Die Coronakrise hat die Ungleichheiten in der Schule weiter verschärft. Da sind sich Experten einig. Sie fordern gezielte Maßnahmen, um Lernrückstände aufzuholen. Doch der Minister legt den Fokus mit seinen Reformen vor allem auf kommende Generationen.
„Wir haben keine signifikanten Lernrückstände durch Corona festgestellt“, sagte Claude Meisch (DP) während einer Pressekonferenz zum Beginn des Schuljahres. Vielmehr gebe es „immer Schüler, die Schwierigkeiten haben“, so der Bildungsminister. Ohnehin will man im Ministerium lieber nach vorne schauen. Dieses Jahr stehe wieder im Zeichen der Normalität, so Claude Meisch. Zumindest in der Schule gilt die Pandemie als beendet.
Dass man keine „systematische Verschlechterung der Kompetenzen“ feststellen könne, wie es im Jargon des Bildungsministeriums heißt, verdeckt jedoch ein andauerndes Problem: Die Lernrückstände treten in der Tat vereinzelt auf. Doch bestimmte Bevölkerungsschichten sind besonders betroffen. Und: Die Pandemie hat die Situation für die betroffenen Schülerinnen und Schüler durchaus verschlechtert.
Sprachenbedingte Benachteiligung
Spricht man mit Lehrern und anderen Experten des Bildungssystems, ergibt sich jedenfalls ein anderes Bild als jenes, das von offizieller Seite gezeichnet wird. Im Rahmen dieser Recherche hat Reporter.lu sich mit mehreren Lehrkräften von unterschiedlichen Fächern unterhalten. Der Tenor: Die Pandemie führte vielleicht nicht zu neuen, strukturellen Lernrückständen. Sie hat jedoch die bestehenden Ungerechtigkeiten im System nur noch weiter verstärkt.
„Die Schule ist nicht fair und das hat sich auch hier gezeigt“, sagt etwa ein Mathematiklehrer eines Lyzeums aus der Hauptstadt. Vor allem Schüler aus benachteiligten Familien haben durch den Distanzunterricht in einigen Fächern Rückstände zu verzeichnen, so der Lehrer im Gespräch mit Reporter.lu. Das zeigt sich auch in den Ergebnissen der „Epreuves standardisées“ für die Jahre 2020 und 2021.
Das Virus greift auch in der Schule die Vulnerablen an.“Antoine Fischbach, Bildungsforscher
Die Forscher des „Luxembourg Centre for Educational Testing“ (Lucet) stellten für beide Jahre vor allem Lernschwächen in der Lesekompetenz im Deutschen fest. Besonders betroffen sind Kinder, die zu Hause nur wenig Zugang zu dieser Sprache haben. Durchweg verzeichnete das Lucet für Schüler des Cycle 4.1 Schwierigkeiten im Leseverständnis. Bei französischsprachigen Schülern sind diese jedoch besonders ausgeprägt. Die größten Rückstände hatten portugiesischsprachige Kinder – und das sowohl vor als auch nach den Monaten des pandemiebedingten Fernunterrichts.
Diese Kinder hatten schon vor der Pandemie Schwierigkeiten im Leseverständnis. Allerdings hat sich die Lage weiter verschlechtert. „Das Virus greift auch in der Schule die Vulnerablen an“, sagt Antoine Fischbach im Gespräch mit Reporter.lu. Der Forscher und Direktor des Lucet zeigt sich über den Befund wenig überrascht. „Covid hat wie ein Brennglas die Ungerechtigkeit im System weiter angefeuert“, sagt Antoine Fischbach.
Deutschkompetenzen nehmen ab
Aus den Analysen der Forscher geht zudem hervor, dass manche Rückstände im zweiten Pandemiejahr wieder eingeholt werden konnten. Demnach litt auch das Hörverstehen im Deutschen im Jahr 2020. Ein Jahr später ist die durchschnittliche Leistung aber wieder gestiegen. Die Botschaft an die Schulen sei also angekommen, meint Antoine Fischbach.
Man redete mit einem Bildschirm und wusste genau, dass da niemand dahinter sitzt.“Philippe Marson, Deutschlehrer und Sonderpädagoge
Doch auch das ist kein Grund zur Entwarnung: Der Befund gelte nämlich nicht für jene Schüler, die zusätzliche Aufmerksamkeit am nötigsten gehabt hätten. Zwar würden „Eltern von Schülern aus sozio-ökonomisch benachteiligten Haushalten oder nicht-luxemburgisch- oder nicht-deutschsprachigen Familien“ berichten, dass sie etwas mehr Unterstützung durch die Lehrer erhalten hätten als andere. Doch: „Die schlechten Ergebnisse der einen wurden durch die Resultate der luxemburgisch- und deutschsprachigen Kinder überkompensiert“, so die Erklärung des Experten.

Die Forschungsergebnisse decken sich mit den Erfahrungen vor Ort. „Eine Kollegin musste jetzt mit den Schülern in der siebten Klasse im Deutschunterricht die Personalpronomen durchnehmen“, erzählt etwa der Deutschlehrer Philippe Marson im Gespräch mit Reporter.lu. Durch Covid müssten bei vielen Kindern die Grundlagen der Sprache wieder aufgearbeitet werden, so der Sonderpädagoge im Lycée Fieldgen. Manche Schüler habe man einfach nicht mehr erreicht. „Man redete mit einem Bildschirm und wusste genau, dass da niemand dahinter sitzt“, sagt Philippe Marson.
Die Folgen zeigen sich zudem in anderen Fächern. „Wenn die Lesekompetenz in Deutsch abnimmt, hat man auch in anderen Sprachen Schwierigkeiten“, sagt ein Englischlehrer aus dem Norden des Landes im Gespräch mit Reporter.lu. Diese Kompetenzen wurden in der Studie des Lucet jedoch nicht überprüft.
Das Problem der Schulabbrecher
Doch nicht nur die schulische Leistung der Schüler hat sich durch die Pandemie verändert, berichten die Experten. „Ich hatte im letzten Jahr drei Schülerinnen, die aufgrund von psychischer Belastung die Schule abgebrochen haben. Das hatte ich in diesem Maße noch nie erlebt“, sagt der Mathematiklehrer eines Lyzeums aus der Hauptstadt, der sich nur unter Wahrung seiner Anonymität mit Reporter.lu unterhielt.
In den offiziellen Statistiken des Ministeriums ist diese Tendenz allerdings nur zum Teil ersichtlich. Für das Schuljahr 2020/2021 verzeichnete das Bildungsministerium einen Anstieg von fast 20 Prozent bei den Schulabbrechern im Vergleich zum Vorjahr. Doch gleichzeitig haben sich auch mehr Schulabbrecher als zuvor wieder eingeschrieben. Damit blieb die relative Zahl der Schulabbrecher pro Jahr unverändert.
Mehrere kleinere Rückstände in einzelnen Bereichen ergeben in der Summe später einen großen Lernrückstand.“Ein Mathematiklehrer
Wie sich die Pandemie auf das Schuljahr 2021/2022 ausgewirkt hat – also auf den Jahrgang, in dem der Lehrer von erstaunlich vielen Schulabbrecherinnen berichtet – ist noch nicht bekannt. Das Bildungsministerium könne die Statistiken zu den Schulabbrechern erst Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres veröffentlichen, heißt es in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage. Das Bildungsministerium will die Schulpflicht zudem auf 18 Jahre erhöhen. Allerdings soll das Gesetz erst in drei Jahren in Kraft treten.
Der Schulabbruch ist dabei auch ein Symptom der mentalen Belastung der Schüler. Die Universität Luxemburg hat gemeinsam mit der Unicef die psychische Belastung der Schüler durch die Pandemie erforscht. Dabei stellten sie fest, dass rund drei Viertel der zwölf- bis 16-jährigen Mädchen mehr negative Emotionen als üblich verspürten und sich auch öfter Sorgen machten als zuvor. Bei den Jungen war dies für weniger als ein Drittel der Fall.
Indirekte Folgen und neue Defizite
Um den Schülern entgegenzukommen, haben manche Lehrer ihnen im Fernunterricht persönliche Gesprächsstunden angeboten. „Ich habe manchmal ein bis zwei Stunden mit Schülern außerhalb der Unterrichtsstunden geredet, um mich zu erkundigen, wie es ihnen geht. Zum Teil hatten sie sonst niemanden, mit dem sie reden konnten“, erklärt der Mathematiklehrer. Der soziale Kontakt hat den Kindern in mehrfacher Hinsicht gefehlt.
Ich bezweifele, dass es möglich ist, diese Lernrückstände aufzuholen, wenn der Staat dafür keine zusätzlichen Mittel bereitstellt.“Vera Dockendorf, Gewerkschaft SEW
„Die Schüler der Unterstufe sind nicht mehr gewohnt, in Gruppen zu arbeiten. Dies aufzuholen, führt zwangsläufig dazu, dass man weniger Zeit für anderes Unterrichtsmaterial hat“, sagt ein Englischlehrer aus dem Norden des Landes.
Das Ministerium hat die Lehrer zusätzlich gebeten, das Schulprogramm auf das Wesentliche zu beschränken. Ein Teil des als unwesentlich empfundenen Materials wird für manche Aufgaben in den späteren Schuljahren dennoch vorausgesetzt. Der Rückstand könnte sich also erst später zeigen. „Mehrere kleinere Rückstände in einzelnen Bereichen ergeben in der Summe später einen großen Lernrückstand“, so der Lehrer für Mathematik.
Des Weiteren berichten alle Lehrer, dass die Versetzungskriterien in den beiden letzten Jahren besonders lasch ausgelegt wurden. Gelten in diesem Jahr wieder die üblichen Kriterien, könnte das für viele Schüler zu einem bösen Erwachen führen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Rückstände nicht aufholbar seien.
„Summerschool“ mit begrenzter Wirkung
Um gegen die seiner Meinung nach zwar „nicht signifikant“ angestiegenen Lernrückstände vorzugehen, setzt Minister Claude Meisch auf die 2020 eingeführte „Summerschool“. Dabei handelt es sich um eine zusätzliche Hilfestellung für betroffene Schüler, die in den letzten zwei Wochen der Sommerferien bestimmten Lernstoff nachholen können. Zudem wurden mehrere Onlinetools entwickelt, die die Kinder zum Lesen anregen sollen. In diesem Jahr kommt noch die Möglichkeit hinzu, die Hausaufgaben in der „Maison relais“ zu erledigen.

Die Wirkung von „Summerschool“ und Co. hält sich jedoch in Grenzen. „Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass man in zwei Wochen einen Rückstand aufholen kann, der sich über ein Jahr angesammelt hat“, erklärt ein Englischlehrer, der im Norden des Landes unterrichtet. Dabei wird nicht mal während zwei Wochen unterrichtet. Die Schüler können in der „Summerschool“ lediglich zehn bis zwölf Stunden in einem Fach belegen. Haben sie in mehreren Fächern Lernschwächen, müssen sie sich für eins entscheiden. Die Lehrer sollten zudem 54 Stunden Nachhilfestunden jährlich anbieten, erklärte Claude Meisch auf der Pressekonferenz Anfang September. Diese Regelung besteht in der Grundschule bereits seit 2009.
Durch das Schulsystem haben wir schlicht keine Zeit, uns länger mit Kindern mit Lernrückständen zu beschäftigen.“Philippe Marson, Deutschlehrer und Sonderpädagoge
„Ich bezweifele, dass es möglich ist, diese Lernrückstände aufzuholen, wenn der Staat dafür keine zusätzlichen Mittel bereitstellt“, sagt Vera Dockendorf vom „Syndikat Erzéiung a Wëssenschaft“ (SEW) im Gespräch mit Reporter.lu. Die Lehrergewerkschaft des OGBL fordert deshalb kleinere Klassen und eine wirksame Hausaufgabenhilfe in den Schulen anstatt in den „Maison relais“.
Mit anderen Worten: Letztlich fehlt es an Schulpersonal, um die Rückstände aufzuholen. „Durch das Schulsystem haben wir schlicht keine Zeit, uns länger mit Kindern mit Lernrückständen zu beschäftigen. Dafür ist keine Stunde im Stundenplan vorgesehen“, sagt auch Deutschlehrer Philippe Marson.
Bis Ostern 2022 wurden die Lehrer in der Grundschule noch durch zusätzliches Personal, wie etwa Jugendliche, die gerade ihren Abschluss gemacht haben, unterstützt. Danach wurden diese jedoch wieder abgezogen, um Schüler aus der Ukraine zu betreuen.
Studienergebnisse stehen noch aus
Das Ministerium bleibt indes bei seiner positiven Erzählung: Die Luxemburger Schulen sind deutlich besser durch die Pandemie gekommen als etwa die deutschen. „In Deutschland haben die Kinder einen Lernrückstand von einem halben Schuljahr, das haben wir hier nicht“, so Claude Meisch während seiner Pressekonferenz. Auch Antoine Fischbach zeigt sich positiv überrascht, dass der Lernrückstand nicht größer ausfiel. Covid habe gezeigt, dass die Schulen sich schneller anpassen können, als dies vielleicht erwartet wurde, so der Bildungsforscher.
Der Schaden konnte zumindest begrenzt werden. Doch für manche Kinder könnte sich das wahre Ausmaß der Rückstände erst später zeigen. Die Datenlage zu Langzeitfolgen von Schulschließungen ist nämlich noch dünn. Nach einem Erdbeben in Pakistan im Jahr 2005 fand etwa 14 Wochen lang kein Unterricht statt. Dort konnten Forscher vier Jahre später einen Lernrückstand von anderthalb bis zwei Jahren im Vergleich mit nicht betroffenen Schülern feststellen. Allerdings fand in der Zeit auch kein Fernunterricht statt, sodass die Situation nur schwer mit der heutigen Lage zu vergleichen ist.
Erste Daten für Luxemburg könnte es im nächsten Jahr geben. „In der Erhebung im November finden wir nun zum Großteil die Kinder wieder, die bereits 2020 an den Epreuves standardisées teilgenommen haben“, berichtet Antoine Fischbach. Dann könnten auch erste, wenn auch unvollständige Schlüsse über mögliche bleibende Folgen der Pandemie gezogen werden. Doch der Direktor des Lucet rechnet erst Ende nächsten Jahres mit einer Veröffentlichung. Andere Projekte hätten zurzeit Priorität.
Späte Antworten auf alten Befund
Im kommenden Jahr soll das Lucet etwa erste Auswertungen zu den öffentlichen Europaschulen vorlegen. Diese gelten als Antwort des Ministers auf die durch die Mehrsprachlichkeit bedingte Ungerechtigkeit des Schulsystems. Das Parallelsystem soll vor allem Schülern aus nicht-luxemburgischsprachigen Familien eine dauerhafte Alternative bieten. Also genau jener Bevölkerungsgruppe, die durch Covid auch mehr Lernrückstände aufwies.
Die Schule kann nicht alles richten, was in der Gesellschaft nicht funktioniert.“Antoine Fischbach, Direktor des Lucet
Die Reformen sind späte Antworten auf einen alten Befund. Schon in der ersten Bildungsstudie von 1968 wurde festgestellt, dass der sozio-ökonomische Hintergrund für den Lernerfolg ausschlaggebend ist. „Kommen dann noch eine andere Muttersprache und ein Migrationshintergrund hinzu, wird es zu einem perfekten Sturm“, sagt Lucet-Direktor Antoine Fischbach. Mit der Alphabetisierung auf Französisch soll für kommende Generationen ein weiteres Angebot geschaffen werden.
Der Forscher mahnt dennoch zur Vorsicht: „Die Schule kann nicht alles richten, was in der Gesellschaft nicht funktioniert“, so Antoine Fischbach. Aber Potenzial nach oben gibt es. In keinem anderen Land, das an der PISA-Studie teilnimmt, hängt der schulische Erfolg in diesem Maße vom sozio-ökonomischen Hintergrund ab. Für die jetzige Generation kommen die großen Reformen der vergangenen Jahre allerdings definitiv zu spät.




