Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wirkt sich auch auf die Strategie der luxemburgischen Armee aus. Während Teile der Opposition mehr Geld für die Verteidigung fordern, steht das Militär vor allem vor der Frage: Wie soll es den Anforderungen bereits jetzt gerecht werden?
„Zeitenwende.“ Es war ein Wort, das mit einer eher zögerlichen Verteidigungspolitik aufräumen sollte. Nur drei Tage nachdem russische Truppen die Ukraine überfallen hatten, ließ der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) keinen Zweifel daran, was dies für die militärischen Verpflichtungen der Bundesrepublik bedeuten werde: „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Zudem solle die Bundeswehr mit einem im Grundgesetz verankerten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ausgestattet werden.
Der Ruf nach Aufrüstung bei den deutschen Nachbarn hallte bis über die Grenze nach. Auch in Luxemburg machte sich die „Zeitenwende“ bemerkbar. Zum ersten Mal in seiner Geschichte lieferte das Großherzogtum Waffen an ein Drittland und unterstützte die Ukraine unter anderem mit 100 Panzerabwehrraketen des Typs „NLAW“. Zudem verstärkte die Armee ihre Beteiligung an der NATO-Mission „Enhanced Forward Presence“ in Litauen mit weiteren zwei Soldaten auf nunmehr sechs.
Das Zwei-Prozent-Problem
Plötzlich schien auch in Luxemburg eine Debatte möglich, die noch vor wenigen Wochen absurd gewirkt hätte. So betonte etwa der außenpolitische Sprecher der CSV, Claude Wiseler, mit Verweis auf die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz, dass die Militärausgaben in Luxemburg konsequent erhöht werden müssten. Langfristig könne er sich sogar vorstellen, so der Oppositionspolitiker, den Verteidigungsetat auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen und sich damit der Zwei-Prozent-Marke anzunähern, die die NATO als Ziel für ihre Mitgliedstaaten ausgibt.
Auch wenn er den durch den Ukrainekrieg ausgelösten Paradigmenwechsel in der westlichen Rüstungspolitik grundsätzlich befürwortet, stieß die Forderung bei François Bausch (Déi Gréng) auf wenig Gegenliebe: „Wir würden das Geld regelrecht aus dem Fenster werfen. Da bin ich radikal dagegen und auch die Regierung denkt nicht daran, das zu machen“, sagte der Verteidigungsminister vergangene Woche, als er auf einer eigens dafür einberufenen Pressekonferenz eine Analyse von Luxemburgs Verteidigungsausgaben vornahm.
Das Zwei-Prozent-Ziel ist die Achillesferse der Armee und die Debatte setzt uns unter Druck.“Steve Thull, Chef d’Etat-Major
Die Armee selbst bringt die Zwei-Prozent-Diskussion in eine ungünstige Lage. Die Probleme der luxemburgischen Armee sind nicht die der deutschen. Und das liegt nicht nur an der im Vergleich sehr überschaubaren Dimension von Luxemburgs Militärstärke. Denn anders als in Deutschland mangelt es hier nicht an materiellen Verpflichtungen und Investitionen. Das weiß auch Steve Thull, seit 2020 Chef d’Etat-Major und somit ranghöchster Offizier der Truppe. „Das Zwei-Prozent-Ziel ist die Achillesferse der Armee und die Debatte setzt uns unter Druck“, erklärte der General vergangene Woche bei einem Pressetermin in der Kaserne Grand-Duc Jean auf dem Diekircher Herrenberg.
Was der Chef des Generalstabs der luxemburgischen Streitkräfte damit meint: Die Investitionen in die Armee steigen seit Jahren deutlich an, das Erreichen des Zwei-Prozent-Ziels liegt dennoch in weiter Ferne. Lagen die Ausgaben 2012 noch bei rund 167 Millionen Euro, stiegen diese im Jahr 2020 auf rund 356 Millionen. Bis 2024 ist ein Budget von 550 Millionen Euro angedacht, was rund 0,72 Prozent des BIP entspricht. Also immer noch mehr als ein Prozent vom NATO-Ziel entfernt.
Mehr Anforderungen, mehr Material
Der Grund für die Diskrepanz ist simpel: Luxemburg hat im Vergleich zu seinen Nachbarn ein sehr hohes, schnell wachsendes BIP und gleichzeitig, mit nur rund 800 Angehörigen der Streitkräfte, eine kleine Armee. Zudem habe man, wie Steve Thull betont, im Vergleich mit dem Ausland eine relativ günstige Truppe. „Wir haben keine Flugzeugträger, keine Atom-U-Boote und keine Düsenjets, kurz: keine richtig teuren Militärprojekte. Der Fokus der luxemburgischen Armee liegt auf der Aufklärung und der Infanterie. Das Geld, das wir ausgeben, muss diese Kapazitäten sinnvoll erweitern“, erklärt der General.

Dennoch geht Luxemburgs Verteidigungspolitik natürlich ins Geld. Die Erweiterung der Kapazitäten wurde in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Großaufträgen stetig vorangetrieben. Neben dem Militärsatelliten „GovSat1“ (staatliche Beteiligung: 50 Millionen Euro) und dem Aufklärungssatelliten „LuxEoSys“ (voraussichtliche Gesamtkosten: 170 Millionen Euro) wurden die Kapazitäten der Armee um das Transportflugzeug „A400M“ (Gesamtetat: 200 Millionen Euro) erweitert. Erst letztes Jahr wurde bekannt, dass die Armee zudem plant, die Einsatzfahrzeuge des Typs „Hummer“ und „Dingo“ durch 80 neue Fahrzeuge für rund 367 Millionen Euro zu ersetzen.
Mit diesen Projekten steigen auch die Materialkosten bei der Armee kontinuierlich an. Machten sie 2012 nur etwa 17 Prozent des Verteidigungsetats aus, sind sie 2019 bereits fast auf die Hälfte des Budgets angestiegen. Die Ausgaben verstehen sich dabei auch als eine Antwort auf die Anforderungen der NATO. Denn während Luxemburg das Zwei-Prozent-Ziel nur schwer erreichen kann, ist ein zweites ausgewiesenes Investitionsziel des Bündnisses leichter umzusetzen. Es lautet, mehr als 20 Prozent des Budgets in Material zu investieren.
„Zeitenwende“ schon länger im Gange
Worin investiert werden soll, darüber entscheidet die Armee jedoch nicht allein. Denn als NATO-Mitglied unterliegt sie den Vorgaben des Planungsstabs des Militärbündnisses. Was welche Armee wann können soll, wird dabei im sogenannten „NATO Defence Planning Process“ festgelegt und in einem länderspezifischen Dokument, dem „Blue Book“, festgehalten. Die Planung folgt einem Vier-Jahre-Zyklus und wird eng von der NATO begleitet und jährlich geprüft.

In Luxemburgs Verteidigungspolitik hat die „Zeitenwende“ demnach schon vor der russischen Invasion der Ukraine begonnen. Denn Ende 2020 präsentierte die NATO dem Generalstab ihre Vision davon, wie die Streitkräfte des Großherzogtums sich in den kommenden Jahren aufstellen sollen. „Als wir die Ziele zum ersten Mal gehört haben, haben wir erst einmal geschluckt und gedacht: Das ist eine Herausforderung“, erklärt Colonel Pascal Ballinger. Denn das neue „Blue Book“ sieht vor, dass die Armee bis 2028 ihre Truppen um ein halbes Bataillon erweitern soll. Zum Vergleich: Aktuell kommt die Armee auf eine Truppenstärke von einem Bataillon, die Verpflichtung käme demnach einer 50-prozentigen Erhöhung gleich.
Die neuen Kräfte sollen dabei in ein gemeinsames belgisch-luxemburgisches Bataillon integriert werden. Im Juli 2021 unterzeichneten die Verteidigungsminister beider Länder ein entsprechendes „Letter of Intent“, bis 2023 sollen erste Details der Zusammenarbeit geklärt sein. Schon jetzt ist klar, dass es sich bei dem Bataillon nicht um eine „leichte Aufklärungseinheit“ handeln soll, wie sie die luxemburgische Armee bisher kennt, sondern um ein „Medium Reconnaissance Battalion“.
Konkret heißt das, dass die Armee für die Verpflichtung schwerere Einsatzfahrzeuge brauchen wird als jene, die sie jetzt im Betrieb hat und ersetzen will. Der Generalstab rechnet mit rund 40 zusätzlichen Dreiachsfahrzeugen, die etwa sogenannten Radpanzern gleichkommen dürften. Zusätzlich soll die Armee auch einen Teil des Führungsstabs des neuen Bataillons und eine Unterstützungskompanie stellen.
Konsolidieren statt Diversifizieren
Spätestens an diesem Punkt kommt das unbestritten größte Problem der Luxemburger Armee ins Spiel: die Personalfrage. Denn bereits 2019 hielt ein Lagebericht zur Armee, der dem Ministerrat vorgestellt wurde, fest: „Dans de nombreux domaines, des engagements financiers pour des investissements capacitaires ont été pris et l’Armée n’est actuellement pas en mesure de mettre en oeuvre toutes ces capacités faute de personnel qualifié.“
Seitdem hat sich die Lage nur unwesentlich verbessert. So geht der Generalstab etwa davon aus, dass rund 23 Prozent des Offizierskaders permanent im Ausland verpflichtet ist, entweder weil die Soldaten an einer Mission teilnehmen oder weil sie Luxemburg in NATO-Gremien vertreten. Sie stehen der Armee also nicht für den operativen Betrieb zur Verfügung.

Auch wegen der Personalfrage ist man bei der Armeeführung eher skeptisch, was weitere Investitionen angeht. General Steve Thull fasst die Lage der Armee diplomatisch zusammen: „Wir sind in einer Phase, in der wir uns nicht weiter diversifizieren sollten. Jetzt ist die Zeit für Konsolidierung.“ Sonst drohe die Armee ihren Verpflichtungen gegenüber den NATO-Partnern schlicht nicht mehr gerecht werden zu können, so der Chef d’Etat-Major.
Die Situation der luxemburgischen Armee sei denn auch ziemlich „einmalig“, so Steve Thull weiter. „In großen Armeen hat ein Bataillon eine Aufgabe und kann sich nur um diese kümmern. Unsere Armee muss mit einem Bataillon aber unzählige Aufgaben erfüllen, die in anderen Ländern auf die ganze Armee verteilt werden. Das ist unsere Herausforderung.“ Hinzu komme, dass die Armee noch mehr als andere Staaten auf eine enge Zusammenarbeit mit den Bündnispartnern angewiesen sei. Will heißen, ihre Kapazitäten machen überhaupt nur Sinn im Zusammenspiel mit einem größeren Truppenverbund.
Mehr und besser ausgebildete Soldaten
Wie aufwendig das zum Teil sein kann, zeigen die neu angeschafften Aufklärungsdrohnen der Armee. Die Ausbildung der Soldaten an dem neuen Gerät findet in der niederländischen Armee statt. Ist sie Mitte Juli abgeschlossen, werden die Drohnen-Kapazitäten in einen Verbund unter deutscher Führung eingegliedert und sind 2023 Teil der „Very High Readiness Joint Task Force“ der NATO.
Es gibt also nicht nur zu wenig Soldaten, ihnen werden auch immer spezifischere Fähigkeiten abverlangt. Auch deshalb setzt der Generalstab große Hoffnungen auf das neue Armeegesetz. Der Entwurf ist aktuell auf dem Instanzenweg. Er sieht unter anderem die Einführung einer neuen Besoldungsstufe B1 in den Militärlaufbahnen vor, die die Armee attraktiver für Personen mit Sekundarschulabschluss machen soll. Zudem soll die Dienstzeit in der Armee von drei auf vier Jahre erhöht werden, um der steigenden Komplexität der Aufgaben besser gerecht zu werden.
Die größte Herausforderung liege aber darin, einen Imagewechsel der Armee in der Gesellschaft zu vollziehen. Zu oft werde die Armee noch als Zwischenstation zu einer anderen, „zivilen“ Karriere beim Staat gesehen oder als letzte Chance bei schulischen Problemen, erklärt Colonel Pascal Ballinger. Zwar habe die Unterstützung der Armee während der Pandemie und bei den Überflutungen das Image der Armee bereits verbessert. Das Ziel müsse aber sein, dass eine Karriere in der Armee als eine Möglichkeit an sich angesehen werde, betont General Steve Thull.
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine erhält die Frage nach der Bündnisverteidigung auch im öffentlichen Diskurs eine neue Dringlichkeit. Und damit auch die Frage nach der luxemburgischen Beteiligung an den Verpflichtungen der NATO, die Steve Thull klar formuliert, ohne jedoch eine Antwort darauf zu geben. „Wie kann Luxemburg mit den Mitteln, die es hat, ein verlässlicher und solidarischer Partner in der Bündnisverteidigung sein?“ An dieser Stelle dürfte denn auch wieder die Politik in der Pflicht sein.


