Der Krieg in der Ukraine stellt einen historischen Umbruch dar. Er zeigt sich in den Beziehungen zu Russland, aber auch in einer Renaissance des militärischen Denkens. Ob Luxemburg aus dem 24. Februar 2022 die nötigen Lehren zieht, bleibt jedoch abzuwarten. Eine Analyse.

Die Zeichen einer Zeitenwende sind mitunter unscheinbar. Manchmal ist es nur ein knapper Satz im E-Mail-Postfach, der erkennen lässt, wie sehr sich die Zeiten seit der russischen Invasion am 24. Februar des vergangenen Jahres geändert haben. Auf die Frage, ob es Pläne gäbe, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen, antwortete das Luxemburger Verteidigungsministerium noch am 2. Februar 2022: „Es entspricht nicht der luxemburgischen Verteidigungspolitik, Material an ausländische Armeen zu liefern.“

Heute, fast ein Jahr später, bleibt von diesem Satz nichts als Schall und Rauch. Luxemburg hat 2022 ganze 15 Prozent seines Wehretats an die Ukraine geliefert. Insgesamt 75 Millionen Euro machte die Unterstützung bisher aus. Geliefert wurden unter anderem Panzerabwehrsysteme, 28 „Humvees“ aus Armeebeständen samt 20 Geschützen sowie mehrere Hundert Nachtsichtgeräte, Helme und Gasmasken.

Zeitweilig wurde Luxemburg selbst zum Einkäufer für die Ukraine. So erstand das Großherzogtum bisher rund 600 Raketen für den russischen Mehrfachraketenwerfer „BM-21 Grad“ von einem nicht genannten Drittstaat und lieferte sie an die Ukraine. Gleiches gilt für 12.500 Schuss der sowjetischen Panzerfaust „RPG-7“.

„Hirntot“ war gestern

Besonders der Vergleich zu den Lieferungen des engsten Partners der Luxemburger Armee, den Belgiern, zeigt, wie sehr sich die luxemburgische Doktrin seit Februar gewandelt hat. Denn die Waffenlieferungen aus Luxemburg übersteigen, auch in absoluten Zahlen, jene des belgischen Verteidigungsministeriums deutlich. Die Verteidigungspolitik mit dem Geldbeutel – plötzlich scheint sie Sinn zu machen. Nur eben ganz anders als noch vor dieser Zeitenwende.

Was aber auffällt: Eine große gesellschaftliche Debatte lösten weder der Umfang noch der Umstand der Waffenlieferungen aus. Sicher auch, weil die Öffentlichkeit nur rudimentär in diese Entscheidungsfindung eingebunden war. Informiert wurde über die Lieferungen meist erst, wenn bereits geliefert worden war. Ellenlange Diskussionen über die vermeintliche defensive oder offensive Natur verschiedener Waffengattungen, wie in Deutschland, blieben so hierzulande aus. Das liegt sicherlich auch an den fehlenden eigenen Panzerbeständen.

Der Politikwechsel Luxemburgs reiht sich zudem ein in den größeren Bündniskontext. Vor der Invasion der Ukraine war die Situation der NATO über Jahre prekär. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump spielte mit Austrittsgedanken, der französische Präsident Emmanuel Macron attestierte dem Bündnis den „Gehirntod“ und der chaotische Abzug aus Afghanistan markierte einen operativen Tiefpunkt der Allianz.

Heute verblassen diese Eindrücke jedoch merklich. Das Bündnis steht kurz vor der Erweiterung und die Sinnhaftigkeit der NATO wird selbst außerhalb von sicherheitspolitischen Milieus kaum noch angezweifelt. Auch wenn die Renaissance der NATO zu einem beträchtlichen Anteil eine Renaissance der USA nach den unsicheren Trump-Jahren ist.

Grüne in Flecktarn

Den überraschendsten Schwenk sowohl in Luxemburg als auch in Deutschland machten dabei die Grünen. Während der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer auf dem Sonderparteitag 1999 in Bielefeld für sein Plädoyer für den NATO-Einsatz im Kosovo-Krieg noch mit Farbbeuteln beworfen wurde, würden jüngsten Umfragen zufolge 70 Prozent der Grünen-Wähler in Deutschland Panzerlieferungen an die Ukraine unterstützen.

Auch in Luxemburg sind es nicht zuletzt Grünen-Politiker, die die sicherheitspolitische Zeitenwende mitgestalten. Verteidigungsminister François Bausch zeichnet nicht nur verantwortlich für Materiallieferungen an die Ukraine. Die neue Linie Luxemburgs versucht er auch in sicherheitspolitischen Foren zu skizzieren. Sei es jüngst durch seine Teilnahme an der Podiumsdiskussion „Zeitenwende on tour“ in Hamburg oder im Oktober am „Warsaw Security Forum“.

So geradlinig die Verteidigungspolitik im Rückblick erscheint, so schwer tat sich Luxemburg anfänglich mit seinen diplomatischen Bemühungen. Auch weil die luxemburgische Perspektive, ähnlich wie in anderen westeuropäischen Staaten, den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine als Geschichtsbruch deutete. Ein Bruch, in dem die Zeit vor dem 24. Februar, mit weitreichenden Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, weder moralisch noch logisch mit dem vereinbar ist, was danach passierte.

Im diplomatischen Ungefähren

Die ersten Erklärungsversuche dafür, wie man die Gefahr einer russischen Eskalation derart ignorieren konnte, fielen im Rückblick mehr als naiv aus. Sowohl Außenminister Jean Asselborn (LSAP) als auch Verteidigungsminister François Bausch suchten die Erklärung für die Invasion bei einem vermeintlichen Sinneswandel beim russischen Präsidenten Waldimir Putin. „Putin ist verrückt geworden“ war in den ersten Tagen nach dem Einmarsch eine ebenso einfache wie bequeme Herleitung. Erlaubt sie doch, das eigene Versagen in der Vergangenheit und die kritische Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu vermeiden.

Der Glaube an einen im Kern rationalen Akteur, der bloß vom rechten Weg abgekommen ist, könnte auch als Erklärung für die anfängliche Telefondiplomatie von Xavier Bettel (DP) dienen. Es ist eine Lesart, die der Premierminister in seiner Rede Ende September vor der UN-Vollversammlung selbst befeuerte. Erst, als er die Bilder aus Butscha gesehen habe, habe er erkannt, dass es keinen Sinn ergebe, mit Putin zu reden. Was konkret er sich vor diesem Zeitpunkt von den Gesprächen erwartete, darauf bleibt der Premierminister bis heute eine Erklärung schuldig.

Die normative Kraft des Faktischen gibt heute jenen recht, die bereits früh vor den imperialistischen Tendenzen in Russland gewarnt haben. Jedes Massengrab, das gefunden wird, nachdem die Russen vertrieben wurden, verdeutlicht, worum es Russland eigentlich geht: die Vernichtung der Ukraine als souveränen Staat. Warnungen davor kamen vor allem aus Mittel- und Osteuropa. Und das bereits lange vor dem 24. Februar 2022.

Späte Deutlichkeit

Die harsche Kritik sowohl der ukrainischen als auch der polnischen Regierung an der Gasleitung „Nord-Stream 2“ ist dafür nur ein Beispiel. Die Geschichte hat dieser Lesart in gewissem Maße recht gegeben. Eine Erkenntnis, die sich auch in den westlichen EU-Mitgliedstaaten mehr und mehr durchsetzt. Auf Platz 5 der Liste der 28 einflussreichsten Politiker der EU des Politikmagazins „Politico“ schaffte es die estnische Premierministerin Kaja Kallas. Die Begründung: „Few European leaders have been as forceful, articulate and consistent as the Estonian prime minister in laying out the threats posed by the authoritarian in the Kremlin.“

Luxemburg musste bis zur außenpolitischen Erklärung im November warten, bis Jean Asselborn ähnlich deutlich wurde. Erst zu diesem Zeitpunkt erklärte der Außenminister der Öffentlichkeit, dass es kein Zurück in den Beziehungen mit Russland zu der Zeit vor dem 24. Februar mehr geben könnte. Denn so der Außenminister vor dem Parlament: „Et ass och schwéier, sech den Ablack virzestellen, dass mir nom Enn vum Konflikt, bei all deene roude Linnen déi iwwerschratt goufen, erëm einfach kéinten do weiderfueren an eise Relatiounen mat Russland, wou mir opgehalen haten. Hei dierf een sech keng Illusioune maachen.“

Während die Zeitenwende in den Beziehungen zu Moskau spät, aber deutlich ausfällt, werden die heimischen Beziehungen zu einem anderen Staat bisher kaum hinterfragt. In der China-Frage setzt Luxemburg auf Kontinuität. Das scheint auch der absolute Machtanspruch von Xi Jinping auf dem Parteitag der KP nicht zu ändern. Genauso wenig wie die zeitgleich stattfindenden Militärmanöver vor Taiwan. Immerhin die größten in der jüngsten Geschichte.

Bezeichnend für die luxemburgische Haltung ist, dass der Außenminister sich nicht einmal traute, vor dem eigenen Parlament den Namen Taiwan zu erwähnen. Stattdessen verweist er china-freundlich auf eine militärische Eskalation in der „Taiwanstraße“.

Die Frage der wertegeleiteten Außenpolitik

So viel ist demnach schon jetzt klar: 2023 wird außenpolitisch geprägt sein von der Frage, wie nachhaltig die luxemburgische Zeitenwende ist. Im Kern geht es dabei um die diplomatische Sinnfrage. Bleibt die luxemburgische Diplomatie bloß eine Weiterführung der Wirtschaftsinteressen mit anderen Mitteln? Oder bewirkt die russische Invasion in der Ukraine einen nachhaltigen Wechsel hin zu einer wertegeleiteten Außenpolitik?

Erste zarte Anzeichen für einen Wechsel scheint es in der Tat zu geben. Die Wirtschaftsmission nach Südkorea kann als ein Versuch des „Friend-Shoring“ gewertet werden. Ebenso wie die Dienstreise von Finanzministerin Yuriko Backes (DP) Anfang Dezember in die USA und nach Kanada. Auch die Tatsache, dass Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) wohl nicht an der Wirtschaftsmission der Handelskammer nach Saudi-Arabien teilnehmen wird, deutet in diese Richtung.

Dennoch bleibt die Frage der Nachhaltigkeit. Denn wegen seiner außenpolitischen Werte einschränken musste sich Luxemburg bisher nicht. Und bei den Russland-Sanktionen wäre ein luxemburgisches Nein auf EU-Ebene unvermittelbar gewesen. Ob diese Geschlossenheit auch bei den China-Beziehungen gegeben wäre, darf mehr als bezweifelt werden.


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