Die Individualisierung der Besteuerung war das große Versprechen von Blau-Rot-Grün. Doch das Projekt scheiterte am Staatsdefizit – und an der DP. Dabei wollte die Koalition nicht nur die Arbeitnehmer entlasten, sondern auch ihre Gesellschaftsreformen vollenden.
Die Idee hört sich äußerst simpel an. Egal, ob verheiratet, in einer eingetragenen Partnerschaft, verwitwet oder Single: Jede und jeder wird gleich besteuert. Was klingt wie ein schlichter Verwaltungsakt, ist jedoch nichts weniger als das Ende der staatlichen Förderung des konservativen Familienmodells. Die steuerliche Begünstigung von Familien, in denen nur ein Ehepartner arbeitet und die zweite Person sich um den Haushalt kümmert, sollte mit der Individualisierung begraben werden.
Doch die Koalitionspartner sind sich nicht einig, ob dies noch das vorrangige Ziel ist oder doch eher mehr Gerechtigkeit zwischen Wohlhabenden und Geringverdienern. Entsprechend vage war die Ankündigung von Premierminister Xavier Bettel (DP) 2019: „Wir sorgen für mehr Gerechtigkeit und setzen den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, unabhängig von der Art und Weise, wie er sein Leben organisiert hat und wie seine Situation im Laufe seines Lebens sich verändert.“
Diese Kernpunkte standen auch im Koalitionsabkommen. Zudem sollte eine neue einheitliche Steuertabelle eingeführt werden. Die aktuellen Steuerklassen 1 für Junggesellen, 1a für Alleinerzieher und 2 für Verheiratete würden verschwinden. Bereits 2013 wollte die Regierung eine Individualisierung prüfen, hieß es damals. Passiert ist hingegen wenig. Das liegt auch an einem weiteren Versprechen der DP: Bei der Vorstellung des Koalitionsabkommens erklärte Corinne Cahen (DP), dass niemand durch die Reform mehr Steuern zahlen müsste.
Frauen fördern
Ein Konzept, wie die Reform konkret umgesetzt werden kann, hat die Koalition nicht. Auch bleibt ungewiss, was unter „mehr Gerechtigkeit“ zu verstehen ist und inwiefern diese durch eine Individualisierung zu erreichen ist. Lediglich die Finanzministerin äußerte sich rezent etwas klarer zu dem Vorhaben.
Es ist Augenwischerei, zu behaupten, eine solche Reform würde keine Verlierer produzieren.“Dan Kersch (LSAP)
„Studien belegen, dass ein System der Kollektivbesteuerung – wie wir es haben – Frauen benachteiligt. Damit kann ich eigentlich nicht einverstanden sein“, sagte Yuriko Backes (DP) im Juli während der Steuerdebatte im Parlament. Vor allem Paare mit einem Alleinverdiener werden steuerlich stark begünstigt, so die Finanzministerin. Im Umkehrschluss sind für den nicht berufstätigen Partner die Anreize, einer Lohnarbeit nachzugehen, nicht besonders groß. Eine individuelle Besteuerung könnte dem entgegenwirken. Das Ziel einer Individualisierung des Steuersystems steht demnach zumindest im Finanzministerium fest.
Die Auswirkung einer solchen Reform zeigt sich am besten an einem Rechenbeispiel. Verdient eine Person jährlich 100.000 Euro, während ihr Partner nicht arbeitet, muss das Paar rund 19.500 Euro an Steuern zahlen. Würde das Paar mit der jetzigen Steuertabelle individuell besteuert, müsste der arbeitende Partner rund 30.600 Euro Steuern zahlen. Wenn beide Personen gleich viel verdienen würden, gebe es indes keinen Unterschied. Dass Paare in diesem Szenario wesentlich mehr Steuern zahlen, würde sich auch im Staatshaushalt bemerkbar machen. Die Steuerverwaltung schätzt die Mehreinnahmen auf 1,35 Milliarden Euro jährlich.
Der Plan der Regierung war es hingegen, eine neue Steuertabelle einzuführen. Die Verluste für verheiratete Paare würden sich somit in Grenzen halten. Die Arbeiten an der Reform seien vor dem durch die Regierung angeordneten Stopp im Frühjahr 2020 „auf der technischen Ebene gut fortgeschritten“, heißt es vom Finanzministerium auf Nachfrage von Reporter.lu. Weitere Details wollte das Ministerium allerdings nicht preisgeben. Nur so viel: Man orientiere sich bei der Umsetzung an anderen Ländern wie Schweden.
Das schwedische Modell
Schweden hat ab den 1970er Jahren eine entsprechende Reform umgesetzt. Die Regierung wollte mit den alten Rollenbildern des arbeitenden Mannes und der Hausfrau brechen. Die Individualisierung wurde zuerst für das Gehalt eingeführt, erst später wurden auch Einnahmen aus Investitionen oder Mieten auf individueller Ebene besteuert. Durch dieses System ist die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen in Schweden um zehn Prozentpunkte gestiegen.
Das Ziel der Reform konnte in dem skandinavischen Land jedoch nur zum Teil erreicht werden. Die Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt stieg zwar, aber mehr als die Hälfte war nur in Teilzeit beschäftigt. Unterstützende Maßnahmen, wie etwa eine flächendeckende Kinderbetreuung oder ein längerer Elternurlaub, der zu gleichen Teilen von den Elternteilen beansprucht werden kann, wurden erst nach und nach eingeführt. Diese zusätzlichen Reformen sorgten dafür, dass die Teilzeitarbeit von Frauen auf 15 Prozent fiel. In Schweden gibt es heute bei der Beschäftigungsquote zwischen Mann und Frau kaum noch Unterschiede.
In Luxemburg wurde indes der umgekehrte Weg eingeschlagen. Unter Blau-Rot-Grün wurden mehrere gesellschaftspolitische Reformen durchgesetzt. Eine flexiblere Gestaltung des Elternurlaubs oder auch die großzügige Finanzierung der Kinderbetreuung sollten die Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt erhöhen. Wie die Zahlen des „Statec“ zeigen, ist die Beschäftigungsquote tatsächlich seit 2015 von 60,8 auf 66 Prozent gestiegen. Für Männer liegt dieser Wert bei 72,6 Prozent. Beide Werte nähern sich also an, bei der Teilzeitarbeit gibt es hingegen noch große Unterschiede.
Die Teilzeitbeschäftigung ist bei Frauen deutlich beliebter als bei Männern. Der Wert ist in den letzten Jahren allerdings gefallen. 2014 arbeiteten laut „Eurostat“ 35 Prozent der Frauen Teilzeit, in 2021 waren es nun noch 30 Prozent. Eine Individualbesteuerung könnte diesen Trend weiter verstärken.
Wie eine Individualisierung aussehen könnte
Die Arbeiten an einer Reform blieben im Finanzministerium bei der Bestandsaufnahme des aktuellen Systems stehen. Wie die Übergangsphase und die neue Steuertabelle aussehen könnte, konnte das Ministerium nicht beantworten. Die Frage, ob es in einer ersten Phase möglich sein sollte, einen Teil des Gehalts trotzdem auf den Lebenspartner zu übertragen, um das Plus an Steuern in Grenzen zu halten, sei zu dem Zeitpunkt noch nicht entschieden gewesen.
Währenddessen haben Forscher des „Luxembourg Institute of Socio-Economic Research“ (Liser) sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. In ihrer Studie simulierten sie eine Individualisierung, die für den Staat keine zusätzliche Kosten verursachen würde. Doch die Steuerlast würde für viele Haushalte steigen. Laut den Wirtschaftswissenschaftlern würde pro Person im Haushalt das Nettoeinkommen um rund zwei Prozent sinken. Besonders betroffen wären Geringverdiener, heißt es in der Studie. Da nicht bekannt ist, wie die neue Steuertabelle aussehen sollte, wurde als Berechnungsgrundlage die aktuelle genutzt.
Die komplizierte Simulation versuchte auch zu ermitteln, welchen Einfluss diese Reform auf die Erwerbstätigkeit hätte. Die Berechnungen ergeben demnach eine Steigerung der Beschäftigungsquote von Frauen um 2,27 Prozent. Währenddessen bliebe der Arbeitsmarktanteil der Männer unverändert.
Während die Studie ihr Augenmerk auf die Beschäftigung von Frauen legte, geht es der Politik in erster Linie um eine Entlastung der Haushalte. Eine verbesserte Beschäftigungsquote wird in den Koalitionsparteien eher als „nice to have“ und nicht als „must have“ gesehen. Doch sogar beim selbst gesteckten Ziel der Entlastung für Haushalte sind die Partner sich offenbar uneinig.
Entlastung für wen?
Mit ihrem Versprechen, es dürfe keine Verlierer bei einer individuellen Besteuerung geben, während gleichzeitig der Staatshaushalt nicht zu stark belastet werden soll, versucht die DP die Quadratur des Kreises zu lösen. „Es ist Augenwischerei, zu behaupten, eine solche Reform würde keine Verlierer produzieren“, entgegnet hingegen Dan Kersch (LSAP) im Gespräch mit Reporter.lu. „Eine Steuerreform muss immer als Ganzes betrachtet werden und darf dem Staat nicht weniger Einnahmen einbringen“, so der ehemalige Vizepremier.

Das Ziel der DP war es hingegen, eine Entlastung für alle – oder zumindest keine Verschlechterung – zu erreichen. Das Koalitionsabkommen erwähnte diese Leitlinie jedoch nicht. „Das Ziel war stets Steuergerechtigkeit und eine Entlastung von Gering- und Mittelverdienern“, sagt Dan Kersch. Zusätzlich forderte er in der Steuerdebatte eine zusätzliche Entlastung für Paare mit Kindern. Im Übrigen hätten die Sozialisten einer geringeren Besteuerung von Unternehmen nur zugestimmt, wenn im Gegenzug auch Gering- und Mittelverdiener entlastet werden, so der Abgeordnete. Ersteres wurde vor der Pandemie beschlossen, das zweite fiel bisher aus.
„Die Situation ist heute eine andere als 2020. Mit einer stärkeren Besteuerung des Kapitals gäbe es auch den nötigen Spielraum für eine Steuerreform“, sagt Dan Kersch. Auch die Grünen würden diesen Weg mitgehen. „Mit einem neuen Spitzensteuersatz ab 300.000 Euro, einer Vermögenssteuer und steuerlichen Maßnahmen in der Wohnungspolitik könnten Hunderte Millionen Euro in den Staatshaushalt gespült werden“, sagt François Benoy (Déi Gréng) im Gespräch mit Reporter.lu. Seine Partei wolle vor allem Menschen mit einem Einkommen bis zum dreifachen Mindestlohn entlasten. Demnach solle sich die Entlastung bis auf Einkommen von 6.940 Euro monatlich auswirken. Zusätzlich würden Alleinerzieher weitere Unterstützung erhalten. Kurzfristig fordern die Grünen und Sozialisten nun, die Haushalte über Steuerkredite zu entlasten, langfristig bleibt die Individualisierung das Ziel.
Immerhin in einem Punkt ist man sich unter den Koalitionspartnern einig: Die Individualisierung wird in dieser Amtszeit nicht mehr kommen. Damit fällt auch die endgültige Abkehr von dem Familienmodell der letzten Jahrhunderte, bei dem die Frau für die Hausarbeit und Kinderbetreuung zuständig war, aus. Diese letzte Gesellschaftsreform wird Aufgabe einer nächsten Regierung werden.

