Beschäftigungsinitiativen sollen Langzeitarbeitslosen eine Perspektive bieten. Dass die Realität zum Teil ganz anders aussieht, zeigt das Beispiel „CIGR-Mëllerdall“. Betroffene berichten von hohem Druck, prekären Verträgen und zweifelhaften Praktiken.
„Es hatte schon etwas von Ausbeutung“, sagt Carlos Barthelemy im Nachhinein über seine Erfahrung beim CIGR-Mëllerdall. Das Ganze beginnt schon bei der Form seines Anstellungsverhältnisses. Nach mehreren Jahren bei einem großen luxemburgischen Produzenten von Reinigungsmitteln verliert der gebürtige Kubaner 2018 seinen Job. Nach rund zwei Jahren in der Arbeitslosigkeit vermittelt die Beraterin bei der Arbeitsagentur ADEM ihm ein Vorstellungsgespräch beim CIGR-Mëllerdall.
Das Gespräch verläuft positiv. Carlos Barthelemy hat einen Master-Abschluss in Logistik. Der Koordinator der Beschäftigungsinitiative gibt sich begeistert und stellt dem 57-Jährigen in Aussicht, bei den administrativen Abläufen und der Personalbetreuung zu helfen. Carlos Barthelemy stimmt dem Angebot zu.
Doch in seinem Arbeitsvertrag, der Reporter.lu vorliegt, fehlt von seinem künftigen Aufgabenbereich jede Spur. Denn er wird als Arbeitnehmer „au soutien mécanique“ angestellt. Da das „Centre d’Initiative et de Gestion Régional“ (CIGR) in Berdorf den Kollektivvertrag der Sozial- und Gesundheitsberufe anwendet, kommt die Stelle einem Grad „C3“ gleich. Das entspricht der Gehaltsklasse für handwerkliche Tätigkeiten, die einen Gesellenbrief erfordern.
Eine fast normale Anstellung
Carlos Barthelemy nimmt die Stelle dennoch an und hofft, dass er im Laufe seiner Tätigkeit aufsteigen kann. Der Grund liegt auch in seiner Situation als Langzeitarbeitsloser. Würde er sie nicht annehmen, würde seine Arbeitslosenhilfe auslaufen und er würde in die soziale Grundsicherung (Revis, vormals RMG) fallen. Mit allen Folgen, die das mit sich bringt. Etwa jener, dass seine Wohnung im Fall der Fälle als Pfand für jede ausbezahlte Hilfe angesehen werden würde.
Es wurde immer mehr Druck ausgeübt. Und irgendwann fehlten Urlaubstage auf dem Zeitkonto, ohne dass es eine Erklärung dafür gab.“Ein ehemaliger Mitarbeiter
Dass das Profil der Stelle nicht seinem zukünftigen Arbeitsbereich entspricht, sei dabei kein Zufall, so die Vermutung des Logistikers im Nachhinein. Denn Carlos Bartelemy wird nicht als regulärer Arbeitnehmer angestellt, sondern über einen sogenannten „EMI“-Vertrag (EMI steht für „emploi d’insertion“). Wie die ADEM auf Nachfrage von Reporter.lu mitteilt, sind derzeit 17 Beschäftigte des CIGR-Mëllerdall über einen EMI-Vertrag angestellt. Die ADEM selbst sei dabei nur für die Auszahlung der Gehälter zuständig, ansonsten handele es sich um „einen ganz normalen CDI“, so die Behörde in ihrer schriftlichen Stellungnahme.
Die EMI-Verträge wurden 2017 vom damaligen Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) eingeführt. Sie sollen Langzeitarbeitslose leichter in den Arbeitsmarkt integrieren. Dabei übernimmt das Arbeitsministerium sowohl die Lohnkosten als auch die Sozialabgaben. Während die Hilfe bei jüngeren Arbeitslosen gestaffelt und auf drei Jahre begrenzt ist, gilt bei Arbeitssuchenden über 50 Jahren eine andere Regelung. Für sie kann die staatliche Unterstützung in voller Höhe und bis zum Renteneintritt gezahlt werden.
Doch die Verträge haben einen Haken: Die staatliche Unterstützung ist auf das Anderthalbfache des gesetzlichen Mindestlohns begrenzt, also auf rund 3.000 Euro brutto im Monat. Was darüber hinausgeht, müsste der Arbeitgeber selbst bezahlen. Die Vermutung von Carlos Barthelemy, was seinen eigenen Posten betrifft, ist jedenfalls eindeutig: „Ich denke, hier sollte für das CIGR eine gratis Arbeitskraft erfunden werden. Das Arbeitsministerium sollte die Kosten für mich übernehmen, um so die Bilanz der Initiative zu beschönigen und Rücklagen für den Bau eines neuen Sitzes der Initiative in Beaufort zu ermöglichen.“ Es ist eine Lesart, die weitere Quellen, mit denen Reporter.lu im Laufe der Recherche gesprochen hat, bestätigen.
Eine höchst profitable Initiative
Auch ein Blick in die Bilanzen des CIGR-Mëllerdall stützen auf den ersten Blick diese These. So hat die Initiative 2020 einen Gewinn von rund 640.000 Euro erwirtschaftet, 2021 sind es immer noch 530.000 Euro. Hinzu kommen Bankeinlagen von über zwei Millionen Euro im Jahr 2021. Allerdings geht nur ein Bruchteil der Einnahmen auf die eigentlichen Aktivitäten des CIGR zurück. Den Großteil der Bilanzsumme machen Subventionen des Staates aus. 2021 sind es fast zwei Millionen Euro. Zusätzlich fast 600.000 Euro steuerten 2021 jene zehn Gemeinden bei, die Mitglieder beim CIGR-Mëllerdall sind. Aktuell sind das Befort, Berdorf, Consdorf, Echternach, Heffingen, Fels, Nommern, Reisdorf, Rosport-Mompach sowie Waldbillig.

Was macht eine Beschäftigungsinitiative mit so hohen finanziellen Rücklagen? Das CIGR-Mëllerdall plant etwa den Bau eines neuen Hauptsitzes für seine insgesamt 65 Mitarbeiter. Auf dieses Projekt angesprochen, betont das Arbeitsministerium, dass es sich generell nicht an der Finanzierung von Infrastrukturen der Initiativen beteilige. Diese müssten aus Eigenmitteln finanziert werden. Demnach müssten die Beschäftigungsinitiativen einen Teil ihrer Kosten selbst decken und „auch nach ökonomischen Kriterien funktionieren“, so das Arbeitsministerium schriftlich.
Dabei ist die Erwirtschaftung eines Gewinnes eigentlich zweitrangig für die Mission des CIGR. Denn rechtlich handelt es sich um einen gemeinnützigen Verein. Ziel ist es, Personen wieder fit für den ersten Arbeitsmarkt zu machen. So bietet das CIGR-Mëllerdall Menschen ab 60 Jahren Hilfe im Garten an und verleiht über das „Rent-a-Bike“-System Fahrräder an Touristen.
Fragwürdige Personalpraktiken
Neben regulären Arbeitnehmern und über EMI-Verträge angestellte Mitarbeitern, wie Carlos Barthelemy, greift die Initiative auch auf die Hilfe von Leistungsempfängern des „Revis“ zurück, um diese Arbeit auszuführen. Dabei handelt es sich um eine besonders vulnerable Gruppe, die Schwierigkeiten hat, auf dem regulären Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Die Arbeit beim CIGR soll für Struktur sorgen. Und die Personen sollen dabei sozial begleitet werden. Allerdings gibt es beim CIGR-Mëllerdall berechtigte Zweifel daran, dass das im Arbeitsalltag so stattfindet. So sollen etwa wiederholt Leistungsempfänger zum „Chef d’équipe“ ernannt worden sein. Eine Praxis, die das Arbeitsministerium auf Nachfrage von Reporter.lu bestätigt. In einem Audit des CIGR-Mëllerdall prüfe das Ministerium aktuell die Abläufe in der Beschäftigungsinitiative, so ein Sprecher von Arbeitsminister Georges Engel. Generell stelle man jedoch fest, dass „Leistungsempfänger keine „Chef d’équipe“-Posten übernehmen sollen, die ihnen in irgendeiner Form Autorität über andere Leistungsempfänger geben könnten.“
Eine Beschäftigungsinitiative muss ihre Kosten zum Teil mit eigenen Einnahmen decken und demnach auch nach ökonomischen Kriterien funktionieren.“Stellungnahme des Arbeitsministeriums
Einer der Leistungsempfänger war Daniel*. Der heute 30-Jährige kam Anfang 2020 zum CIGR-Mëllerdall. Anfangs läuft eigentlich alles problemlos, doch nach einiger Zeit häufen sich die Probleme, so der junge Mann. „Es wurde immer mehr Druck ausgeübt. Und irgendwann fehlten Urlaubstage auf dem Zeitkonto, ohne dass es eine Erklärung dafür gab,“ sagt Daniel. Doch am meisten kritisiert er, dass die Leistungsempfänger alleingelassen würden und von einer richtigen Begleitung keine Rede sein könne. „Eigentlich soll jeder ein Praktikum machen, um wieder einen richtigen Job zu finden. Dabei soll das CIGR helfen. Aber ich habe mich allein um alles gekümmert. Sonst hätte ich heute noch immer keinen Job.“
Alleingelassen fühlte sich auch Tom*. Er fängt im Frühsommer letzten Jahres bei der Beschäftigungsinitiative an. „Ich hatte davor eine schwierige Zeit und das CIGR war für mich eine Chance auf einen Neuanfang“, so der junge Mann. Doch bereits kurz nach seinem Start erleidet Tom den nächsten Schicksalsschlag. Er wohnt im deutschen Grenzgebiet und das Hochwasser erwischt ihn mit voller Wucht. Seine Wohnung wird über Nacht unbewohnbar. Er weist die Beschäftigungsinitiative auf seine Lage hin und bittet um Zeit, um die Flutschäden zu beseitigen. Doch auf Verständnis oder Solidarität durch das CIGR-Management hofft er eigenen Aussagen zufolge vergeblich. „Als ich nach zwei Wochen aufräumen und auf der Straße schlafen wieder da war, teilte die Leitung mir lediglich mit, dass man wegen der Fehlzeit einen Teil meiner Urlaubstage gestrichen hätte.“
Was Tom und Daniel unabhängig voneinander an der Struktur bemängeln: Es gebe innerhalb des CIGR-Mëllerdall keine Anlaufstelle für einen offenen Austausch. Die Leistungsempfänger würden im Falle von Problemen einfach alleingelassen. Ihnen bleibe nur, wie Daniel es ausdrückt, „de schéine Männchen ze maachen.“
Allmächtige Koordinatoren
Nun ist ein solches Machtgefälle auch bei einer regulären Arbeitsstelle nicht ungewöhnlich, samt mitunter unbeliebten Vorgesetzten. Doch die Situation der Leistungsempfänger ist besonders prekär. Grund dafür ist unter anderem die Reform des Revis-Gesetzes von 2018. Dieses sieht vor, dass die Sozialämter für jeden Revis-Bezieher einen „plan d’activation“ ausarbeiten müssen. Darin vorgesehen ist explizit die Teilnahme an „des travaux d’utilité collective“ bei einer Gemeinde oder einer sonstigen Beschäftigungsinitiative wie einem CIGR. Halten sich die Leistungsempfänger nicht an die Vereinbarung oder kommt es zu Problemen mit der Beschäftigungsinitiative, sieht das Gesetz Sanktionen vor. In Extremfällen können diese bis zur Streichung der Sozialleistungen reichen.

Beim CIGR erhalten die Leistungsempfänger für ihre Arbeit den sozialen Mindestlohn. Die Dauer der Verträge ist gestaffelt. Dabei wird zunächst ein Vertrag über vier Monate geschlossen. Danach kann dieser um acht Monate verlängert werden. Nach dieser Periode wird ein Vertrag über ein Jahr abgeschlossen. Die Praxis soll verhindern, dass sich Empfänger gleich zu Beginn für eine längere Zeit krankschreiben lassen. Bei Fehlverhalten können die Verträge jederzeit gekündigt werden. Die Entscheidungsgewalt liegt dabei beim jeweiligen Koordinator des CIGR. Auch ob die Verträge verlängert werden, entscheidet der Koordinator.
Es ist eine Entscheidungsgewalt, die sowohl Daniel und Tom als auch andere Quellen im Gespräch mit Reporter.lu ausdrücklich kritisieren. Der Vorwurf: Der Koordinator des CIGR-Mëllerdall nutze seine Macht nach Belieben. Wer nicht spure, fliege eben raus. Und: Er schließe Verträge mit Leistungsempfängern gezielt so ab, dass sie zum Winteranbruch auslaufen. Also dann, wenn im CIGR weniger zu tun sei.
Ein ganz „normaler Prozess“
„Es wird immer Personen geben, die ein Projekt kritisieren oder unbegründet schlecht darüber reden“, sagt hingegen Hugues Herbillot, der Koordinator des CIGR-Mëllerdall. Auf Nachfrage von Reporter.lu betont der Verantwortliche die Erfolgsaussichten der Beschäftigungsinitiative. 42 Prozent der Leistungsempfänger würden nach ihrer Tätigkeit beim CIGR einen Arbeitsplatz finden, so Hugues Herbillot. Um eine „objektive Sicht“ auf seine Arbeit zu erhalten, müsse man auch diese Menschen befragen.
Der Koordinator bekräftigt zudem, dass alle „Centres d’Initiative et de Gestion“ seit dem vergangenen Jahr einer stärkeren Kontrolle durch das federführende Ministerium unterliegen. Das sei für ihn ein „normaler Prozess“, sagt Hugues Herbillot. Auf Nachfrage heißt es aus dem Arbeitsministerium: „Die Kritik einzelner Leistungsempfänger am Koordinator ist dem Ministerium bekannt. Derzeit warten wir auf eine Stellungnahme des CIGR, ehe wir daraus eine definitive Schlussfolgerung ziehen.“
Bereits in der Vergangenheit standen einzelne „Centres d’Initiative et de Gestion“ in der öffentlichen Kritik. Im Fall von Wiltz sowie Differdingen standen dabei unrechtmäßige Arbeiten der Initiativen für die jeweiligen Bürgermeister im Raum. In beiden Fällen sollen diese auf die Initiativen in ihrer Gemeinde zurückgegriffen haben, um Arbeiten an ihrem Wochenendhaus durchzuführen. Gravierender waren die Vorwürfe im Fall vom „CIGR-Syrdall“. Dort stand unter anderem der Vorwurf der sexuellen Belästigung gegen den dortigen Koordinator der Initiative im Raum – die Justiz fand jedoch nicht genügend Beweise, um die Sache weiter zu verfolgen.
Carlos Barthelemy ist derweil wieder auf Arbeitssuche. Anfang des Jahres wurde er entlassen. Die Begründung laut dem 57-Jährigen: Er habe sich geweigert, Aufgaben auszuführen, die nicht seiner Postenbeschreibung entsprachen. Etwa das Dolmetschen bei vertraulichen Gesprächen mit Leistungsempfängern. „Dabei war ich bis zum Schluss als ‚Aide mécanique‘ eingestellt“, betont Carlos Bartelemy nicht ohne Schmunzeln.
Die Pläne für ein neues Hauptgebäude für das CIGR-Mëllerdall werden derweil konkreter. Denn am 16. Juni feierte das CIGR-Mëllerdall sein zehnjähriges Bestehen. Höhepunkt der Festlichkeiten: Die symbolische Grundsteinlegung für das neue Gebäude der Initiative. Die Ehre, die beiden Steine mit Mörtel zu befüllen, wurde dabei Arbeitsminister Georges Engel (LSAP) sowie Mittelstands- und Tourismusminister Lex Delles (DP) zuteil. Die persönlichen Vorwürfe und die von mehreren Quellen bestätigten Auffälligkeiten in der Personalführung waren an diesem Tag kein Thema.
* Der Name wurde von der Redaktion geändert.