Ein umstrittener Vertrag, der die Klimaziele bedroht: Lange setzte sich Luxemburgs Energieminister für eine Reform der Energiecharta ein. Nach dem Austritt Frankreichs steht diese aber nun vor dem Aus. Doch die Regierung drückt sich vor einer Entscheidung.
„Claude Turmes hat mich 2019 als Erster unterstützt“, erzählt Yamina Saheb am Telefon. Die Whistleblowerin steht am Anfang des Kampfes, den Energiecharta-Vertrag (ECT) zu reformieren. Dieses internationale Übereinkommen aus den 1990er Jahren dient zum Schutz von Investitionen in Öl, Gas und Atomkraft. Als Yamina Saheb an der Modernisierung des Textes arbeitete, kam sie zum schlichten Schluss: Der Text hindert die beteiligten Staaten daran, die Pariser Klimaziele zu erreichen.
„Luxemburg führt EU-Vorstoß für klimasicheren Energiecharta-Vertrag an“, meldete die Nachrichtenplattform „Euractiv“ im September 2019. Der Energieminister Claude Turmes (Déi Gréng) forderte damals eine tiefgreifende Reform des ECT. Und er drohte mit einem Ausstieg aus dem Vertrag, falls das nicht gelinge.
„Dann hat Claude seine Meinung geändert. Ich weiß nicht warum“, sagt Yamina Saheb heute, drei Jahre später. Die Reform, für die „Mister Energy“ – so sein Spitzname aus der Zeit als EU-Abgeordneter – sich einsetzte, steht kurz vor dem Abschluss. Mit durchaus positivem Ergebnis findet Claude Turmes. „Die Modernisierung ist ein Schritt in Richtung mehr Klimaschutz“, antwortet er auf eine Anfrage von Reporter.lu.
Austritt oder nicht?
Doch nun droht das Scheitern auf der Zielgeraden. Denn viele Regierungen teilen die Einschätzung von Claude Turmes nicht. Ende Oktober kündigte der französische Präsident an, dass Frankreich aus dem Vertrag austreten wird. Der Text sei unvereinbar mit den Klimazielen, sagte Emmanuel Macron. Damit wird es immer unwahrscheinlicher, dass am 22. November die Minister der ECT-Mitgliedstaaten bei ihrem Treffen in der Mongolei die Reform annehmen.
Dass Atom-Investitionen auch weiterhin gesichert sind, steht im Gegensatz zu unserer Anti-Atompolitik.“Energieminister Claude Turmes
Neben Frankreich haben nämlich auch die Niederlande, Spanien und Polen ihren Austritt angekündigt. Deutschland bereitet diesen Schritt bereits vor, berichtete „Investigate Europe“. Folgt Luxemburg ihrem Beispiel? Oder entscheidet sich die Regierung für die Reform, die der Energieminister vorangetrieben hat? Die Regierung werde zeitnah über die Frage des Austritts kommunizieren, heißt es vom Energieminister. Da es dabei auch um den Außenhandel gehe, müsse er sich mit Außenminister Jean Asselborn (LSAP) abstimmen, betonte Claude Turmes Ende Oktober.
Doch dieses Zögern der Luxemburger Regierung stößt auf Unverständnis. „Es ist für uns völlig klar, dass die Modernisierung des ECT nicht weit genug geht“, sagt Cédric Reichel von der Luxemburger NGO „Action Solidarité Tiers Monde“ (ASTM). „Der Minister druckst herum“, kritisiert die Abgeordnete Myriam Cecchetti (Déi Lénk). Sie stellte eine parlamentarische Anfrage, um die Position von Claude Turmes zu erfahren. „Damit wir es endlich Schwarz auf Weiß haben“, sagt sie im Gespräch mit Reporter.lu.
Politischer Sprengstoff
In der Tat ist das Zögern von Claude Turmes erstaunlich. Denn der ECT enthält alles, was für einen grünen Minister politisch hochexplosiv ist: Schutz für fossile Energien und Atomkraft, eine Gefahr für das Klima, private Schiedsgerichte wie im CETA-Vertrag und Risiken für Länder des Globalen Südens. Eine Reform des ECT müsste am Ende durch das Parlament ratifiziert werden.
Yamina Saheb sieht vor allem eine große Inkohärenz. Luxemburg unterstützt die Klage Österreichs gegen die EU-Taxonomie, weil darin Investments in Gas und Atomkraft als nachhaltig definiert werden. „Das ist aber nur ein Label, das keinen Wert vor Gericht hat. Im ECT bleibt ein Schutz für die Atomenergie unbefristet und für Gaskraftwerke bis mindestens 2043“, erklärt sie.

„Dass Atom-Investitionen auch weiterhin gesichert sind, steht im Gegensatz zu unserer Anti-Atompolitik“, erkennt Claude Turmes in einer Reaktion an Reporter.lu an. Der lange Schutz von Gaskraftwerken sei ein „Schwachpunkt des verhandelten Textes“, so der Minister weiter. Der französische „Haut Conseil pour le Climat“ hielt fest, dass unter keinem Szenario der Reform die Staaten den Ausstieg aus fossilen Energien bis 2030 so gestalten könnten, dass sie den Pariser Klimazielen gerecht werden. Dem stimmt Claude Turmes auch grundsätzlich zu. Doch Teile der Modernisierung gingen weiter, betont er.
Was den ECT aktuell so problematisch macht: Konzerne können Staaten vor Schiedsgerichten auf hunderte Millionen Euro an Schadensersatz verklagen, wenn diese vorgeblich deren Investitionen gefährden. Das ist keine abstrakte Gefahr. Der schwedische Konzern „Vattenfall“ verklagte Deutschland auf einen Milliarden-Schadensersatz aufgrund des beschleunigten Atomausstiegs. Letztlich einigte sich die Bundesregierung außerhalb des Schiedsverfahrens mit dem Unternehmen. Italien muss dem Ölunternehmen „Rockhopper“ 190 Millionen Euro plus Zinsen zahlen, weil das Land beschlossen hatte, aufgrund der Klimakrise keine weiteren Ölbohrungen in seinen Gewässern zuzulassen.
Die „Zombie-Klausel“ bleibt
Das Absurde: Italien hat den ECT als erstes EU-Land bereits 2016 verlassen. Doch der Vertrag enthält einen Artikel, den NGOs als „Zombie-Klausel“ und Experten als „Sunset-Klausel“ bezeichnen. Selbst wenn ein Staat austritt, bleibt demnach der Investitionsschutz weitere 20 Jahre bestehen. Und das bedeutet ein großes finanzielles Risiko für jene Länder, die aus Öl, Gas und Kohle aussteigen wollen. Die Neutralisierung der „Zombie-Klausel“ ist ein Grund, warum Claude Turmes die Reform des ECT befürwortet. „Der Investorenschutz für fossile Energien wurde von 20 Jahren auf zehn Jahre reduziert“, betont er in einer Stellungnahme gegenüber Reporter.lu.
Doch es ist nicht so einfach, wie der Energieminister es darstellt. „Diese Klausel von 20 Jahren bleibt auch nach der Reform“, betont Martin Dietrich Brauch, Forscher am New Yorker „Columbia Center on Sustainable Investment“. Allerdings sieht die Reform einen sogenannten „Flexibilitätsmechanismus“ vor. Die ECT-Mitgliedstaaten, die das wollen, lassen den Schutz fossiler Energien nach zehn Jahren auslaufen. Gelinge die Reform, würde der Schutz für fossile Energien bereits 2033 enden, wirbt das Sekretariat des ECT-Vertrags. Tritt ein Staat aus, dann greift die „Zombie-Klausel“ und Investments in Öl und Gas wären bis 2043 geschützt, heißt es in einem Dokument.
„Diese Darstellung ist in mehreren Punkten irreführend“, kritisiert Martin Dietrich Brauch im Gespräch mit Reporter.lu. Gaskraftwerke, die lasche Emissionsgrenzen erfüllen, blieben auch über die zehn Jahre hinaus geschützt. Die Deadline von 2033 gilt nur, wenn der Vertrag bereits vor der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten provisorisch in Kraft tritt. Im geleakten Reformtext von Juni steht davon aber nichts, betont der Experte für Energiewirtschaft. Das ECT-Sekretariat nennt als zweite Deadline 2035 – mit der Annahme, dass die Ratifizierung innerhalb von drei Jahren vonstatten geht. Als Gegenbeispiel nennt Martin Dietrich Brauch das CETA-Abkommen, das sechs Jahre nach Unterzeichnung noch immer nicht in Kraft ist.
Ein zweifelhafter „Bodyguard“
Es sind also eher zehn Jahre plus X. Dazu kommt, dass die Reform des ECT-Vertrags bereits seit 2017 läuft. „Wir sollten keine Zeit mit einer Reform verschwenden“, sagte die grüne deutsche Europaabgeordnete Anna Cavazzini bei einem Webinar von „Europe Calling“. „Selbst die Modernisierung ist nicht vereinbar mit dem Zeitrahmen, der uns für den Klimaschutz bleibt“, sagt auch die Luxemburger Abgeordnete Myriam Ceccetti.
Claude Turmes wollte ursprünglich nicht nur die Gefahr bannen, die vom ECT für das Klima ausgeht. Er wolle den ECT zum „Bodyguard“ für erneuerbare Energien machen, sagte er Reporter.lu vergangenes Jahr. Tatsächlich sieht die Modernisierung auch den Schutz von Investitionen in Wind, Solarkraft, grünen Wasserstoff und das Auffangen von CO2 („carbon capture“) vor. Doch Forscher, NGOs und die Wirtschaft halten das für keine gute Idee. Der Europäische Verband für Erneuerbare Energien (EREF) forderte die EU-Staaten auf, aus dem ECT auszutreten. Der Vertrag behindere die Energiewende.
„Überzogene Äußerungen“
Der Luxemburger Generalsekretär der Energiecharta, Guy Lentz, griff Mitte Oktober Forscher und Aktivisten auf Twitter an. Die Analyse des New Yorker Forschers Martin Dietrich Brauch nannte er unter anderem „totally stupid“, berichtete „Politico“. Als andere Forscher Guy Lentz für sein Verhalten kritisierten, antwortete er: „All the green army is showing off today.“ Auf diese Episode von Reporter.lu angesprochen, spricht Energieminister Claude Turmes von „überzogenen und nicht hilfreichen Äußerungen“. Bei Martin Dietrich Brauch hat sich Guy Lentz bisher nicht entschuldigt, so der Betroffene gegenüber Reporter.lu. Guy Lentz sagte „Politico“, im Verlaufe der Twitter-Fehde sei sein Konto gehackt worden, ohne aber Belege dafür zu liefern.
Bereits jetzt sieht der ECT einen Schutz von erneuerbaren Energien vor. Das führte aber zu gemischten Resultaten. Vorwiegend Luxemburger Investmentfonds klagten in den vergangenen Jahren etwa gegen die Entscheidung Spaniens, die Förderung der Solarenergie deutlich zu drosseln. Claude Turmes sieht darin eher ein positives Beispiel. Für den Experten Martin Dietrich Brauch ist es ein Beleg, dass ein Staat in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt wird. „Das spanische Förderprogramm war zu erfolgreich, die Regierung musste eingreifen“, sagt er.
Schiedsverfahren innerhalb der EU eliminiert
Luxemburgs Energieminister betont allerdings auch, dass solche Klagen wie im Fall Spaniens mit der Reform verschwinden. Ein EU-Zusatzprotokoll soll dafür sorgen, dass Schiedsgerichtsverfahren zwischen EU-Staaten nicht mehr möglich sind. „Dadurch können fast alle fossilen Kraftwerke ab sofort durch politischen Beschluss abgeschaltet werden, ohne dass Investoren Kompensationsansprüche stellen dürfen“, betont der Minister. Des Weiteren gebe es für neue Investitionen in fossile Energien keinen Investorenschutz. Das EU-interne Abkommen begrenze auch die Folgen der Ausnahmen für neue Gaskraftwerke.
Doch es braucht die ECT-Reform nicht, um Schiedsverfahren innerhalb der EU zu beenden, sagt der Experte Martin Dietrich Brauch. Die EU muss ein Übereinkommen unter ihren Mitgliedstaaten unterzeichnen, das diese Verfahren untersagt. Die Europäische Kommission hat einen entsprechenden Entwurf bereits Anfang Oktober vorgelegt.
Gleichzeitig ist die EU in der Pflicht, zu handeln, erklärte Professorin Christina Eckes von der Universität Amsterdam bei einer Onlinekonferenz. Der aktuelle ECT-Vertrag verstoße gegen europäisches Recht betreffend die Verfahren innerhalb der Union, urteilte der Europäische Gerichtshof.
Für die EU-Staaten könnte das Problem damit einfach gelöst werden. Doch die Organisation hinter dem ECT treibt unter dem Luxemburger Generalsekretär Guy Lentz die Expansion voran. Vor allem afrikanische Länder sollen dem Vertrag beitreten, so die Vision. „Diese Länder würden durch die Gefahr von Schiedsverfahren zur Geisel westlicher Konzerne werden“, warnt dagegen Cédric Reichel von ASTM. Claude Turmes wiederum sagt, die Aufnahme neuer Mitglieder sei unter Guy Lentz gestoppt worden.
Wie geht es weiter?
Die Zeit drängt. Dass manche Staaten austreten wollen und andere noch abwarten, macht die Lage unübersichtlich. Die Niederlande kündigten an, sich Ende November bei der Abstimmung über die Reform zu enthalten, erklärt Christina Eckes. Die EU-Kommission wolle, dass die Mitgliedstaaten nicht blockieren.
Beobachter gehen davon aus, dass die Haltung Deutschlands entscheidend sein wird, wie sich die Länder positionieren, die noch wie Luxemburg zögern. In Brüssel wird die Option heiß diskutiert, dass die EU-Mitgliedstaaten aus dem ECT austreten, aber die EU als Ganzes drin bleibt. Das würde zumindest die Vorteile der Reform absichern.
Doch die Experten sind skeptisch. Christina Eckes warnt vor den Folgen der komplexen Verteilung von Kompetenzen zwischen EU-Kommission und den Mitgliedern. Alle Staaten müssten eine Ratifizierung des modernisierten ECT-Vertrags anstreben, wenn die EU als Ganzes der Reform zustimmt, sagt die Professorin für europäisches Recht.
Klar ist, dass der Druck auf die Luxemburger Regierung in den kommenden Tagen deutlich steigen wird – aus der Zivilgesellschaft, aber auch auf europäischer Ebene. Und Claude Turmes muss die Frage beantworten: Wie hast du’s mit dem Energiecharta-Vertrag?


