nicht zurückziehen: „Die neue Regierung hält an der Entscheidung fest, weil sich die Situation nicht geändert hat“, so die knappe Antwort einer Sprecherin von Familienminister Max Hahn (DP). Während dem Familienministerium nun das vorher beim Immigrationsministerium angesiedelte ONA unterstellt ist, fällt die Migrationspolitik jetzt unter das Ministerium für innere Angelegenheiten, das von Léon Gloden (CSV) geführt wird.

„Moralische“ und andere Folgen

Dabei wird sich die Situation nicht von selbst ändern. Jeden Tag kommen neue Geflüchtete an, die durch die Ausnahmeregelung auf der Straße landen. Auch im „RTL“-Interview verteidigte Max Hahn die Entscheidung. Es habe zwar „moralische Auswirkungen“, aber: „Luxemburg kann nicht all das auffangen, was andere Länder nicht mehr tun.“ Über die legalen Folgen dieser Entscheidung verlor der Minister kein Wort.

Die Opposition sieht das kritisch: „Wenn der Staat bewusst europäisches und nationales Recht bricht, ist es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht weit her“, erklärt der Abgeordnete David Wagner (Déi Lénk) im Gespräch mit Reporter.lu. Man sehe, dass der Rechtsstaat anders mit den Schwächsten als mit den Stärksten umgehe: „Das finde ich sehr erschreckend“, so David Wagner.

Nicht nur, dass die Regelung gegen europäisches Recht verstößt, die Regierung übersieht dabei auch noch einen anderen Punkt: Geflüchtete in Strukturen für Obdachlose, wie etwa in der „Wanteraktioun“, unterzubringen, ist auch nicht legal. Dies wird ebenfalls durch das Urteil des belgischen Staatsrates belegt, der das Argument des Vertreters des belgischen Staates, dieser habe seine Pflicht getan, indem er die Geflüchteten in Obdachlosenheimen unterbrachte, widerlegt. Denn auch die Gleichsetzung von Geflüchteten und Obdachlosen widerspricht der EU-Richtlinie, die ihnen das Recht auf einen Platz in einer Auffangstruktur zuspricht.

„Das Ministerium ist im Austausch mit seinen konventionierten Partnern aus dem Obdachlosenbereich, um die Situation auf dem Terrain zu beobachten“, heißt es dazu lediglich aus dem Familienministerium. Die Sprecherin von Minister Max Hahn verweist ebenfalls darauf, dass die „Wanteraktioun“ am 15. November ihre Türen geöffnet habe und aktuell „keine Überbelegung bei den Betten“ verzeichnet worden sei.

„Ich hatte Angst um mein Leben“

Davon abgesehen, dass es nicht legal ist, Menschen in die Obdachlosigkeit zu zwingen, gibt es einen anderen Grund, warum es noch freie Betten in der Halle in Findel gibt. Sie ist nicht für die Unterbringung von Geflüchteten ausgelegt: „Ich war einmal dorthin Mittag essen und habe mich entschieden, lieber auf der Straße zu übernachten“, erzählt Amadou. Zu viele Drogenabhängige und zu viel Gewalt hätten ihn davon abgehalten, dieses Angebot anzunehmen. „Ich hatte Angst um mein Leben“, sagt der 23-Jährige.

Dass Amadou nicht der Einzige ist, bestätigt gegenüber Reporter.lu auch ein Streetworker, der auf dem Gebiet der Hauptstadt tätig ist. „Viele verbringen eine, vielleicht zwei Nächte dort und kehren dann auf die Straße zurück, weil sie sich dort sicherer fühlen“, erzählt der Streetworker unter Wahrung seiner Anonymität. Er bestätigt auch, dass die Behörden ihm das Leben nicht einfach machen würden. So sei es vonseiten der Stadt Luxemburg nicht gern gesehen, wenn sie Schlafsäcke an die Geflüchteten auf der Straße verteilen würden. „Das kümmert uns aber wenig, da wir den Zielen unserer Organisation verpflichtet sind und nicht der Stadt Luxemburg.“

Eine Sprecherin der Stadt Luxemburg bestätigte die Praxis gegenüber Reporter.lu: „Das Verteilen von Schlafsäcken oder Zelten fällt nicht in den Aufgabenbereich der Streetworker“, so die Stellungnahme. Die Stadt sei der Meinung, dass das Übernachten in Zelten bei diesen Temperaturen nicht adäquat sei. Auch wenn die Stadtverwaltung für die Aufnahme von abgewiesenen Geflüchteten nicht zuständig sei, ermutige sie diese, die Angebote der „Wanteraktioun“ wahrzunehmen.

Aber nicht nur die Stadt, sondern auch die Polizei macht den Geflüchteten das Leben auf der Straße nicht einfacher. Als Amadou und zwei seiner Freunde Kleider aus den Zelten gestohlen wurden, wollten sie Anzeige erstatten. Die Polizei weigerte sich aber, diese aufzunehmen. „Sie sagten uns, weil wir hier illegal auf der Straße leben würden, könnten sie dies nicht tun.“ Gleichzeitig zirkuliert unter den obdachlosen Geflüchteten das Gerücht, dass die Polizei die Zelte bald abreißen könnte. „Heute Morgen kamen zwei Sozialarbeiterinnen zu uns, um uns zu warnen, dass die Polizei bald kommen würde, um uns von hier zu vertreiben“, erzählt Amadou. Bis Redaktionsschluss hat die Polizei nicht auf die Anfragen von Reporter.lu reagiert.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.


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