Luxemburg investierte in den vergangenen Jahren Millionen in den Bau von Flüchtlingsheimen. Und doch sind die Kapazitäten überlastet. Wie kann das sein? Anhand konkreter Beispiele hat Reporter.lu ermittelt, welche Fehlplanungen es gab.
Ausnahmsweise sollte alles sehr schnell gehen. Anfang März wurde die Bürgermeisterin von Contern per Telefon darüber informiert, dass innerhalb von 48 Stunden 500 Ukrainer in ihre Gemeinde ziehen würden. Sie würden in einer Halle in einer örtlichen Industriezone untergebracht. Das war an einem Donnerstag. Am Telefon erklärte ihr ein Mitarbeiter des „Office national d’accueil“ (ONA), dass die nötigen Umbauarbeiten am Freitag fertiggestellt würden – am Samstag schon sollten die ersten Menschen einziehen. Der Plan stehe nicht zur Diskussion. Das ONA kümmere sich um alles, hieß es. Minuten nachdem Marion Zovilé-Braquet (CSV) auflegte, klingelte ihr Telefon erneut. Der Mitarbeiter habe sich geirrt. In der Halle würden keine 500, sondern 1.000 Menschen unterkommen.
Anhand dieses Beispiels wird die Dringlichkeit für neue Flüchtlingsunterkünfte in Luxemburg deutlich. Denn ukrainische Geflüchtete werden seit Monaten in temporären Einrichtungen beherbergt – in den permanenten Flüchtlingsunterkünften ist für sie nicht genügend Platz. In mehreren der 55 dauerhaften Unterkünfte kann heute kein einziges Bett mehr zusätzlich belegt werden. Die durchschnittliche Belegungsrate von 96 Prozent beschrieb Außenminister Jean Asselborn (LSAP) im Juli als „erschreckend hoch“.
Problematisch ist dies insbesondere, weil im Juli 3.020 der rund 4.500 ukrainischen Geflüchteten bei Familien beherbergt waren, viele von ihnen dort aber nicht dauerhaft bleiben können. Viele Gastfamilien würden an ihre Grenzen stoßen, erklärte Jean Asselborn. Wie viele dieser rund 3.000 Menschen in den kommenden Monaten eine Unterkunft vom Staat brauchen könnten, ist ungewiss. Wie das zuständige Ministerium gegenüber Reporter.lu bestätigte, gab es in den Notunterkünften nur noch 637 verfügbare Betten (Stand Mitte Juli).
Zahl der Betten sank
„Luxemburg hätte auf die Ankunft zusätzlicher Menschen vorbereitet sein können“, sagt Christof Müller, der als Direktionsbeauftragter bei der „Croix-Rouge“ für die Betreuung von Geflüchteten verantwortlich ist. Das Rote Kreuz und die Caritas verwalten heute 28 der 55 Flüchtlingsunterkünfte im Großherzogtum.
Anerkannte Flüchtlinge müssen sich auch selbst anstrengen, um eine Arbeit und eine eigene Wohnung zu finden.“Außenminister Jean Asselborn
Grundsätzlich stimmt: Es gab zahlreiche Anstrengungen, um einen Engpass zu vermeiden. Laut Angaben des ONA wurden zwischen 2018 und Mitte Juli dieses Jahres 15 Strukturen eröffnet, die nicht als Notunterkünfte gelten und 988 zusätzliche Betten zählen. Doch wurden im selben Zeitraum ebenfalls 27 Unterkünfte mit 1.199 Betten geschlossen.
Schließen mussten diese meist, weil Mietverträge ausliefen oder dringende Renovierungsarbeiten anstanden. Politiker und Medien hatten in den vergangenen Jahren vermehrt die teils „nicht menschenwürdigen Lebensbedingungen“ in veralteten und sanitär schlecht ausgestatteten Heimen bemängelt. „Das ONA hat nie eine Unterkunft verfrüht geschlossen“, versichert ein Sprecher gegenüber Reporter.lu.
Trotz der Bemühungen, zusätzliche Unterkünfte zu schaffen, gibt es noch immer weniger Betten als 2015. Es bleibt aber schwierig, die Lage genau zu beschreiben. Denn es gibt markante Unterschiede in der genauen Bettenzahl, die Reporter.lu vom ONA und vom Außenministerium übermittelt wurde. Diese Angaben stimmen zudem nicht mit jenen überein, die im jährlichen „Bilan en matière d’asile, d’immigration et d’accueil“ des Außenministeriums genannt wurden (siehe Kasten).
Wirrwarr von Zahlen
Anhand dieser Grafik wird ersichtlich, dass die genaue Anzahl von Betten, die mit der Eröffnung und Schließung einzelner Heime variiert, schwer zu ermitteln ist. 2021 wurden laut Daten des ONA fünf Einrichtungen geschlossen, was einem Verlust von 143 Betten entspricht. Im selben Jahr spricht das Außenministerium allerdings von der Schließung von vier Zentren und einem Verlust von 508 Betten. Trotz nicht übereinstimmender Zahlen geht klar hervor: Lag die Anzahl der Betten 2015 noch bei 4.557, liegt sie aktuell bei 4.471. Der Staat hat seit 2018 mehr Unterkünfte geschlossen als eröffnet. Bis Ende 2022 sollen laut Außenministerium 602 Betten hinzukommen, laut dem ONA 646. 2023 sollen denn auch wieder vier weitere Strukturen zumindest teilweise schließen und renoviert werden.
Kurzfristige Planung
Christof Müller vom Luxemburger Roten Kreuz bringt es folgendermaßen auf den Punkt: "Angesichts der vorhersehbaren Schließungen wurde nicht genug auf lange Sicht gearbeitet." Nach der Überforderung infolge der Immigrationskrise von 2015 hatten sowohl Jean Asselborn als auch die Ministerin für Familie und Integration, Corinne Cahen (DP), versichert, dass man unbedingt besser vorbereitet sein und ausreichend neue Heime bauen wolle. Dabei hatten sie immer wieder an die Gemeinden appelliert, weil diese nicht ausreichend Gebäude oder Grundstücke zur Verfügung stellen würden. Aus 3.228 Geflüchteten von 2015 wurden dieses Jahr 3.832. Hinzu kommen 4.500 ukrainische Schutzsuchende.
Neueröffnungen werden zwar angekündigt, potenzielle Verspätungen der Bauarbeiten aber nicht eingeplant. Mehrere Projekte wurden gekippt. So wird auch heute weiterhin kurzfristig reagiert.
Noch nie eröffnete der Staat so viele provisorische Unterkünfte wie 2022. Insgesamt verwaltet das ONA mittlerweile 16 neue Unterkünfte. Die Halle in Contern gehört nicht dazu. Denn als die Bürgermeisterin Marion Zovilé-Braquet im März in das Industriegebiet fuhr, stellte sie fest: „Es war bloß eine Halle aus Beton.“ Es gab weder Fenster noch Notausgänge. „Mir wurde schnell klar, dass das nicht rechtzeitig fertig sein würde“, sagt sie heute. Doch es hieß, die Menschen auf der Flucht seien bereits unterwegs nach Contern.

Kurzerhand stellte die Gemeinde das Kulturzentrum in Moutfort für den 12. März bereit. 130 Leute kamen dort unter. Was als Übergangslösung für eine Woche gedacht war, musste letztlich fast drei Monate herhalten. Doch auch dann war die Halle in Contern nicht bezugsfertig - zwischenzeitlich sollte das Projekt gar auf Eis gelegt werden. Heute ist die Rede von einem Einzug im Jahr 2023. Für 500 Leute. Kostenpunkt: 7,5 Millionen Euro.
Die Halle in Contern gilt dabei als Jean Asselborns große Hoffnung, „um auch einmal eine kleine Reserve zu haben“, wie er es jüngst auf einer Pressekonferenz formulierte.
Problem des Provisoriums
Auch wenn sich für Ukrainer binnen vier Monaten 2.009 Betten in Notunterkünften fanden, verdeutlicht der Fall der "Luxexpo" in Kirchberg das Problem jedes Provisoriums. So stand etwa die dortige Halle 7 bloß bis April zur Verfügung, dann zogen die Geflüchteten im Anschluss in die Zelthalle in der Rue Tony Rollman. Diese muss wiederum ab dem 1. Oktober für die „Wanteraktioun“ bereitstehen. Dann sollen die Ukrainer in das „Bâtiment-T“ in Kirchberg nahe des Europäischen Gerichtshofs umziehen. Dieses Gebäude wird für diesen Herbst nach der Eröffnung eines zweiten Stockwerks von 156 auf 693 Betten ausgebaut. Ursprünglich sollte es 1.200 Personen aufnehmen.
Für mindestens zwei Jahre soll derweil das alte Gebäude des "Luxemburger Wort" in Gasperich genutzt werden. War im März noch die Rede von einer Aufnahme von 200 Flüchtlingen im Mai, soll die neue Unterkunft nach Renovierungsarbeiten nun im Laufe dieses Monats bereitstehen. Das leerstehende Bürogebäude verfügte weder über genügend sanitäre Anlagen noch über angemessene Zimmer.
Insgesamt sollen laut dem ONA für Schutzsuchende bis Jahresende 560 zusätzliche Betten in drei neuen Heimen zur Verfügung stehen und bestehende Unterkünfte um 86 Betten erweitert werden.
Anhaltende Verzögerungen
Generell sieht das Außenministerium den Hauptgrund des Platzmangels in anhaltenden Verzögerungen bei den Umbau- sowie Renovierungsarbeiten möglicher Flüchtlingsunterkünfte. Natürlich ist bekannt, dass es aufgrund des Ukrainekriegs zu einer Materialknappheit kommt. Doch es fällt auf, dass insbesondere bei der Fertigstellung oder Umgestaltung von Unterkünften in Luxemburg eine große Diskrepanz zwischen Planung und tatsächlicher Schlüsselübergabe herrscht. Die Verspätungen bei längerfristig geplanten Unterkünften lassen sich zudem nicht ausschließlich durch die Pandemie erklären.
Nachdem im Dezember 2017 das frühere Sanatorium in Weilerbach in der Ostgemeinde Berdorf schloss, wurde bereits vor der Pandemie entschieden, dass die Renovierungsarbeiten am „Centre Héliar“ nicht wie geplant Ende 2019, sondern erst Anfang 2021 abgeschlossen sein sollten. Doch auch knapp anderthalb Jahre nach dieser letzten Deadline sind die Arbeiten noch immer nicht abgeschlossen. Verspätungen seien normal und zu erwarten, "wie bei fast jedem Bauprojekt", erklärt Joé Nilles, Bürgermeister von Berdorf, im Gespräch mit Reporter.lu. Nach der Pandemie kam es konkret zu Lieferengpässen bei den Fenstern. Nun soll das erneuerte "Centre Héliar" voraussichtlich am 15. September öffnen.
Proteste gegen große Strukturen
Als ab August 2019 das Gebäude der "Education différenciée" (Ediff) in Monnerich nach und nach seine Türen schloss, war es der ursprüngliche Plan, die Bewohner in einer neuen Unterkunft, dem „Quai Neudorf“, in Esch/Alzette unterzubringen. Das seit 2016 geplante „Quai Neudorf“ sollte erst 300, dann nur noch 150 Leute beherbergen, um dann 2017 durch ein von einem Bürger eingeleitetes Gerichtsverfahren auf Eis gelegt zu werden. Mittlerweile wird das Ediff-Gebäude wieder als Isolationsstelle für Neuankömmlinge genutzt.
Es mangelt auch an politischem Willen."Christof Müller, Rotes Kreuz
Auch in der Fusionsgemeinde Clerf hatten einige Einwohner Bedenken. Als der Staat 2015 ein Grundstück des "RTL"-Sendezentrums in Marnach erwarb, stieß die Planung einer großen Unterkunft auch hier auf Protest. Die Maximalbelegung für das geplante Heim wurde aus diesem Grund von 300 auf die Hälfte reduziert, "aus Sorgen um eine mögliche Ghettoisierung". Sieben Jahre später liegt das Gelände weiterhin brach.
Zum Vorhaben wurde im Februar 2019 das Landesplanungsministerium folgendermaßen im "Luxemburger Wort" zitiert: "Da sich die Situation mittlerweile wieder beruhigt hat, wird zurzeit der Bedarf an Flüchtlingsunterkünften neu analysiert." Der Clerfer Bürgermeister Emile Eicher (CSV) hat aktuell keine Informationen zum Voranschreiten des Projekts, hat aber dem zuständigen Minister im Rahmen einer Unterredung ans Herz gelegt, kleinere Unterkünfte vorzusehen.
Gemeinden fordern Umdenken
Clerf und Esch/Alzette sind nur einige Beispiele, in denen die Bedenken der Einwohner dem Bau neuer Unterkünfte einst im Weg standen - und wo unklar bleibt, wieso diese Projekte trotz angepasster Größe bis heute noch nicht vorankamen. "Es mangelt auch an politischem Willen", sagt Christof Müller vom Roten Kreuz. Es sei die Angst, Wähler zu verlieren, sagt er.

In seiner Eigenschaft als Syvicol-Präsident verteidigt seinerseits Emile Eicher die Kommunen, die er vertritt. "Die Gemeinden brauchen administrativ mehr Unterstützung", fordert er. Er macht sich denn auch keine Illusionen, dass das Problem der mangelnden Unterkünfte dauerhaft behoben werden kann. "Momentan ist der Druck einfach zu hoch, um langfristige Projekte in Betracht ziehen zu können. Es ist ein Teufelskreis, dem man bereits seit Jahren hinterherrennt", meint er. Als Lösungsansatz sieht er eben eine Anpassung der Unterkunftsgröße.
Generell sei die Akzeptanz der Einwohner bei kleineren Unterkünften mit einer geringeren Bewohnerzahl größer. Dies würde auch die Arbeit der Gemeinden erheblich erleichtern, die sich regelmäßig um die Integration der Bürger und Plätze in Kinderbetreuungsstrukturen kümmern. Zudem wäre es angesichts des Baulandproblems realistischer anzugehen, betont Emile Eicher.
Eigenverantwortung verlangt
Doch durchkreuzt dies die Pläne des Immigrationsministeriums. Dieses ist seit einigen Jahren konkret auf der Suche nach Bauland mit einer Größe von mindestens zehn Hektar. Notwendig sei dies als Mindestfläche für Modulstrukturen aus Holz, die innerhalb von neun Monaten fertiggestellt werden könnten, heißt es in einem Rundschreiben des Außenministeriums an die Gemeinden.
Für Jean Asselborn und die Regierung ist klar, dass Luxemburg auch in Zukunft Kriegsflüchtlinge in Not aufnehmen sollte. Von einer gescheiterten Planung und mangelnder Voraussicht der Behörden will sein Ministerium nichts wissen. Wenn es heute nicht genug Betten gibt, liege das schlicht daran, „dass mehr Menschen einen neuen Asylantrag in Luxemburg stellen und einer Unterkunft bedürfen, als dass anerkannte Flüchtlinge die Unterkünfte verlassen.“
Tatsächlich ist es so, dass über 1.600 Geflüchtete inzwischen eine Miete zahlen, um weiterhin in jenen Heimen wohnen zu können, die eigentlich nur als Übergangslösung gedacht waren. Und diese Betten demnach nicht für neue Kriegsflüchtlinge frei werden. Eine Lösung für dieses Problem formulierte Jean Asselborn denn jüngst auch so: „Anerkannte Flüchtlinge müssen sich auch selbst anstrengen, um eine Arbeit und eine eigene Wohnung zu finden.“
