Wie konnten zwei Gemeindebeamte während 20 Jahren einen Millionenbetrag veruntreuen? Die Frage beschäftigte die vergangenen Tage das Gericht. Die Antworten der Befragten zeugten von einem jahrelangen Missmanagement in der Gemeinde Hesperingen.
„Das hier ist eine kleine Angelegenheit im Vergleich dazu, was sonst so getrieben wird“, sagte Claude G. vor dem Richter. Er ist der Hauptangeklagte im Prozess um die Veruntreuung von 5,2 Millionen Euro in der Gemeinde Hesperingen. Seine Aussagen vor Gericht hatten mit dem Tatbestand allerdings nur wenig zu tun. Claude G. referierte vielmehr über die fehlenden Kontrollmechanismen, die sein Handeln erst ermöglichten, und dass die künftigen Anpassungen der Kontrollen nichts taugen würden. Selbst wenn 100 Beamte sich darum kümmerten, würde dies nichts ändern, so der Angeklagte. Der Vorsitzende Richter unterbrach ihn daraufhin sichtlich genervt: „Herr G., wollen Sie für die kommenden Wahlen kandidieren?“
Diese Episode zeigt: Der Prozess um die Veruntreuung von öffentlichen Geldern nahm zum Teil kafkaeske Züge an. Im Gegensatz zum Angeklagten im Roman von Franz Kafka war Claude G. aber bewusst, für was er sich vor dem Richter verantworten musste. Fast 20 Jahre lang soll der mittlerweile Geständige Scheinrechnungen erstellt, Subventionen für die Gemeinde in die eigene Tasche gesteckt und Umbauarbeiten an seinen Immobilien der Gemeinde in Rechnung gestellt haben. Ab 2003 half ihm dabei sein Komplize Jean-Paul F. Dieser bezog zudem Jeannot D. in die Masche mit ein. Der lokale Unternehmer führte Arbeiten am Eigenheim von Jean-Paul F. durch und stellte der Gemeinde dafür einen fünfstelligen Betrag in Rechnung.
Die vielen Immobilien des Claude G.
An den vier Prozesstagen wurde vor allem eine Frage mehrmals gestellt: Wie konnte das so lange unbemerkt bleiben? Claude G. hatte gar nicht erst versucht, seinen luxuriösen Lebensstil zu verstecken. Laut dem Bericht der Kriminalpolizei soll er die ehemalige Bürgermeisterin Marie-Thérèse Gantenbein (CSV) sogar in seinem Bentley zu Terminen chauffiert haben. Er war zudem in Besitz eines großen Hauses mit Schwimmbad in Itzig, einer Ferienwohnung in Marokko, einem Boot, einem Aston Martin, einer Harley Davidson und weiteren Immobilien in Altwies, Esch/Alzette und im deutschen Traben-Trarbach, die er nach der Scheidung an seine Ex-Frau abtrat. Sein Jahreseinkommen schätzte der Staatsanwalt auf 300.000 Euro. „Davon wurden zwei Drittel illegal erworben“, so der Ankläger. Sein Komplize Jean-Paul F. war etwas bescheidener und soll die 850.000 Euro, die er vermutlich veruntreut hat, hauptsächlich für Reisen und Renovationsarbeiten am Eigenheim ausgegeben haben.
Wer an der Quelle sitzt, bedient sich.“Claude G., Angeklagter
Der extravagante Lebensstil von Claude G. fiel den Arbeitskollegen auch auf. Mit haarsträubenden Erklärungen konnte er die Herkunft des Reichtums allerdings verstecken. Demnach habe er gut am Verkauf von eigenen Kunstwerken verdient sowie an Erfindungen, für die er ein Patent besitze. Zudem habe er gewinnbringend in Aktien für einen Windpark in Deutschland investiert. Als Erklärung reichte das den Kollegen offenbar aus.
Innerhalb der Kommunalverwaltung war Claude G. bis 2010 für die Finanzen zuständig. Durch den Prozess wurde nun deutlich, dass bis dahin eine korrekte Verwaltung von Steuergeldern keine Priorität des damaligen von CSV und DP geführten Schöffenrats war.
Gemeindekasse als Selbstbedienungsladen
Kontrollmechanismen waren zu der Zeit quasi inexistent. Die Beamten der Finanzabteilung konnten frei über alle Budgetpunkte verfügen, Aufträge vergeben und Rechnungen attestieren. Alle Schritte konnten von einem einzelnen Beamten bearbeitet werden, nur die Unterschrift des Schöffenrats fehlte, bevor die Rechnung ausgezahlt wurde. Das System war demnach äußerst simpel auszutricksen. „Wer an der Quelle sitzt, bedient sich“, fasste der Hauptangeklagte seine Überlegungen vor Gericht zusammen.
Umso länger der Betrug anhielt, umso schwieriger wurde es, ihn aufzudecken.“Georges Pierret, Anwalt der Gemeinde
Neben dem Erstellen von Scheinrechnungen hat Claude G. auch Subventionen, die für die Gemeinde bestimmt waren, selbst kassiert. Dazu zählt etwa eine staatliche Unterstützung von 120.000 Euro für Reparaturarbeiten an einer Brücke. Diese landete auf dem Konto von „SICOH“, der Scheinfirma des Angeklagten. Der Name war dabei an das „Syndicat d’Initiative et de Tourisme de la Commune de Hesperange“ angelehnt. Claude G. war allein für die Beantragung von Subventionen zuständig. Über die Auszahlung der Beihilfen erkundigte sich von der Gemeinde sonst keiner. Da die Subventionen vor der Amtszeit des aktuellen Bürgermeisters Marc Lies (CSV) nie systematisch beantragt wurden, hatte niemand die Übersicht, was tatsächlich angefragt und was ausgezahlt wurde. So landeten auch die 120.000 Euro vom SICOH-Konto auf den Privatkonten von Claude G.
Des Weiteren fehlten bei Rechnungen TVA-Nummern, es wurden absurde Einkäufe getätigt und die Adresse einer der beiden Scheinfirmen entsprach dem Sitz des Verwaltungsgerichts in Kirchberg. „Wenn es besonders absurd ist, dann stellt niemand es infrage“, zitierte in diesem Zusammenhang der Anwalt von Jean-Paul F. aus einem Gespräch zwischen Claude G. und seinem Komplizen. Offenbar behielt er recht. Nachdem der Vorfall öffentlich wurde, beauftragte die Gemeinde die Auditfirma „PwC“, die Finanzen der Gemeinde zu untersuchen. In deren Bericht wurden weitere Schwachstellen festgestellt, über die Reporter.lu im Oktober berichtete. Inzwischen hat der Schöffenrat den Bericht auch veröffentlicht. Dies sei aufgrund der laufenden Untersuchungen zuvor nicht möglich gewesen.
Die mögliche Mitschuld der Gemeinde
Wegen der offensichtlichen Fehler bei der Verwaltung der kommunalen Finanzen forderten die Anwälte der beiden Hauptbeschuldigten eine geteilte Verantwortung zwischen der Gemeinde und den Angeklagten auf zivilrechtlicher Ebene. „Spätestens bei der Aufstellung des berichtigten Budgets hätte auffallen müssen, dass verschiedene Einnahmen, wie etwa Subventionen, nicht auftauchten“, sagte der Anwalt von Claude G., Marc Lentz. Eine vollständige Erstattung der veruntreuten Gelder sei demnach nicht gerechtfertigt, so der Verteidiger. Er forderte, dass nur die Hälfte der Summe zurückbehalten wird. Der Gemeinde würden damit rund 2,5 Millionen Euro zustehen.
Den Vorwurf wies Georges Pierret zurück. „Es konnte gar nicht herausgefunden werden. Umso länger der Betrug anhielt, umso schwieriger wurde es, ihn aufzudecken“, sagte der Anwalt der Gemeinde Hesperingen. Die Namen der beiden Scheinunternehmen seien in der Kommunalverwaltung bekannt gewesen, da man glaubte, schon lange mit den zwei Firmen zusammenzuarbeiten, also seien die Angaben auch nicht weiter überprüft worden, so Georges Pierret. Zudem müsse ein Schöffenrat vereidigten Beamten Vertrauen schenken, „sonst wäre der gesamte Staat funktionsunfähig“.
Aufgefallen waren Claude G. und Jean-Paul F. jedoch bereits zuvor. Nur die kriminelle Energie der beiden Angeklagten hat wohl niemand geahnt.
Dilettantische Beamte
Die Beamten arbeiteten seit 25 beziehungsweise 30 Jahren für die Gemeinde. In dieser Zeit waren sie mehrmals negativ aufgefallen. Beide litten unter Alkoholsucht und wurden deshalb mehrmals verwarnt, nachdem sie betrunken am Arbeitsplatz auftauchten. Auch gab es mehrere unbegründete Abwesenheiten. Das sei damals üblich gewesen, sagte Claude G. vor Gericht. Er habe mit dem mittlerweile verstorbenen Bürgermeister Alphonse Theis (CSV) auch mehrmals eine Flasche hochprozentigen Alkohol am Tag geleert. Dies wirkte sich auch auf die Arbeitsmoral der Beamten aus.

Bis 2010 war Claude G. gemeinsam mit dem damaligen Finanzschöffen Marc Lies für die Finanzen der Gemeinde zuständig. Als der CSV-Politiker zum Bürgermeister aufstieg, leitete er unverzüglich Reformen in der Finanzpolitik ein. Claude G. verlor seine Befugnisse, ein analytisches Budget wurde eingeführt und die Budgetpunkte auf einzelne Beamte je nach Themenbereich aufgeteilt. Der Grund dafür war Claude G.
Bereits vor vier Monaten hatte Marc Lies gegenüber Reporter.lu erklärt, der damalige Beamte habe sich nie an seine Vorgaben gehalten. Zudem wollte der Abgeordnete und Bürgermeister von Hesperingen bereits als Schöffe ein analytisches Budget einführen, aber Claude G. habe ihm gesagt, dies sei technisch nicht umsetzbar. „Als mir bewusst wurde, dass er dafür nicht über die nötigen Kompetenzen verfügte, habe ich beim Innenministerium angefragt, eine weitere Person einzustellen, um eine richtige Finanzabteilung in der Gemeinde zu gründen“, sagte Marc Lies am Rande des letzten Prozesstages im Gespräch mit Reporter.lu. Er nahm an, der Beamte sei der Aufgabe nicht gewachsen, jedoch nicht, dass der Angeklagte Gelder der Gemeinde veruntreuen würde.
Verwicklung von Unternehmen
Die rund 5,2 Millionen Euro konnten demnach auch zum überwiegenden Teil in den Jahren 2000 bis 2009 abgeschöpft werden. Nachdem Marc Lies Bürgermeister wurde, seien noch etwa 250.000 Euro aus der Gemeindekasse in die Hände der Angeklagten gelangt. „Im Schnitt waren das 2.000 Euro im Monat“, sagte Sébastien Coï, der zweite Anwalt der Gemeinde Hesperingen, und bezeichnete die Summe als „einen lächerlichen Betrag.“
Allerdings wurde 2013 während der Amtszeit von Marc Lies der dritte Angeklagte, Jeannot D., in die Masche einbezogen. Der lokale Unternehmer führte für Jean-Paul F. Arbeiten an dessen Haus durch. Da der Beamte zu dem Zeitpunkt knapp bei Kasse gewesen sein soll, habe er Jeannot D. gebeten, den offenen Betrag in Rechnungen an die Gemeinde zu verstecken. Laut seinem Geständnis vor Gericht tat Jeannot D. dies für einen Betrag von 15.000 Euro, weil er fürchtete, sonst keine Aufträge mehr von der Gemeinde zu erhalten. Damit stünde aber noch ein Betrag von 19.100 Euro offen. Im Prozess konnte nicht abschließend geklärt werden, ob dieser auch der Gemeinde in Rechnung gestellt wurde oder nicht.
Im Geständnis vor dem Regierungskommissar hatte Claude G. bereits 2019 ausgesagt, dass in den Anfangsjahren mehrere Unternehmer in die Masche verwickelt gewesen seien. Auf Nachfrage erklärte die Kriminalpolizei allerdings, dass sie dafür nicht ausreichend Hinweise finden konnte und es schwer gewesen sei, Tatbestände, die mehr als 20 Jahre zurückliegen, zu untersuchen. Die Anklageliste war ohnehin schon lang.
Hohe Gefängnisstrafen gefordert
Am ersten Prozesstag benötigte der Richter knapp 40 Minuten, um alle Vorwürfe vorzulesen. Unter anderem wird den Angeklagten Fälschung, Verwendung von Fälschungen, Betrug, Geldwäsche, Veruntreuung von öffentlichen Geldern und Korruption vorgeworfen. Entsprechend hart fielen auch die Strafanträge der Staatsanwaltschaft aus.
Für Claude G. wurde eine Gefängnisstrafe von acht Jahren, davon die Hälfte auf Bewährung, sowie der Entzug des Waffenscheines und die Beschlagnahmung seiner 16 Waffen beantragt. Für den Komplizen Jean-Paul F. forderte der zuständige Ankläger fünfeinhalb Jahre Haft, davon ebenfalls die Hälfte auf Bewährung. Jeannot D. solle derweil eine Gefängnisstrafe von 18 Monaten auf Bewährung erhalten. Zusätzlich sollen alle Immobilien und Fahrzeuge beschlagnahmt werden, um den Schaden zu verringern. Die Härte der geforderten Strafen erklärte der Vertreter der Staatsanwaltschaft damit, dass sie abschreckend auf andere Beamten wirken sollten. „Wenn der Eid wertlos wird, dann funktioniert unser Staat nicht mehr“, so der Ankläger.
Die Gemeinde Hesperingen forderte die Erstattung von fünf Millionen Euro und eine Entschädigung von 200.000 Euro für einen immateriellen Schaden („préjudice moral“) von den beiden Angeklagten. Das eigentliche Tourismussyndikat solle zusätzlich 216.000 Euro Schadensersatz und ebenfalls eine Entschädigung von 50.000 Euro erhalten. Der Unternehmer Jeannot D. seinerseits solle eine Entschädigung von 60.000 Euro und den Betrag von 19.100 an die Gemeinde zurückzahlen. Der Staat beantragte indes die Rückzahlung der Subventionen, wenn diese unrechtmäßig ausbezahlt wurden.
Eine Frage aber blieb vor Gericht auch nach dem Prozess unbeantwortet. Laut den Aussagen der Angeklagten sollten beide zu gleichen Teilen von der Masche profitiert haben. Allerdings hat Jean-Paul F. nur 850.000 Euro erhalten. „Ech si mega gelénkt ginn“, hatte er am 21. Juni 2019 an seine Lebenspartnerin geschrieben. Zu dem Zeitpunkt war der Betrug bereits aufgeflogen. Es ist unklar, ob er damit meinte, dass Claude G. weit mehr Geld erhielt als er oder ob er von dem unrechtmäßigem Vorgehen von Claude G. nichts wusste. Letzteres ist nach den Aussagen vor Gericht allerdings eher unwahrscheinlich.
Das Urteil wird am 16. März gesprochen.


