Die Regierung will ihre humanitäre Hilfe neu aufstellen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Strategie jedoch kaum von früheren Ansätzen. Dafür verschärft sie die Gegensätze zwischen den Bedürfnissen vor Ort und wirtschaftlichen Interessen.

„2022 ist die humanitäre Notlage katastrophal. Die Krisen, denen wir jetzt begegnen, sind komplexer, werden mehr Menschen betreffen und auch länger dauern als die, denen wir in der Vergangenheit begegnet sind.“ Diese Einschätzung lieferte der Minister für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Angelegenheiten, Franz Fayot (LSAP), bei der Präsentation der neuen Strategie der Regierung.

Seit 2013 hatte sich Luxemburg keine neue Strategie für seine humanitäre Hilfe gegeben. Neue Akzente liegen nun vor allem im Bereich der digitalen Sicherheit von Daten aus Krisengebieten, bei dem verstärkten Schutz für Frauen, Kinder und Mitglieder der LGBT-Community sowie dem Ausbau der Zusammenarbeit mit dem Privatsektor.

Dieses Jahr werden 274 Millionen Menschen weltweit humanitäre Hilfe benötigen, schätzen die Vereinten Nationen (UN). 84 Millionen Menschen sind auf der Flucht – vor Krieg, Hunger- und Klimakatastrophen. Der UN mangelt es aber an Geld, um eine angemessene Hilfe leisten zu können. Ein Drittel der benötigten Budgets fehlt.

Das 15-Prozent-Ziel

Luxemburg ist stolz darauf, eines der wenigen Länder zu sein, die jedes Jahr ein Prozent ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) der Entwicklungshilfe zukommen lassen. Vom Gesamtbudget für Kooperation und humanitäre Hilfe gehen 2022 rund 15 Prozent – das entspricht laut Ministerium 65 Millionen Euro – an humanitäre Hilfsorganisationen. Diese helfen, in Notsituationen einzugreifen, wie etwa bei akuten Hungersnöten, aber auch bei Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Überschwemmungen. Der Großteil des Budgets geht an die klassische Entwicklungshilfe. Das sind mittel- und längerfristige Projekte, die vor Ort mit der Bevölkerung und NGOs betrieben werden.

Der Anteil der Luxemburger Ausgaben für humanitäre Nothilfe schwankte in den letzten Jahren immer zwischen 12 und 13 Prozent. Die Anhebung auf 15 Prozent ist daher eine neue Entwicklung. Da Luxemburg sein Hilfsbudget aber an das Wirtschaftswachstum gekoppelt hat und das eine Prozent des BNE im Falle einer Rezession viel weniger ausmachen könnte, gibt es keine Garantien für ein stabiles oder gar wachsendes Budget.

Die neue Strategie ist nicht bahnbrechend, das will sie auch nicht sein, sondern liegt in der Kontinuität, allerdings mit einer zeitgemäßen Anpassung.“Michael Feit, Caritas Luxemburg

Was beinhaltet die neue Strategie? Wer nach Zahlen oder konkreten Aussagen sucht, wird enttäuscht. Der 25-seitige Text ist ein Gemisch aus Schlagworten – „Inklusion“, „Greening der Hilfen“ oder „Digitale Transformation“ – und Fachausdrücken. Hauptaussagen sind: Die luxemburgische humanitäre Hilfe bewegt sich im internationalen Rechtsrahmen, ist flexibel an Bedürfnisse anpassbar und hilft mit, die feministische Außenpolitik der Regierung umzusetzen.

Wohl auch deshalb stößt sie im Sektor auf wenig Widerspruch: „Eine Strategie ist auch für das Ministerium eine Richtlinie, kein Gesetz. Die aufgeführten Schwerpunkte sind zum Teil auch unsere. Die neue Strategie ist somit nicht bahnbrechend, das will sie auch nicht sein, sondern liegt in der Kontinuität, allerdings mit einer zeitgemäßen Anpassung“, bewertet Michael Feit, Verantwortlicher für internationale Kooperation von „Caritas Luxemburg“, das Dokument für Reporter.lu.

Probleme und Ursachen bekämpfen

Trotzdem: Auch wenn vieles vage bleibt, bleibt das Dokument nicht von Widersprüchen verschont. So etwa beim Schlagwort „Nexus“. Gemeint ist damit die Verzahnung von humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe.

Ob es dem Ministerium damit ernst gemeint ist, daran gibt es bei den Entwicklungshilfe-Organisationen Zweifel: „Wir sind nicht konsultiert worden und haben eher durch Zufall herausgefunden, dass diese neue Strategie jetzt präsentiert wird“, so die Präsidentin des „Cercle des ONG de la Coopération“, Nicole Ikuku, im Gespräch mit Reporter.lu. Da der „Cercle“ die Entwicklungshilfe-NGOs vertritt, wäre es in ihren Augen ein Plus gewesen, wenn die Beamten auch auf deren Erfahrungen zurückgegriffen hätten.

Für Franz Fayot stellte sich diese Frage aber nicht: „Wir haben mit den Organisationen zusammengearbeitet, die wir für relevant hielten“, so der Minister. Informationen von Reporter.lu zufolge führte das Ministerium lediglich mit drei NGOs Gespräche: mit „Care“, Caritas und dem Roten Kreuz. Dies trotz der Versicherung, die Strategie sei „in Zusammenarbeit mit vielen Akteuren erstellt worden“.

Für den Care-Direktor Frédéric Haupert ist die „Nexus“-Diskussion alles andere als neu: „Nicht nur in Luxemburg gibt es Kontroversen zu diesem Thema. Diese sind in der Realität des Sektors verankert“, meint er gegenüber Reporter.lu. Dass diese Kluft überwunden werden sollte, findet auch Michael Feit: „Humanitäre Hilfe ist nur eine Symptombekämpfung, beseitigt aber nicht die Ursache. Und wie beim Arzt müssen sowohl die Schmerzen als auch ihre Auslöser behandelt werden“, erklärt der Caritas-Vertreter im Gespräch mit Reporter.lu.

Ein klares „Jein“ zur Armee

Einen weiteren Widerspruch gibt es beim Thema „Triple Nexus“. Gemeint ist damit die Verbindung von humanitärer Hilfe, Entwicklungshilfe und „Friedenserhaltung“ durch Armeen. Franz Fayot könnte sich durchaus vorstellen, in Zukunft Entwicklungshilfe in Zusammenarbeit mit der luxemburgischen Armee zu leisten. „Zumindest da, wo es Sinn machen würde, zum Beispiel in der Sahel-Zone“, sagte er am vergangenen Freitag. Care-Direktor Frédéric Haupert hält dagegen: „Wir wollen überhaupt nicht in diese Richtung gehen. Dies ist nicht nur eine Frage des Prinzips, sondern auch der Sicherheit unserer Mitarbeiter“, betont er gegenüber Reporter.lu.

Zudem steht die Möglichkeit, im Zuge einer „Triple Nexus“-Vorgehensweise mit Streitkräften zu kooperieren, auch im Gegensatz zum Rahmen, den sich Luxemburg in der neuen Strategie selbst gegeben hat. Dort heißt es ausdrücklich: „Luxemburgs humanitäre Aktion ist im Respekt der fundamentalen Prinzipien der Menschlichkeit, der Unparteilichkeit, der Neutralität und der Unabhängigkeit verankert.“ Genau diese Neutralität ist bei vielen Friedensmissionen in komplexen geopolitischen Situationen nicht unbedingt gegeben und könnte die Leben der Helfer gefährden. Allein 2021 sind nach UN-Zählung über 140 humanitäre Mitarbeiter weltweit zu Tode gekommen.

Eine weitere Diskrepanz gibt es bei der Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor. Schon beim Thema Entwicklungshilfe hatte der Wunsch der Politik, die Wirtschaft und besonders den Finanzsektor enger miteinander zu verbinden, für Aufregung gesorgt. Eine rezente Visite von Premierminister Xavier Bettel (DP) und Franz Fayot in Ruanda scheint diese Analyse zu bestätigen, denn Luxemburg plant der Hauptstadt Kigali dabei zu helfen, ein eigenes Finanzzentrum aus dem Boden zu stampfen.

Ein problematisches Projekt

Auch bei der humanitären Hilfe gibt es seit 2012 eine enge Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft. Als „emergency.lu“ arbeiten drei Firmen im Rahmen eines „Public-Private-Partnership“ (PPP) eng mit dem Ministerium zusammen. Es sind „Hitec“, „SES“ und „Luxembourg Air Rescue“.

Eine erste Version der Strategie von Anfang Januar 2022, die Reporter.lu vorliegt, beschrieb „emergency.lu“ mehrmals als „operationellen Arm“ der luxemburgischen humanitären Hilfe. In dem nun präsentierten Text ist diese Beschreibung etwas abgeschwächt.

Pour que le Luxembourg puisse atteindre ses objectifs humanitaires (…), des partenariats divers et complémentaires sont primordiaux.“
Strategiepapier zur humanitären Hilfe

Die Aufgabe von „emergency.lu“ besteht darin, Kommunikation in Krisenregionen wiederherzustellen. Dazu kommen spezielle Ballons zum Einsatz, die mit den SES-Satelliten gekoppelt werden und so einen Internetanschluss für Hilfskräfte und Zivilbevölkerung ermöglichen. Das Projekt kostet den Staat jährlich 4,6 Millionen Euro. Luxemburg ist in diesem Programm aber kein Einzelkämpfer, sondern Teil eines globalen Netzwerks von verschiedensten Organisationen, dem „Emergency Telecommunications Cluster“ (ETC), das von den Vereinten Nationen koordiniert wird.

Problematisch an „emergency.lu“ ist, dass das Projekt nie öffentlich ausgeschrieben wurde – auch nicht bei der Verlängerung des Vertrags von 2020 bis 2026. Hinzu kommt, dass einer der kommerziellen Partner in der jüngsten Vergangenheit Probleme mit der Justiz hatte. Mehrere ehemalige Direktoren von Hitec wurden wegen Steuerhinterziehung verurteilt und mussten erhebliche Strafen zahlen.

Nächstes Rendez-vous bei den „Assises“

Franz Fayot kündigte auf seiner Pressekonferenz an, einen „Appel à projets“ starten zu wollen, um die Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor auch in anderen Bereichen der humanitären Hilfe – mit Hinblick auf Logistik – auszuweiten. Auf Nachfrage von Reporter.lu gab der Entwicklungshilfeminister zu verstehen, dass die Projekte diesmal öffentlich ausgeschrieben werden würden.

„Emergency.lu“ hat aber auch aus technischen Gründen ein Ablaufdatum. Die SES-Satelliten fliegen in einer hohen Umlaufbahn, die „Starlink“-Systeme von Elon Musk, die momentan zum Beispiel in der Ukraine eingesetzt werden, im niedrigsten Orbit. Letztere sind deshalb kostengünstiger und einfacher einzusetzen. Es braucht keine Ballon-Antennen, um sie zu betreiben. Es liegt also hauptsächlich an der SES, ob diese neuere Technologie zur Verfügung steht und die Zusammenarbeit fortgesetzt wird.

Auch mit den NGOs soll der Austausch weitergehen. Nachdem kurz unklar war, ob dieses Jahr die „Assises de la Coopération“ überhaupt stattfinden würden, scheint es nun Klarheit zu geben. Auf Anfrage der grünen Abgeordneten Stéphanie Empain und Djuna Bernard teilte Minister Franz Fayot Anfang August mit, dass er die Vertreter der NGOs „sehr bald über ein Datum informieren“ werde.


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