Im neu erschienenen Bestseller „Entlang den Gräben“ zeigt sich mal wieder warum der Intellektuelle Navid Kermani ein Glücksfall für Deutschland ist. Ein Porträt.
Das Bild, welches Navid Kermani in Mecklenburg-Vorpommerns Hauptstadt Schwerin vorfindet, ein Brennpunkt des oft heraufbeschworenen „Dunkeldeutschlands“, will erstmal so gar nicht in unsere Vorstellung passen: Ein reiblos ablaufender Arabischkurs für syrische Flüchtlingskinder im Plattenbau-Problemviertel, ein Kleingartenverein, in dem Syrer einem kranken AfD-Rentner bei der Gartenarbeit helfen, und ein AfD-Ortstreffen, das aus ängstlichen Rentnern besteht, nicht etwa aus Skinheads oder rechten Polterern.
Wer die ersten sieben Seiten von Navid Kermanis neuem Reportagebuch „Entlang den Gräben“ liest, wird sich rasch der Stärken des Autors bewusst: Eine scharfe Beobachtungsgabe, ein offener Blick und die Bereitschaft, die eigenen Annahmen zu hinterfragen und erneuern zu lassen. Kermani denkt nicht schematisch. Er geht auf alle zu, nimmt aber auch alle in die Pflicht, selbst die links-rot-grün-gerichteten Deutschen, die genauso wenig mit den Anhängern der AfD sprächen wie die AfDler mit den Flüchtlingen.
„Entlang den Gräben“ ist der Bericht einer Reise von Köln bis in Kermanis iranische Familienheimat Isfahan, eingefasst in 54 Tagesberichten. Kermani besucht auf seiner Überlandreise Länder wie Litauen, Weissrussland und Aserbaidschan, „vergessene Regionen, in denen auch heute Geschichte gemacht wird“. Er sucht das Gespräch und in den Gesprächen das Unerhörte, das was sich dem alltäglichen Blick entzieht.
„Intellektueller mit Alltagsrelevanz“
Kermanis Gabe, tief zuzuhören und bewusst zu sehen, ist eine seltene, die in Zeiten von Fanatismus, Fake News und Fremdenangst Gold wert ist. Als Kermani im vergangenen November den Staatspreis des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen verliehen bekam, nannte ihn Ministerpräsident Armin Laschet zurecht einen „Intellektuellen mit Alltagsrelevanz, der zum Zusammenleben in Nordrhein-Westfalen, Deutschland und Europa wesentlich beiträgt“.
Tatsächlich nimmt Kermani in Deutschland eine einzigartige Rolle ein. Kein anderer Intellektueller, dessen Familie Migrationsgeschichte hat, wird so ernstgenommen und über Parteigrenzen hinweg wertgeschätzt. „Wenn er den Mund aufmacht, hört Deutschland zu“, titelte die Süddeutsche Zeitung kürzlich, während Kermani im WDR-Radio als „öffentlicher Intellektueller“ vorgestellt wurde, der nach dem Tod von Günter Grass die Lücke als politisches Gewissen Deutschlands schließe.
Ein Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung Kermanis war zweifelsfrei seine Ansprache im deutschen Bundestag zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes im Mai 2014. Statt eine plattitüdenhafte Lobesrede auf die deutsche Demokratie zu halten, befasste sich Kermani mit der Schönheit der deutschen Sprache, die sich in einem Satz wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ wiederspiegele. Sein frischer Blick auf eine Schrift, welche den meisten Deutschen wohl längst selbstverständlich geworden ist, erhielt viel Lob, brachte Kermani damit doch auch die Schönheit in ein Land zurück, das ob des hässlichen Kapitels in seiner Historie manchmal in Scham versunken scheint.
Diese Rede von jemandem zu hören, dessen Familienwurzeln in den Iran zurückreichen, zeigte vielen in Deutschland etwas über die Realität und gerade auch die Schönheit des neuen deutschen Pluralismus. Navid Kermani kam als vierter Sohn einer iranischen Ärztefamilie in Siegen zur Welt. Während des Studiums der Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaften schrieb er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und verfasste eine Doktorarbeit über die Ästhetik des Korans, erschienen als Buch unter dem Titel „Gott ist schön“. Kermani verkörpert Verwurzelung im bodenständigen Siegerland und in seiner Wahlheimat Köln, also etwas „Urdeutsches“, ist dabei aber überzeugter Muslim und lebt gleichzeitig eine Weltläufigkeit, die von Europa über den Orient bis weit nach Asien hinein reicht.
Übersetzer zwischen den Kulturen
Dieser kulturübergreifende Blick macht Kermani zum idealen Übersetzer zwischen den Kulturen und zu einem Brückenbauer, dem viele in der Bundesrepublik bereit sind zuzuhören. Dass er nicht vom Elfenbeinturm spricht, sondern wie für sein Buch „Entlang den Gräben“ dorthin reist, wo es köchelt und kocht, macht ihn umso glaubwürdiger.
Kermani ist auch einer von wenigen Intellektuellen, die sich immer wieder direkt auf Gott beziehen, was bei ihm zu originellen Verbindungen führt: In seinem 2002 erschienenen Debütroman „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ etwa zieht Kermani Parallelen zwischen der Rezitation von Koransuren und den Liedtexten des kanadischen Rockstars Neil Young. Kermanis Verbindung zur Heimat seiner Eltern schlägt sich in vielen seiner Bücher nieder, etwa in den häufigen Referenzen zur persischen Sufi-Dichtung, die Kermani mühelos Werken der deutschen Dichter gegenüberstellt, wie in seinem 2016 erschienenen Buch „Koran und Kafka“.
Seine Preisrede in Köln im letzten November, die eine Vielfalt von Themen berührte, zeigte einem breiten Publikum: Kermani denkt zwar in großen Zusammenhängen, aber verliert dabei nicht den Blick für das Essentielle im Menschen. Er pocht auf das Grundlegende, das wirklich Wichtige im menschlichen Leben, etwa wenn er von seinem sterbenden Vater spricht oder sich fragt, wie Politiker Privates mit dem Berufsgeschäft balancieren. Damit ist Kermani im polarisierten Diskurs von heute ein Glücksfall für Deutschland.