Starke Personalisierung, überholter Regionalismus, mangelnde Repräsentativität: Luxemburgs Wahlsystem ist aus mehreren Gründen umstritten. Eine Reform drängt sich auf. Doch damit wären nicht alle Defizite der Demokratie behoben. Eine Analyse.
„Richtung Demokratie“, stand im Sommer an mehreren Orten in der Hauptstadt auf dem Gehweg. Wo genau die Pfeile hinführten, war auf den ersten Blick nicht offensichtlich, teils zeigten sie in unterschiedliche Richtungen. Das Ziel sollte eigentlich das provisorische Parlament im „Cercle Cité“ sein. Ob gewollt oder nicht, stehen die Richtungsweiser aber sinnbildlich für die mitunter konfuse Debatte über eine Demokratiereform in Luxemburg.
Dabei geht es nicht nur um die Qualität des parlamentarischen Systems als Ausdruck des alle fünf Jahre geäußerten Wählerwillens. Vor allem das Wahlsystem steht im Verruf, den Anforderungen einer Demokratie nicht ausreichend gerecht zu werden. Und damit stellen sich wiederum grundsätzliche Fragen der politischen Partizipation, aber auch des Grades der Repräsentativität und damit der Legitimität des ganzen Systems.
Was ist überhaupt Demokratie? Eine gängige Definition stammt vom ehemaligen US-Präsidenten Abraham Lincoln. Er sprach von einer „Regierung durch das Volk“ und „für das Volk“. Daraus schloss etwa der deutsche Politologe Fritz W. Scharpf, dass die Legitimität eines Systems nicht nur auf dem demokratischen Zustandekommen von Entscheidungen, sondern auch auf der Zustimmung des Volkes und der Nützlichkeit von demokratischen Institutionen beruht. Bei dieser Balance spielt das Wahlsystem eine entscheidende Rolle.
System mit „luxemburgischem Charakter“
Luxemburgs Wahlverfahren steht immer wieder in der Kritik. Mal lautet der Vorwurf, dass es größere Parteien bevorteilt. Mal wird von Beobachtern bemängelt, dass es bei Wahlen stärker auf den Bekanntheitsgrad von Politikern als auf die politischen Inhalte der Parteien ankommt. Doch die Probleme des Wahlgesetzes und die darauf fußende Kritik sind nicht neu, sie bestehen zum größten Teil seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1919. Ähnlich alt sind denn auch die Kritikpunkte am Kernverfahren der Luxemburger Demokratie und die – zumindest zaghaften – Versuche einer Wahlreform.
Auch vor den vergangenen Parlamentswahlen sollte während der Debatten zur Verfassungsreform das Wahlsystem zur Diskussion stehen. Der Vorstoß, die vier Wahlbezirke durch einen nationalen Wahlbezirk zu ersetzen, verlief jedoch im Sand. „Außer zu einem größeren Streit, führt diese Diskussion zu nichts“, sagte der damalige LSAP-Fraktionsvorsitzende Alex Bodry im Interview mit „Radio 100,7“. Er sollte recht behalten. Keine Partei äußerte seitdem ein glaubhaftes Interesse an einer grundsätzlichen Reform.
Das personalisierte Verhältniswahlrecht stärkt in der Regel Mitglieder der Exekutive (…) und erschwert damit auch den politischen Wandel.“
Als vor mehr als 100 Jahren das Zensuswahlrecht durch ein allgemeines Wahlrecht ersetzt wurde, stellten sich die Abgeordneten natürlich die Frage, welches Wahlsystem künftig gelten solle. Das Parlament behielt damals ein strenges Verhältniswahlsystem mit vier Wahlbezirken und Wahllisten zurück. Diese Entscheidung wurde lange als eine Stärkung der erst kurz zuvor entstandenen Parteien gewertet. Die Parteien würden die Listenplätze der Kandidaten festlegen, die inhaltliche Ausrichtung sollte damit entscheidender sein als die Köpfe. Doch die Reform scheiterte am Staatsrat.
Das Verbot des Panaschierens würde „dem Wähler schaden und den luxemburgischen Charakter nicht berücksichtigen“, schrieb der damals noch weitaus politischer argumentierende Staatsrat in seinem Gutachten. Was dieser „luxemburgische Charakter“ sei, ließen die Verfassungshüter offen, wie der Publizist und langjährige Abgeordnete Ben Fayot (LSAP) in einem Beitrag anlässlich des 100. Jahrestags der Einführung des allgemeinen Wahlrechts schrieb.
Seitdem scheiterten alle Versuche einer grundlegenden Reform. Das Panaschieren ist weiterhin möglich, die vier Wahlbezirke bestehen fort und die Berechnungsmethode für die Sitzverteilung ist unverändert. Es sind genau diese drei Punkte, die immer wieder kontrovers diskutiert werden und von deren Überwindung sich Kritiker eine stärkere Repräsentativität des ganzen parlamentarischen Systems erhoffen.
Die Personalisierung der Politik
Die seit Jahren zunehmende Tendenz des Panaschierens zwischen unterschiedlichen Listen führt zu einer Abhängigkeit der Parteien von bekannten Persönlichkeiten. Im Zentrum- oder Südbezirk hat bei den letzten Legislativwahlen im Schnitt etwa jeder zweite Wähler mindestens eine Stimme für Xavier Bettel (DP) oder Jean Asselborn (LSAP) abgegeben. Beide Politiker holten jeweils im Alleingang zehn Prozent der Stimmen für ihre Partei, betrachtet man nur die persönlichen Stimmen, sind es gar 25 Prozent.
Das Wahlergebnis einer Partei hängt somit auch stark vom persönlichen Wahlergebnis des jeweiligen Spitzenkandidaten ab. Zudem stärkt das personalisierte Verhältniswahlrecht in der Regel Mitglieder der Exekutive, ehemalige Kabinettsmitglieder oder profilierte Lokalpolitiker und erschwert damit auch den politischen Wandel. Die lange Amtszeit von Ex-Premier Jean-Claude Juncker (CSV) ist dafür nur das offensichtlichste Beispiel.
Ein weiterer Effekt: Schafft eine Partei es nicht, sich an einer Regierung zu beteiligen, ist eine personelle Erneuerung ein risikoreiches Unterfangen. Nur so können unbekanntere Kandidaten ins Parlament nachrücken. Von den aktuell 21 CSV-Abgeordneten sitzen lediglich Georges Mischo und Paul Galles zum ersten Mal im Parlament. Es zeigt, wie schwierig eine Neuaufstellung und somit auch politische Neuausrichtung in einem personenbezogenen System ist. Auch aus diesem Grund tendieren nun fast alle Parteien zu einer Doppelspitze.
Eine Abkehr von diesem System ist jedoch kaum noch möglich. „Es gibt kein Land, das von einem personalisierten Wahlsystem zu einer reinen Listenwahl überging“, sagt Alex Bodry im Gespräch mit Reporter.lu. Tatsächlich ist eher ein entgegengesetzter Trend zu beobachten. Menschen wollen unabhängig von ihrem Wahlbezirk für den Spitzenkandidaten abstimmen, das zeigen sämtliche Umfragen, die nach einer Parlamentswahl in Luxemburg durchgeführt wurden. „Stünde der Spitzenkandidat in allen Wahlbezirken zur Auswahl, würde seine Position innerhalb der Partei noch weiter gestärkt“, erklärt der Politologe Philippe Poirier gegenüber Reporter.lu. Die starken Lokalsektionen der Parteien würden somit an Einfluss verlieren.
Bezirksproporz und Regionalismus
Die Einteilung des Landes in vier Wahlbezirke beruhte auf regionalen Differenzen. Sie stammen aus einer Zeit, als der Süden des Landes fast ausschließlich von der Industrie lebte, Norden und Osten eher landwirtschaftlich geprägt waren und der heute mächtige Finanzplatz der Hauptstadt noch keine Rolle spielte. Diese Unterschiede haben in den vergangenen 100 Jahren jedoch stark abgenommen. Doch die Regionen bestehen fort und somit auch ihr überdurchschnittlicher politischer Einfluss.
Die LSAP ist etwa weiterhin stark abhängig von ihrer Südsektion, die DP dafür vom Zentrum. „In einer solchen Konstellation ist es für Kandidaten aus anderen Bezirken schwer, Akzente zu setzen“, sagt Philippe Poirier. Auch innerhalb der Regierung spielen die Bezirke eine große Rolle. Ministermandate werden stets nach dem Prinzip des Regionalproporzes verteilt, was niemand in den großen Parteien auch nur zu hinterfragen wagt.
Durch den angekündigten Rückzug Romain Schneiders müsste demnach ein weiterer LSAP-Politiker aus dem Norden in die Regierung nachrücken. Hält die Partei auch dieses Mal daran fest, kommt eigentlich nur Claude Haagen für ein Ministermandat infrage. Es ist eine selbst auferlegte Einschränkung, wodurch womöglich geeignetere Kandidaten nur aufgrund ihrer Herkunft bzw. ihres registrierten Wohnorts ausgeschlossen werden.
Doch der Bezirksproporz ist nur das offensichtlichste Problem. In der Kritik stehen die Wahlbezirke vor allem für ihren Einfluss auf das Endergebnis. Da im Osten nur sieben Abgeordnete gewählt werden, existiert dort faktisch eine Sperrklausel. Demnach muss eine Partei im kleinsten Wahlbezirk etwa zehn Prozent erreichen, um eine Chance auf ein Restmandat zu haben. Die Wahlbezirke und die Sitzvergabe nach dem D’Hondt-Verfahren benachteiligen demnach kleinere Parteien und können zu verzerrten Wahlergebnissen führen.
Nicht unproblematische Alternativen
Die Berechnungsmethode steht bereits seit Jahren in Verruf. In Deutschland wird das D’Hondt-Verfahren nur noch in drei Bundesländern angewendet. Alternativen gibt es genug. Der Soziologe Fernand Fehlen schlägt zum Beispiel das sogenannte doppeltproportionale Zuteilungsverfahren vor. Mit diesem Verfahren würde „auf einen Schlag die Ungleichbehandlung der Wähler in den verschiedenen Bezirken und die Bevorteilung der großen Parteien durch das archaische d’Hondt-Sitzzuteilungsverfahren beseitigt“, schreibt der Forscher im „Forum“.
Mit dieser Berechnungsmethode könnten die Wahlbezirke zwar beibehalten werden, ohne jedoch die kleineren Parteien zu benachteiligen. Es handele sich dabei um einen „pragmatischen Vorschlag“ für eine Reform, so Fernand Fehlen. Um eine Zersplitterung der Parteienlandschaft zu verhindern, müsse allerdings im Gegenzug eine formale Sperrklausel vorgesehen werden.
Es gibt kein System, das besser ist als ein anderes, sonst gäbe es nicht so große Unterschiede zwischen den Ländern.“Philippe Poirier, Politologe
In seinem Buch „Comment réformer le système électoral?“, fragt Henri Schmit, wie eine solche Hürde festgelegt werden soll. „Da jede gesetzliche Schwelle künstlich und willkürlich ist, wird jede Lösung politisch brisant sein“, schreibt der Publizist. Andere Modelle, wie etwa die komplette Abschaffung der Bezirke, oder aufwendigere Methoden, wie zum Beispiel ein System mit Erst- und Zweitstimmen nach deutschem Vorbild, kommen in den Diskussionen über eine Reform stets vor. Doch bei Ersterem könnten Kandidaten aus dem ländlichen Raum benachteiligt werden, während bei Letzterem das Risiko eines immer zahlreicher besetzten Parlaments besteht.
Mit anderen Worten: „Es gibt kein System, das besser ist als ein anderes, sonst gäbe es nicht so große Unterschiede zwischen den Ländern“, sagt Philippe Poirier. Bei jedem Wahlsystem stehen sich zwei Prinzipien gegenüber. Entweder soll das Parlament möglichst gut das Wahlergebnis widerspiegeln oder es soll für stabile Mehrheitsverhältnisse sorgen. Beides zusammen wäre die Quadratur des Kreises.
Dauerhaftes Repräsentationsdefizit
Auch das Luxemburger System versucht einen Kompromiss zwischen beiden Zielen zu erreichen. Philippe Poirier argumentiert dabei für eine Wahlrechtsreform, die eigentlich keine ist. „Die Wählerschaft steht nicht mehr im Verhältnis zur luxemburgischen Gesellschaft. Dass eine Mehrheit der Bevölkerung kein Wahlrecht besitzt, bleibt das größte Problem in Luxemburg“, sagt er. Damit spricht der Politologe der Universität Luxemburg das wohl eklatanteste und politisch am kontroversesten diskutierte Demokratie- und Repräsentationsdefizit im Land an.
Das Wahlsystem müsste also nicht angepasst, lediglich die Wählerschaft vergrößert werden, fordert Philippe Poirier. Mit dem Referendum 2015 haben die Luxemburger gegen das Wahlrecht für Nicht-Luxemburger gestimmt. Bereits die Abstimmung verdeutlicht dabei das Demokratiedefizit. Die Wahlberechtigten sind in Luxemburg inzwischen eine Minderheit, die gegen mehr Mitbestimmung für eine weitere große Minderheit gestimmt hat.
Es ist jedoch nicht der einzige Kritikpunkt. Zwar würden Parlament und Regierung darauf achten, alle Regionen des Landes zu repräsentieren, doch das gelte nicht für alle Berufsgruppen. Gerade mal zwei Abgeordnete sind Arbeitnehmer, der Großteil hingegen Selbstständige und Staatsbeamte. „Auch das Parlament ist kein Spiegelbild mehr der luxemburgischen Gesellschaft. Das ist jedoch ein Problem, das kein Wahlsystem allein beheben kann“, sagt Philippe Poirier.
Wahlreform kein Wundermittel
Ein perfektes Wahlsystem, das es wohl nicht gibt, muss aber auch nicht zwingend die Lösung sein. Die Art, wie ein Parlament gewählt wird, ist nämlich nur ein Grundmerkmal einer modernen Demokratie. Laut dem Demokratietheoretiker Robert Dahl zählt letztlich, dass in einer Demokratie der freie Wettbewerb um politische Mandate gegeben sein und Raum für politische Partizipation bestehen muss. Dieser Raum kann jedoch mehrere Formen annehmen und muss nicht zwingend allein über das Wahlsystem hergestellt werden.
Hinzu kommt aber auch noch das, was Politikwissenschaftler die „Output“-orientierte Demokratie nennen. Dabei geht es etwa um die Frage, wie demokratisch die politischen Entscheidungen von Parlament und Regierung wahrgenommen werden. Durch weitere Aspekte, wie Effizienz, Transparenz und Rechenschaftspflicht des parlamentarischen Systems sowie eine stärkere politische Beteiligung der Bürger unabhängig von Wahlterminen kann eine Demokratie an Akzeptanz gewinnen.
Doch auch hier weist Luxemburgs politisches System gewisse Defizite auf. Vor allem die Bürgerbeteiligung im politischen Prozess lässt zu wünschen übrig. Nach den Erfahrungen von 2015 hat die Regierung das Mittel eines Referendums aufgegeben. Die Verfassungsreform soll etwa schlicht durch ein parlamentarisches Votum legitimiert werden. Auch die Möglichkeiten von Bürgerforen oder eines permanenten Bürgerrats wie in Ostbelgien werden im Großherzogtum bisher eher belächelt, als dass sie als gangbarer Weg zu mehr Demokratie angesehen werden.
Die Facetten des Demokratiedefizits in Luxemburg sind also vielseitig. Ein gerechteres Wahlsystem wäre dabei sicher kein Garant für eine demokratischere Politik. Schaden würde es aber wohl auch nicht.


