Luxemburg hat die Schlacht um das Amazon-Ruling gewonnen. Doch im Konflikt um die Steuereinnahmen von Konzernen droht eine Niederlage. Entgegen der Devise der Politik wächst die Abhängigkeit von Briefkastenfirmen, die dem Staat Milliarden einbringen. 

Drei Schlagzeilen zeigten vergangene Woche die Absurdität des internationalen Steuersystems: Amazon-Gründer Jeff Bezos lässt sich eine Yacht im Wert von 500 Millionen US-Dollar bauen. EU-Richter urteilten, dass der US-Konzern Amazon Luxemburg nicht 250 Millionen Euro an Steuern nachzahlen muss, wie es die Europäische Kommission verlangte. Für Aufregung sorgte schließlich, dass „Amazon EU“ mit Sitz in Luxemburg, 2020 zwar knapp 44 Milliarden Euro Umsatz, aber letztlich einen Verlust von 1,2 Milliarden Euro machte. Und damit eine Steuergutschrift des Luxemburger Staates von 56 Millionen Euro verzeichnet, wie die „Taz“ zuerst berichtete.

Die Essenz dieser News ist klar: Die Digitalkonzerne sind extrem profitabel, doch die Staaten scheitern daran, deren Gewinne gerecht zu besteuern. Von den USA über die OECD bis hin zur EU ist dabei den Akteuren klar, dass es ein grundlegendes Umdenken braucht. Sowohl die Vorschläge der neuen US-Regierung unter Präsident Joe Biden als auch der neue Anlauf der Europäischen Kommission für eine Steuerharmonisierung sehen vor, dass die Besteuerung an die tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit der Konzerne gebunden werden soll.

Luxemburg hat dabei viel zu verlieren: Weder die Kunden, noch die meisten Mitarbeiter oder die Wertschöpfung sind hierzulande zu verorten. Entsprechend wenig könnte der Staat künftig von den Gewinnen abzweigen. Blau-Rot-Grün setzt dennoch auf das Prinzip Hoffnung.

Fehlende Vergangenheitsbewältigung

Mit einer gewissen Nonchalance kommentierte Finanzminister Pierre Gramegna (DP) im RTL-Interview, dass Luxemburg sein Image als Steuerparadies in den vergangenen Jahren durchaus verdient habe. Aber das Urteil der EU-Richter vom Kirchberg habe auch gezeigt, dass „das, was gemacht wurde, legal war“. Will heißen: Das, was Luxemburg seinen Ruf als Steuerparadies einbrachte, soll gar nicht so anrüchig gewesen sein.

Das ist allerdings eine erstaunliche Lesart des Urteils des EU-Gerichts. Denn die Richter kommen zwar zum Schluss, dass die EU-Kommission nicht habe nachweisen können, dass Luxemburg einen unfairen Steuervorteil gewährt habe. Das hat jedoch vor allem mit den Fehlern in der Analyse der Europäischen Kommission zu tun. Die Richter betonen, dass es ihre Aufgabe sei, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Kommission zu untersuchen und nicht die Details des strittigen Luxemburger Steuerrulings. Sie kommen zum Schluss: „Die Kommission hat die Existenz eines Steuervorteils nicht bewiesen, sondern allenfalls die wahrscheinliche Existenz eines Vorteils.“ Im Strafrecht würde das bedeuten: Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen.

Dazu passt auch: Die Anwälte des Luxemburger Staates haben die Analyse der Kommission im Prozess zerpflückt und auf viele Ungereimtheiten hingewiesen. Doch eine solche, tiefgehende Analyse fand 2003 nicht statt, als die Luxemburger Steuerverwaltung dem Unternehmen Amazon in einem Ruling dessen komplexe Steuergestaltung genehmigte – sage und schreibe zwei Wochen nach dem Antrag des US-Konzerns.

Zudem wurde das Ruling 2010 verlängert, obwohl die grundlegende Arbeitsweise des Onlinehändlers sich durchaus verändert hatte. Das Arrangement lief bis 2014, als Amazon selbst entschied, seine Struktur zu ändern. Als die Europäische Kommission im selben Jahr begann, die Steuergestaltung Amazons zu prüfen, brauchte die Luxemburger Regierung wiederum Monate, um den Inhalt des entsprechenden Steuervorbescheids halbwegs begründen zu können. Schließlich überließ Luxemburg es Amazon, die Details mit Brüssel zu klären.

Über- und unterschätzte Urteile

Deutlich kleinlauter kommentierte der Finanzminister das ebenfalls vor einer Woche ergangene Urteil des EU-Gerichts, dass Luxemburg dem französischen Energiekonzern Engie einen illegalen Steuervorteil gewährt habe. Die Richter erteilen Luxemburg regelrecht eine Ohrfeige: Die Steuerverwaltung habe das nationale Recht missachtet und im Steuerruling einen „abus de droit“ genehmigt. Anders als im Fall Amazon lief diese bevorzugte Behandlung noch bis 2015 – also deutlich in die erste Amtszeit von Blau-Rot-Grün und dem zuständigen Minister Pierre Gramegna hinein.

Dem liberalen Finanzminister kann man zwar zugutehalten, dass er die gröbsten Lücken des Luxemburger Steuersystems geschlossen hat. Die Rulings aus der Zeit der Steuervorteile für Amazon und Engie sind heute nicht mehr gültig. Pierre Gramegna betont also zu Recht, dass das, was die Kommission beanstandet hat, heute so nicht mehr möglich sei. Es bleibt jedoch die Frage, ob diese Kehrtwende ohne die Staatshilfe-Verfahren der Europäischen Kommission und den Luxleaks-Skandal passiert wäre.

Innerhalb der EU schwelt seit Jahren ein zäher Konflikt um mehr internationale Steuergerechtigkeit: Finanzminister Pierre Gramegna (r.) mit EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni Anfang 2020. (Foto: European Union)

Das Amazon-Urteil ist in diesem Sinne eine strategische Niederlage für die Europäische Kommission. Die Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat die vergangenen sieben Jahre die Agenda bestimmt. Ob Staatshilfeverfahren das richtige Mittel waren, um mehr internationale Steuergerechtigkeit zu erreichen, ist umstritten. Die Kommission lässt indes noch offen, ob sie gegen das Urteil in Berufung geht.

Doch auch Gerichte dämmen die Möglichkeiten der Steuervermeidung deutlich ein. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) von 2019 bekam in Luxemburg zwar wenig Aufmerksamkeit, könnte aber größere Auswirkungen haben als das Amazon-Urteil. Der Grund: Die dänische Steuerverwaltung verwehrte Luxemburger Gesellschaften die Steuerbefreiung von Dividenden, wie sie im Prinzip laut der Richtlinie über Mutter- und Tochtergesellschaften innerhalb der EU gilt.

Das Argument der dänischen Behörden: Es handele sich um Briefkastenfirmen ohne Substanz, die als reiner Kanal („conduit“) zwischen Dänemark und US-Investmentfonds dienen würden. Der EuGH urteilte, dass die Steuerbefreiung im Fall von Missbrauch aufgehoben werden könne. Ein hohes dänisches Gericht teilte diese Analyse Anfang Mai in diesem Fall. Die US-Fonds müssen Millionen Euro an Steuern nachzahlen.

Wachsende Abhängigkeit

Oft handelt es sich bei den Briefkastengesellschaften um „Sociétés de participations financières“, sogenannte Soparfis. Für Luxemburg ist es ein zunehmend wichtiger Wirtschaftszweig angesichts des an Bedeutung verlierenden Bankenstandorts. Neue Daten, die die Steuerverwaltung dem Parlament vorstellte, deuten eine Trendwende an. Während bis 2018 die Soparfis und die Banken jeweils etwa ein Drittel der Einnahmen der Unternehmensbesteuerung beitrugen, stieg seit 2019 die Bedeutung der Beteiligungsgesellschaften bei der Körperschaftsteuer („Impôt sur le revenu des collectivités“, IRC) wesentlich an. Die Soparfis zahlten 585 Millionen Euro an IRC, die Banken dagegen 492 Millionen Euro. Die Soparfis zahlten 2020 jeweils 35 Prozent der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer.

Viel mehr ist über die Größe und Bedeutung dieser Soparfi-Galaxie für die Luxemburger Wirtschaft allerdings nicht bekannt. Die „Openlux“-Recherche (LINK) stieß auf 55.000 Gesellschaften mit einem Vermögen von insgesamt 6.500 Milliarden Euro. Das Problem ist, dass es sich um eine sehr heterogene Branche handelt. Die Steuerverwaltung könne in ihrer Statistik nicht zwischen „klassischen“ Beteiligungsgesellschaften und den Hauptsitzen von Konzernen („sociétés figurant comme tête de groupe“) unterscheiden. Letztere seien deutlich weniger mobil, meinte Pascale Toussing im vergangenen März gegenüber den Abgeordneten der Finanzkommission.

Viele Milliarden Umsatz, aber nur wenig anfallende Steuern: Amazon ist nur ein Beispiel für die Steuervermeidung von Konzernen und das wesentlich darauf beruhende Luxemburger Geschäftsmodell. (Foto: Eric Broder Van Dyke/Shutterstock.com)

Einerseits hängen die Einnahmen des Luxemburger Staates von einigen wenigen Banken und Konzernen ab, die oft Hunderte, wenn nicht Tausende von Mitarbeitern in Luxemburg beschäftigen. Andererseits aber auch von Zehntausenden Beteiligungsgesellschaften mit minimaler wirtschaftlicher Substanz. Man spricht von Briefkastenfirmen, weil sie in vielen Fällen kaum mehr als eine Adresse in Luxemburg haben. Diese Firmen zahlen zwar oft nur geringe Beträge an Steuern, aber durch ihre Anzahl schaffen sie eine beträchtliche Masse an Einnahmen für den Staat.

Die Steuereinnahmen hängen dennoch von einigen wenigen Unternehmen ab. Drei Viertel der Einnahmen der Körperschaftsteuer stammten 2020 von 0,81 Prozent der Firmen. 0,04 Prozent zahlten ein Viertel der Körperschaftsteuer. Drei Firmen zahlten jeweils mehr als 40 Millionen Euro Steuern. 309 Unternehmen zahlten jeweils mehr als eine Million Euro an Körperschaftsteuer. Aus welchen Branchen diese stammen, schlüsselt die Steuerverwaltung nicht auf.

Neue Offensive aus Brüssel

Am Dienstag präsentierte die EU-Kommission eine neue Agenda für die Unternehmensbesteuerung. Diese Strategie könnte für Luxemburg folgenreich sein. Brüssel will seine Pläne zur Steuerharmonisierung bei Konzernen neu ausrichten. Aus  der „Common Consolidated Corporate Tax Base“ (CCCTB) wird „Business in Europe: Framework für Income Taxation“ (Befit). Der Bedarf für mehr Steuereinnahmen infolge der Pandemie und der Vorstoß der US-Regierung für eine weltweite Einigung in Sachen Steuergerechtigkeit, erhöhten die Erfolgschancen. „Es ist jetzt oder nie“, formulierte es Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.

Das Problem aus Luxemburger Sicht bleibt dabei das gleiche wie bei CCCTB: Welcher Staat welchen Anteil besteuern darf und soll, hängt in diesen Plänen etwa von der Kundenzahl und den angestellten Mitarbeitern ab. Große Länder haben in diesem Szenario einen klaren Vorteil. Zu den Folgen dieser EU-Steuerharmonisierung befragt, sagte die Direktorin der Steuerverwaltung dem Parlament, dass die potentiellen Verluste nicht mit Sicherheit eingeschätzt werden könnten, solange die EU-Pläne nicht konkret vorliegen. Brüssel nennt nun 2023 als neues Stichdatum.

Zusätzlich will die Europäische Kommission gegen den „Missbrauch“ von Briefkastengesellschaften vorgehen. Das gilt vor allem für Firmen „ohne realwirtschaftliche Substanz“. Darunter könnten Zehntausende Luxemburger Gesellschaften fallen. Sogenannte „shell companies“ müssten Steuerbehörden laut den Plänen Eckdaten zu ihrer „Substanz“ liefern.

(Noch) keine Anzeichen für Flucht

In der Vorbereitung der Debatte über eine Reform des Steuersystems diskutierte die Finanz- und Budgetkommission des Parlaments auch über diese Abhängigkeit. Die Abgeordneten André Bauler (DP) und François Benoy (Déi Gréng) zeigten sich dem Debattenprotokoll nach besorgt über mögliche Einbrüche bei den Einnahmen des Staates, falls Soparfis durch Steuerharmonisierung weniger Steuern zahlen oder das Land verlassen würden.

Die von den Mehrheitsvertretern geäußerte Sorge ist natürlich nicht ganz neu. Die Steuerdirektorin Pascale Toussing betonte ihrerseits, dass sie über keine Informationen verfüge, die auf eine massive Delokalisierung von Soparfis ins Ausland und einen entsprechenden Rückgang der Steuereinnahmen in den kommenden Jahren hindeuten.

Finanzminister Pierre Gramegna bemüht ebenfalls schon seit Jahren das Prinzip Hoffnung. 2013 hätten manche das Ende des Steuergeheimnisses mit dem Ende des Finanzplatzes gleichgesetzt. Heute gehe es der Branche aber nach wie vor gut. Ob Luxemburg allerdings ein zweites Wunder gelingt, ist angesichts der neuen Dynamik auf internationaler Ebene fraglich.


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