100 Bürger, 56 Vorschläge, acht Monate Arbeit: Der „Klima-Biergerrot“ sollte der Politik neue Impulse geben. Doch unnötiger Zeitdruck, ein zu strikter Rahmen und eine undurchdachte Organisation behinderten eine wirksame Bürgerbeteiligung.
„Eine konsequente Klimapolitik erreichen wir nur dann, wenn wir die Unterstützung einer gesellschaftlichen Mehrheit haben“, sagte Premier Xavier Bettel (DP) in seiner Rede zur Lage der Nation im Oktober 2021. Er habe den Eindruck, dass die Bevölkerung weiter gehen wolle, als der Politik bewusst sei, ergänzte er im Januar.
Wie viel Klimaschutz wollen die Bürger nun? „Stellvertretend für die ganze Gesellschaft“ sollten 100 Menschen beraten, was über den Klima- und Energieplan der Regierung hinaus an Maßnahmen nötig sei, gab der Premier das Ziel vor. Die 56 Vorschläge, die der Klimabürgerrat am 15. September vorstellte, erfüllen den Auftrag insofern, als sie die aktuelle Klimapolitik ergänzen. Ob sie dem gesellschaftlichen Konsens entsprechen, ist dagegen fraglich. Das liegt nicht an den Mitgliedern des Rates, sondern an der Gestaltung der Bürgerbeteiligung. Am Ende passen die Antworten nur bedingt zur Frage, die Xavier Bettel vor einem Jahr stellte.
Ein motivierter Querschnitt
Der Premier wollte schnelle Ergebnisse. Die Überschwemmungen im Sommer 2021 hatten die Regierung unter Druck gesetzt. Bis Juli 2022 sollte der „Klima-Biergerrot“ seine Empfehlungen fertigstellen. Es folgte eine frenetische Organisationsphase. Ende Dezember kontaktierte das Staatsministerium drei Kommunikationsagenturen, die sich für die Organisation bewarben. Am 5. Januar stellte Xavier Bettel das Projekt vor und rief die Bürger auf, sich für die Teilnahme zu melden. Am 24. Januar erhielt die Agentur „Oxygen&Partners“ den Zuschlag. Bereits am 29. Januar startete die Arbeit des Bürgerrats.
Es gab den politischen Zeitzwang, dass der Bürgerrat nicht in das Wahljahr 2023 hineinrutscht.“Raphaël Kies, Politologe an der Uni Luxemburg
„Normalerweise lässt man sich mehr Zeit für die Organisation. In diesem Fall musste alles sehr schnell gehen“, sagt Raphaël Kies von der Universität Luxemburg. Er begleitete den Bürgerrat und leitet ein Forschungsprojekt, das den Prozess wissenschaftlich untersucht. „Es gab den politischen Zeitzwang, dass der Bürgerrat nicht in das Wahljahr 2023 hineinrutscht“, so die Erklärung des Politikwissenschaftlers.
Für das Meinungsforschungsinstitut „Ilres“ blieben wenige Wochen, um die 100 Mitglieder auszuwählen. Die Methode unterschied sich allerdings von partizipativen Prozessen im Ausland. An mangelndem Interesse lag es nicht: 1.100 Bürger folgten dem Aufruf des Premiers und bewarben sich für die Teilnahme. Das Problem: „Es melden sich die, die sich für Klimaschutz interessieren“, erklärt „Ilres“-Direktor Tommy Klein. Um trotzdem eine möglichst repräsentative Gruppe zu erreichen, kontaktierte das Institut zusätzlich eine Stichprobe aus seinem Internetpanel und per Telefon.
Alles andere als Zufall
„Um eine konstruktive Debatte zu ermöglichen, wählten wir auch nach Meinung zum Klimaschutz aus“, sagt Tommy Klein. „Ich wollte jemanden von ‚Fridays for Future‘ und jemanden, der nicht auf sein Auto verzichten möchte“, betont der Meinungsforscher, der die Teilnehmer in Kleinarbeit auswählte. Die Interessenten mussten einen Fragebogen zu Alter, Geschlecht, Beruf und zu ihren Meinungen ausfüllen. Auf dieser Grundlage wurden 60 feste Mitglieder sowie 40 Ersatzmitglieder festgelegt.
Die Auswahl der Mitglieder ist wichtig, weil sie die Debatte, das Ergebnis und die Sicht der Öffentlichkeit auf den Prozess bestimmt. Wenn Bürger sich selbst bewerben dürfen, sei der Nachteil, „dass man hauptsächlich mündige, hochausgebildete, weiße Männer über 30 bekommt, die sogenannten ‚professionellen Bürger‘“, schreibt der belgische Autor David van Reybrouck in seinem Buch über neue Formen der Demokratie.
Eine Million Euro an Kosten
Das Staatsministerium scheute keine Ausgaben beim „Klima-Biergerrot“, wie Reporter.lu auf Nachfrage erfuhr. Hierbei gaben sich folgende Ausgabenposten:
- 46.057 Euro für das Meinungsforschungsinstitut „Ilres“: Der Auftrag war, eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung für die Teilnahme auszuwählen.
- 258.528 Euro für die Agenturen „Oxygen&Partners“, „Pétillances“ und „AccentAigu“: Die drei Firmen waren mit der Organisation, Moderation, Logistik und Kommunikation rund um das Projekt beauftragt.
- 135.500 Euro für die Mitglieder des Klimabürgerrats: Sie wurden für die Teilnahme mit jeweils 125 Euro pro Sitzung entlohnt.
- 272.454 Euro an laufenden Kosten: Dieser Posten umfasst unter anderem die Übersetzungen während der Sitzungen, die Verpflegung und die Mieten für die genutzten Räume.
- 300.000 Euro für die Universität Luxemburg: In einem Projekt wurde der Bürgerrat begleitet und die Ergebnisse wissenschaftlich aufgearbeitet. Die Forschung zur Beteiligung soll mehrere Jahre andauern.
Zusammen ergibt das ein Budget von knapp über einer Million Euro, wie der Premierminister auch im Januar angekündigt hatte. Dazu kommt noch der befristete Vertrag eines Projektleiters im Staatsministerium.
Die Alternative zur selektiven Vorgehensweise geht zurück auf die Demokratiepraxis im antiken Athen: das Losverfahren. Eine per Zufall ausgewählte, repräsentative Stichprobe der Bevölkerung bringe mehr Diversität, so David van Reybrouck im Buch „Gegen Wahlen“. Sie birgt aber die Gefahr, dass das Engagement geringer ist. „Selbstselektion erhöht die Effizienz, das Losverfahren die Legitimität“, so sein Fazit. Ausgeloste Bürger konnten sich etwa beim „Bürgerdialog“ in der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien sowie in der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron initiierten „Convention citoyenne pour le climat“ einbringen.
„Eine zufällige Stichprobe von 5.000 Menschen aus dem nationalen Personenregister hätte eine bessere Repräsentativität ergeben“, sagt Tommy Klein. Datensätze aus dem Personenregister für die Auswahl zu verwenden, sei nicht möglich gewesen, antwortet das Staatsministerium auf Nachfrage. Dafür hätte es ein Gesetz gebraucht.
Die „professionellen Bürger“ übernehmen
Auffällig ist, dass die 14 Sprecherinnen und Sprecher des Gremiums in die Kategorie der „professionellen Bürger“ fallen. Unterschiedlich in Alter und Geschlecht, aber hochgebildet, eloquent und teils mit Fachwissen in Umwelt- und Energiefragen stellten sie Mitte September die Vorschläge des „Klima-Biergerrot“ vor. Die Organisatoren Philippe Beck und Tom Girardin von den Agenturen „Oxygen&Partners“ und „Pétillances“ sehen darin aber kein Problem. Die Sprecher hätten sich freiwillig gemeldet und seien mit den Mitgliedern abgestimmt gewesen.
Wir werden darauf achten, dass die Politik unsere Vorschläge ernst nimmt.“Ein Mitglied des Klimabürgerrats
„In der Ausarbeitungsphase im Sommer änderte sich die Konstellation der Mitglieder. Manche zogen sich zurück, dafür kamen Ersatzmitglieder hinzu“, erzählt ein Teilnehmer, der namentlich nicht genannt werden möchte. Sie hätten sich in Arbeitsgruppen aufgeteilt, je nach Interesse oder Wissen zum jeweiligen Thema. Das Ergebnis basiere auf der Arbeit in der ersten Phase, sagt Philippe Beck. „Es ist aber klar, dass die Verfügbarkeit, um daran mitzuarbeiten, vom Interesse der Beteiligten am Thema abhängt“, betont Tom Girardin.
Den vorgegebenen Rahmen aufbrechen
Der „Klima-Biergerrot“ wandelte sich im Laufe der Monate. Die Mitglieder mussten den strikten Rahmen aufbrechen, den das Staatsministerium vorgegeben hatte. In ihrem Bericht kritisieren sie offen den Ablauf. Sie hätten keine Möglichkeit gehabt, im Vorfeld über ihre Methode und die Struktur ihrer Arbeit zu diskutieren. Teilnehmer berichteten Reporter.lu von engen Zeitplänen, vorgegebenen Experten und dem Druck, zu schnellen Ergebnissen zu kommen.
Die Organisatoren wollten zu Beginn, dass die Mitglieder am Ende jedes thematischen Arbeitswochenendes über die Vorschläge abstimmen sollten. Dagegen wehrten sich die Teilnehmer.
„Die Vorschläge wurden innerhalb von 20 Minuten zu Papier gebracht“, erzählt Marion Lorentz, ein Mitglied des Bürgerrats im Gespräch mit Reporter.lu. „Es brauchte die Gelegenheit, alles noch einmal zu überarbeiten“, sagt sie. Anfang Mai wurde klar, dass die Deadline vom Juli nicht mehr einzuhalten war. Am 4. Mai genehmigte das Staatsministerium den Organisatoren ein zusätzliches Budget.
Mangelnde Transparenz
Die Transparenz um die Vergabe der Aufträge beschränkt sich auf den Kostenpunkt. Reporter.lu verlangte auf Grundlage des Gesetzes zur einer transparenten Verwaltung Einblick in den Vertrag mit der Agentur „Oxygen&Partners“. Das Ziel war, zu verstehen, was die Vorgaben an die Organisation und Moderation waren. Das Staatsministerium aber verweigerte die Herausgabe, weil dies Geschäftsgeheimnisse der betroffenen Firmen verletze. Das Staatsministerium vergab den Auftrag im Rahmen einer nicht öffentlichen Ausschreibung, bei der drei Angebote eingeholt wurden und zwei Firmen antworteten. „Oxygen&Partners“ erhielt den Zuschlag, beschloss aber, mit der Agentur „Pétillances“ zusammenzuarbeiten. Der ursprüngliche Preis von 143.000 Euro lag nur knapp unter der Grenze, ab der eine öffentliche Ausschreibung nötig geworden wäre.
Am vierten Arbeitswochenende stimmte der Klimabürgerrat über eine Verlängerung um zwei Monate ab, was dann zur zweiten Phase wurde. „Man braucht einen Rahmen und einen Plan, aber auch Flexibilität und Pragmatismus in einem solchen Prozess“, sagt Philippe Beck. „Es sollte kein Diskussionskreis sein, wir hatten eine klare Mission“, erklärt Tom Girardin. Zu Beginn habe es einen klaren Rahmen gebraucht, weil sich die Teilnehmer noch nicht gekannt hätten. Nach und nach hätten die Organisatoren Verantwortung abgegeben.
Als Mitglied des wissenschaftlichen Begleitgremiums beriet Raphaël Kies die Organisatoren. Es sei normal, dass es bei diesen Verfahren zu Spannungen komme. Und der Politikwissenschaftler ist formell: „Es gab keinen Versuch der Regierung, den Bürgerrat zu beeinflussen.“
Manipulation oder Hijacking?
Der Vorwurf steht allerdings im Raum. Es waren die Organisatoren, die die Experten auswählten, die dem Klimabürgerrat das nötige Fachwissen vermitteln sollten. Der ehemalige LSAP-Minister Robert Goebbels sieht darin „die manipulierte Demokratie der Experten“ – so der Titel eines Meinungsbeitrags im „Luxemburger Wort“. Er schreibt von „Lobbyisten“ und Umweltorganisationen, die die Bürger „in die gewünschte Richtung“ gelenkt hätten.
Die Liste der beteiligten Experten im Bericht führt aber als einzige Umweltorganisation „Natur an Ëmwelt“ auf. Ansonsten sind es Vertreter von Verwaltungen, Unternehmen und Branchenverbänden – die Zivilgesellschaft fehlte. Die Organisatoren betonen, sie hätten ein breites Spektrum an Experten eingeladen. Sie hätten vermeiden wollen, dass der politische Diskurs im Bürgerrat nur reproduziert würde. Im Bericht schreiben sie vom Risiko eines „Hijacking“ des Prozesses, ohne das aber auf Nachfrage hin erklären zu können.
Die Teilnehmer relativieren diese Bedenken. Ihre Aufgabe sei es gewesen, Vorschläge zum Klima- und Energieplan zu machen. Deshalb sei es sinnvoll gewesen, mit den zuständigen Beamten zu sprechen. Manche hätten sich mehr Mitbestimmung in der Auswahl gewünscht. „Wir sind als Erwachsene fähig zu verstehen, wer uns was verkaufen will“, meint ein Teilnehmer.
Ein undefinierter politischer Prozess
Nun folgt die Frage, was mit dem Ergebnis passiert. „Wir werden als Mitglieder des Klimabürgerrats darauf achten, dass die Politik unsere Vorschläge ernst nimmt“, betont ein Mitglied.
Nichts ist ungewisser. Am Dienstag und Mittwoch werden die Sprecher des Bürgerrats ihre Vorschläge den Parlamentskommissionen vorstellen. Am 25. Oktober ist eine Debatte im Plenum vorgesehen. „Egal wéi geschitt eppes domadder“, versprach der Premierminister im Januar.
56 Vorschläge für mehr Klimaschutz
In sechs Kapiteln machen die Mitglieder des Klimabürgerrats Vorschläge zu Landwirtschaft, erneuerbaren Energien, nachhaltigem Bauen, Abfallwirtschaft, Mobilität sowie transversalen Themen. Hervor sticht etwa die Erhöhung der CO2-Steuer von heute 25 Euro auf 200 Euro pro Tonne. Weitere Beispiele sind ein Tempolimit auf den Autobahnen von je nach Tageszeit 90 oder 110 Kilometern pro Stunde, zwei verpflichtende Tage Homeoffice pro Woche sowie Maßnahmen gegen die Bodenversiegelung. Viele Vorschläge beziehen sich ebenfalls auf Umweltsteuern sowie auf mehr Information und Sensibilisierung von Verbrauchern.
Anders als beim „Bürgerdialog“ in der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien ist hier kein Verfahren definiert, wie die Politik mit dem Ergebnis umgehen soll. In Eupen müssen die Abgeordneten begründen, warum sie Vorschläge nicht übernehmen. In Frankreich hatte Präsident Emmanuel Macron ähnliche Versprechen gemacht wie Xavier Bettel. Am Ende fanden sich nur zehn Prozent der „Convention climatique“ im Klimagesetz wieder, recherchierte „Reporterre.net“.
Geschürte Erwartungen, begrenzter Einfluss
Vizepremier François Bausch (Déi Gréng) gab den Ton der Debatte vor: Die Vorschläge des Klimabürgerrats etwa zu einem Tempolimit seien „sympathisch“, aber „symbolisch“, sagte er „Radio 100,7“. Er relativierte seine Aussage später im Interview mit „RTL“.
Die formelle Entscheidung der Regierung bestärkt den Verdacht, dass die politische Halbwertszeit des Klimabürgerrats begrenzt ist – ähnlich wie der Rifkin-Bericht. Der Ministerrat beschloss, dass eine „Taskforce“ aus Beamten das Einfließen der Vorschläge in den nächsten Klima- und Energieplan „koordinieren“ solle.
Der Forscher Raphaël Kies gibt eine realistischere Einschätzung: „Der Klimabürgerrat wird neben den Experten und den NGOs die dritte Quelle für die Arbeit der Regierung am Klima- und Energieplan sein.“ Er sieht darin einen wichtigen Einfluss.
Das passt nicht zur Überhöhung der Bürgerbeteiligung, die der Premier selbst vorgegeben hatte. Xavier Bettel lobt im Vorwort zum Bericht des Klimabürgerrats: Es sei ein „innovatives demokratisches Instrument, das in dieser Form und bisher weltweit wenig genutzt wurde“.