Intersex-Kinder tragen weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale an sich. Deshalb werden sie oft vorschnell operativ dem einen oder anderen Geschlecht angepasst. Diese Praktiken werden seit Jahren scharf kritisiert. Die Ärzte wehren sich jetzt gegen die Vorwürfe.
„Wir hören genau, was Patientenvertretungen sagen“, sagt Dr. Michael Witsch, Kinderarzt im Centre Hospitalier Luxembourg (CHL). Er verstehe, dass das Thema sensibel und emotional sei. „Es ist aber falsch, Ärzte so darzustellen, als seien sie Verbrecher.“
Er und seine Kollegin Dr. Marianne Becker sprechen über das Thema Intergeschlechlichkeit. Es geht konkret um Genitaloperationen an Intersex-Kindern und -Säuglingen. Gemeint sind Kinder, die mit Merkmalen des weiblichen und männlichen Geschlechts geboren werden. Sie sind weder weiblich noch männlich – oder beides. Oft wird ihnen im frühen Kindesalter bereits operativ ein Geschlecht zugeteilt. Ein scheinbarer Fehler der Natur soll so quasi wegradiert werden.
Wie viele solcher Fälle im CHL behandelt werden? Das geben Dr. Witsch und Dr. Becker nicht preis. Nur so viel: „Die letzte OP wird etwa zwei Jahre zurückliegen“, schätzt Witsch.
Die Situation war vor 30 oder 40 Jahren noch eine andere. Intersex-Menschen haben Schreckliches erlebt. Es ist absolut verständlich, dass sie traumatisiert sind.“Dr. Michael Witsch
Veraltete Vorwürfe
Operationen an Intersex-Kindern stehen seit Jahren in der Kritik. Ärzte würden bei den Kleinen Schicksal spielen, schnell operieren, statt abzuwarten, die Genitalbereiche durch die Eingriffe verstümmeln, statt mit den Operationen zu helfen. Diese Kritik wollen Witsch und Becker so nicht stehenlassen. Vor allem deshalb nicht, weil sie nichts mit ihrer eigenen Arbeit zu tun habe und ihrer Meinung nach nicht mehr aktuell ist.
„Die Situation war vor 30 oder 40 Jahren noch eine andere. Intersex-Menschen haben Schreckliches erlebt. Es ist absolut verständlich, dass sie traumatisiert sind“, sagt Dr. Witsch. Tatsächlich war die Welt damals eine andere und vor allem konservativer. Mädchen wurden als Mädchen erzogen, Jungen als Jungen. Für Intersex-Kinder gab es in der Gesellschaft keinen Platz, keine Toleranz. Also wurde operiert – und das Kind so dem einen oder anderen Geschlecht zugeordnet. In der Hoffnung, dass das „Problem“ damit gelöst ist.
Es ist aber auch heute noch so, dass solche Operationen an Säuglingen durchgeführt werden. Dr. Witsch argumentiert, dass der Druck bei Ärzten und Eltern heute aber kleiner sei. Auch, weil der Umgang mit dem Thema Intersex offener geworden ist. „Die Gesellschaft hat sich verändert und es gibt die Bereitschaft, Intersex zu akzeptieren.“
Politik nimmt sich Thema langsam aber sicher an
Doch ganz so offen ist dieser Umgang dann doch nicht. Das zeigt alleine der Fakt, dass es keine offiziellen Zahlen dazu gibt, ob und wie viele Intergeschlechtliche in Luxemburg leben. Und auch, dass die Politik sich dieses Themas jetzt erst annimmt, zeigt, dass noch Handlungsbedarf besteht.
Ein Verbot von solchen Operationen ist im Prinzip richtig. Die Frage ist aber, ob es in Luxemburg überhaupt notwendig ist.“Sam Tanson, Déi Gréng
Die Grünen und die DP haben ein Verbot von Genitaloperationen an Säuglingen in ihren Wahlprogrammen verankert. „Neugeborene dürfen nicht operiert werden, wenn es aus gesundheitlichen Gründen nicht wirklich notwendig ist“, sagte Familienministerin Corinne Cahen (DP) vor einigen Wochen im Gespräch mit REPORTER.
Sam Tanson (Déi Gréng) spricht sich ebenfalls für ein solches Verbot aus. Sie ergänzt jedoch: „Ein Verbot von diesen Operationen ist im Prinzip richtig. Die Frage ist aber, ob es in Luxemburg überhaupt notwendig ist. Dafür müsste man erst einmal schauen, wie viele solcher Operationen hierzulande durchgeführt werden.“ Es bestehe also noch Nachholbedarf, bevor über ein Gesetz konkret nachgedacht werden kann.
Gesundheitsministerin Lydia Mutsch sieht eine Regelung bereits jetzt als schwierig an. Sie sagt, dass ein separates Spezialgesetz für Intersex-Menschen, zu „einer weiteren Stigmatisierung“ führen könnte. Außerdem könnte es Probleme bei der Umsetzung geben. Die meisten Kinder würden nicht in Luxemburg operiert, weshalb es schwer sei, einen Arzt strafrechtlich zu verfolgen, wenn er nicht hierzulande praktiziert. Sie plädiert deshalb eher für eine Richtlinie, die europaweit gilt.
Eine Operation kann vom Arzt technisch korrekt durchgeführt werden. Er stellt sich aber vielleicht nich die Frage, was dieser Eingriff für das Kind bedeutet und welche Folgen das haben kann.“ René Schlechter, Ombudsman
Ein erster kleiner Schritt damit Intersex- und Transgender-Menschen mehr Rechte bekommen, wird aber jetzt gemacht. Am Mittwoch wird im Parlament über ein Gesetz entschieden, das ihnen künftig ermöglicht, Geschlecht und Namen einfacher im Personenstandsregister zu ändern. Anders als bisher, braucht es dann kein ärztliches Attest oder psychiatrisches Gutachten mehr. Auch eine Sterilisation oder andere medizinische Behandlungen sind keine Voraussetzungen mehr. Allein diese Änderungen könnten den Druck nehmen, Betroffene operieren zu müssen.
Fremdbestimmung nur schwer zu ertragen
„Es sollte keine Eingriffe an gesunden Körpern geben, nur um Kategorisierungen vornehmen zu können“, sagt auch Christel Baltes-Löhr. Sie ist Geschlechterforscherin an der Universität Luxemburg und Mitglied des Ethikrates. Eltern würden den Eingriffen der Ärzte oft zustimmen, weil sie „uninformiert“ seien. Dabei bestehe meist gar keine „gesundheitliche Not“ bei den Säuglingen. Damit diese Eingriffe aufhören, pocht auch sie auf eine Gesetzgebung für Intersex-Kinder.
Der Nationale Ethikrat weist zudem in einem Gutachten darauf hin, dass eine binäre Geschlechteraufteilung „gegen die Grundrechte“ von Intersex-Menschen verstoße. Sogenannte „Normalisierungs“-Eingriffe würden ohne ihr Einverständnis vorgenommen – und ihre Körper im schlimmsten Fall verstümmelt.
René Schlechter, Ombudsman für Kinderrechte, spricht sich ebenfalls für eine gesetzliche Regelung für Eingriffe aus. Auch er sagt, dass dabei aber zwischen rein kosmetischen Eingriffen und medizinisch notwendigen Operationen unterschieden werden muss. „Ich habe im vergangenen Jahr an zwei Konferenzen teilgenommen, bei denen auch Intersex-Menschen zu Wort kamen. Und es wurde nachvollziehbar, dass diejenigen, die als Kind in Ruhe gelassen worden sind, besser mit ihrer Lage zurechtkommen“, sagt er.
Die Fremdbestimmung durch Ärzte und Eltern sei für die Betroffenen nur schwer zu ertragen. Auch wenn Operationen gut verlaufen, bedeute das nicht, das dem Kind damit geholfen sei. „Eine Operation kann vom Arzt technisch korrekt durchgeführt werden. Er stellt sich aber vielleicht nicht die Frage, was dieser Eingriff für das Kind bedeutet und welche Folgen das haben kann“, so Schlechter.
Ethikkomitee als Lösung?
Witsch und Becker argumentieren genau anders herum. Wenn man den Patienten selbst die Entscheidung lasse, bedeute das nicht automatisch, dass damit ihre Probleme gelöst seien. „Man will nicht sehen, dass es auch ein Leidensweg für Kinder sein kann, wenn sie nicht wissen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind“, so Witsch. Natürlich könne man mit geschlechtszuweisenden Operationen auch bis ins Teenager-Alter warten und die Jugendlichen selbst entscheiden lassen. Allerdings nur, wenn sie so lange mit ihrer Intergeschlechtlichkeit psychisch zurecht kommen.
Früher schlug das Pendel in die Richtung aus, dass alles operiert werden musste. Heute soll es in die Richtung gehen, dass man nichts mehr operiert.“Dr. Marianne Becker
Auch die beiden Ärzte könnten sich aber mit einer gesetzlichen Regelung für Eingriffe an Intersex-Kindern anfreunden. „Sinnvoll wäre es, ein multidiziplinäres Team oder ein Ethikkommitee zusammenzustellen, das über die einzelnen Fälle berät und entscheidet“, so Dr. Witsch. Ein solcher Rat könnte ihrer Meinung nach aus Kinderärzten, Psychologen, Chirurgen und Patientenvertretern bestehen. „Die Entscheidung sollte nicht nur ein Chirurg alleine fällen.“ Das sei im CHL aber ohnehin nicht der Fall. Dort würden die Patienten bereits jetzt von den Kinderärzten, Psychologen und Chirurgen betreut – sowohl vor dem Eingriff, als auch noch Jahre danach.
Witsch und Becker sind allerdings gegen ein komplettes Behandlungsverbot an Säuglingen und Kindern. „Früher schlug das Pendel in die Richtung aus, dass alles operiert werden musste. Heute soll es in die Richtung gehen, dass man nichts mehr operiert“, so Dr. Becker. „Man muss immer die Möglichkeit haben, um abzuwägen, was medizinisch notwendig ist. Alle anderen Operationen kann man gegebenenfalls auch später machen – oder gar nicht“, ergänzt Dr. Witsch. Was notwendig ist und was nicht, gerade darüber gehen die Meinungen aber weit auseinander.

Tatsächlich können manche Syndrome lebensgefährlich für die Säuglinge sein. Das adrenogenitale Syndrom beispielsweise, bei dem die Nebennierenrinde manche Hormone gar nicht, oder andere in großen Mengen produziert. Der Hormonmangel kann lebensgefährlich sein, aber medikamentös behandelt werden. Ein Hormonüberschuss sorgt allerdings für eine Vermännlichung des Genitals. Die chirurgischen Eingriffe bei diesen Kindern sorgen immer wieder für Proteste von Aktivisten.
Wenn Eltern mit dem Schicksal des Kindes hadern
Die Ärzte hingegen suchen die Verantwortung für die Operationen nicht nur bei sich selbst – sondern auch bei den Eltern. Mit einem Verbot steige das Risiko, dass Eltern ihre Kinder eventuell im Ausland operieren lassen, sagt Dr. Witsch. Dass das dann die bessere Option sei, glaubt er nicht.
Obwohl die Gesellschaft offener geworden ist, hadern nämlich immer noch Eltern mit dem Schicksal ihres Intersex-Kindes. Auch das sei ein Grund, warum behandelt wird, sagt Dr. Witsch. „Nicht jede Familie kommt damit zurecht, dass ihr Kind ein Intersex-Kind ist. Wenn die Eltern ihr Kind ablehnen, weil es weder Junge noch Mädchen ist, wird es darunter leiden.“
Man soll uns nicht mit einer Situation vergleichen, die heute gar nicht mehr existiert.“Dr. Michael Witsch
Auf der anderen Seite sagen sie, dass manche Eltern mittlerweile sehr offen mit dem Schicksal ihrer Intersex-Kinder umgehen würden. In solchen Fällen überlassen Eltern den Kleinen später selbst die Entscheidung, ob sie sich operieren lassen wollen – oder nicht. Es bleibt der Wille der Kinder, ihre eigene Entscheidung.
Und genau das wird Ärzten und Eltern vorgeworfen: Den Kindern wird von oben herab ein Geschlecht zugewiesen. Was sie aber selbst wollen, lässt sich unmöglich vorhersagen – sodass sie später mit einer Entscheidung leben müssen, die für sie gefällt wurde.
Dr. Witsch und Dr. Becker sagen, Ärzte würden sich durch die Anschuldigungen in die Ecke gedrängt fühlen. Auch, weil sie für etwas verantwortlich gemacht werden, mit dem sie gegebenenfalls gar nichts zu tun haben. „Man soll uns nicht mit einer Situation vergleichen, die heute gar nicht mehr existiert“, sagt Dr. Witsch.
Es würde längst nicht mehr schnell drauf los operiert werden und betroffene Familien würden die nötige Betreuung und Beratung bekommen. Dass das früher anders war, will er nicht abstreiten. „Aber haben die Vorwürfe noch Aktualität?“, fragt er. „Heute geht es nicht mehr um die Frage, was wir medizinisch machen können. Sondern darum, was für unsere Patienten gut ist.“
Update: In der letzten Chamberwoche vor der Sommerpause wurde der in diesem Artikel erwähnte Gesetzentwurf 7146 mit 57 Ja-Stimmen angenommen. Die ADR stimmte als einzige Partei gegen den Gesetzentwurf, der es Intersex- und Transgender-Menschen künftig ermöglicht, Geschlecht und Namen einfacher im Personenstandsregister zu ändern. Dies soll künftig anhand einer administrativen Prozedur möglich sein – ein ärztliches Attest, ein psychiatrisches Gutachten mehr sowie medizinische Behandlungen und Operationen vor der offiziellen Anerkennung des Geschlechts sind keine Voraussetzungen mehr.