Gewalt und Missbrauch in staatlichen Kinderheimen: Immer wieder taucht das Thema vereinzelt in Politik und Medien auf. Zu einer umfassenden Aufarbeitung der mitunter dunklen Vergangenheit kam es bisher aber nicht. Und die Zeit läuft davon.

„Die Gewalt, die auf der ‚Rhum‘ passiert ist, verfolgt uns bis heute“, sagt Carine Kelsen, Direktorin der staatlichen Kinderheime. Denn offiziell hat der der Staat sich nie für die Fälle von Gewalt und Missbrauch entschuldigt, die vor allem während der 1950er und 1960er in den staatlichen Kinderheimen vorgefallen sind. Somit gab es auch nie eine wissenschaftliche Aufarbeitung und keine systematische Befragung von Zeitzeugen.

Jetzt endlich soll der politische Wille vorhanden sein, um mit der Aufarbeitung der Vergangenheit zu beginnen. Auf Nachfrage von REPORTER bestätigt das Bildungsministerium, dass eine Untersuchung der Vergangenheit der staatlichen Kinderheime und des „Centre socio-éducatif“ im Budget 2019 vorgesehen ist. Was diese Untersuchung genau umfasst, konnten oder wollten die Mitarbeiter allerdings noch nicht preisgeben.

Warum gerade jetzt?

Vor acht Jahren ging eine Tür auf, als im April 2010 die katholische Hotline für Missbrauchsfälle in kirchlichen Institutionen eingerichtet wurde. Der Abschlussbericht brachte so manche Erkenntnis an den Tag; 138 Personen hatten ausgesagt, am Ende wurden 114 Dossiers der Staatsanwaltschaft übergeben. Viele der Berichte kamen von der „Rhum“, dem staatlichen Kinderheim, das seit den Anfängen 1884 bis zur Schließung 1982 von Schwestern der Kongregation St. Elisabeth geführt wurde.

Die Kirche zog ihre Schlüsse aus dem Bericht und handelte auch in diesem Sinne. Die staatlichen Kinderheime schlugen daraufhin vor, sich als Institution für die Vergangenheit zu entschuldigen. Doch die zuständigen Ministerien ließen es nie so weit kommen. Im Jahr davor hatten die staatlichen Kinderheime 100 Jahre gefeiert und René Schmit, damaliger Direktor der staatlichen Heime, hatte bereits anlässlich dieses Jubiläums ehemalige Heimkinder in Filmen zu Wort kommen lassen. „Für die Betroffenen ist es eine Erleichterung, dass sich Menschen des Themas annehmen“, fasst René Schmit seine Gespräche mit den Betroffenen zusammen.

Eine Frage der „Priorität“

Es folgten zwei parlamentarische Fragen der CSV und eine Aktualitätsstunde von Déi Gréng. Die Antwort der damals zuständigen Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) und des Forschungs-und Hochschulministers François Biltgen (CSV) auf die Frage von Mill Majerus (CSV) nach der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Situation in den Empfangsstrukturen von 1950-1971 fiel im April 2011 folgendermaßen aus:

„La Ministre de la Famille et de l’Intégration juge l’idée d’une étude historique approfondie de la situation des pensionnaires dans les centres d’accueil et les pensionnats luxembourgeois durant les années 1950-1975 certes intéressante. Cependant, les moyens engagés par le Ministère de la Famille et de l’Intégration dans le domaine de la recherche imposent de faire des choix selon les priorités. Dans ce domaine plus précis, les priorités sont tournées vers la situation actuelle et future dans les centres d’accueil au Luxembourg.“

Ein weiterer Versuch, das Thema wieder auf den Tisch zu bringen, war das rezente Theaterstück der Compagnie du Grand Boube „Success Story“. Das Stück geht von Aussagen der Betroffenen mehrerer Generationen aus und konfrontiert die Zuschauer mit diesen individuellen Schicksalen.

Spielende Kinder auf der „Rhum“ um das Jahr 1949. (Foto: Pol Aschman/Photothèque de la Ville de Luxembourg)

Unangenehme Gemeinsamkeiten wurden dabei sichtbar: Die Vergangenheit der Institution, die mit ihren Ablegern bis 1981 noch unter staatlicher Aufsicht funktionierte, war von permanenter Gewalt geprägt. Verbale und körperliche Gewalt, Entzug von Zuneigung und Nähe waren besonders in der Nachkriegszeit und bis in die 1960er Jahre üblich. Die meist ausgrenzende gesellschaftliche Sicht auf die Heimkinder spielte hierfür genauso eine wichtige Rolle wie die mangelnde Ausbildung und zu wenig Betreuungspersonal. Es war keine Ausnahme, dass sich nur zwei bis drei Schwestern um 70 bis 80 Kinder kümmerten, so das Fazit aus den bisher bekannten Geschichten. Um weitergehende Aussagen zum Thema machen zu können, bedarf es aber einer umfassenden historischen Aufarbeitung.

Fehlende Anerkennung des Unrechts

Die Betroffenen der älteren Generation waren nicht bereit an den Rundtischgesprächen vor der Aufführung des Theaterstücks teilzunehmen. Zu viel Unaufgearbeitetes scheint in der Luft zu liegen. Der Begriff Tabu tauchte in der Diskussion auf. Die Betroffenen von damals suchen vermutlich die Verantwortung bei sich und fühlen sich immer noch schlecht.

Laut dem früheren Direktor der Heime René Schmit kommen viele mit dem ihnen Widerfahrenen nicht zurecht, vor allem nicht mit der fehlenden Anerkennung des Unrechts, das sie erfahren mussten. Die Betroffenen haben sich bisher jedoch nicht zusammengeschlossen, um eine Wiedergutmachung oder wenigstens eine Anerkennung einzufordern. „Es wäre ein starkes Signal von denjenigen, die heute in der Verantwortung sind, stellvertretend für die Verantwortlichen von damals, die Schuld auf sich zu nehmen.“ René Schmit ist davon überzeugt, dass erst so ein Heilungsprozess stattfinden kann.

Nicht nur im Abschlussbericht der Hotline wurde dafür plädiert, den Verjährungszeitraum von zehn Jahren ab der Volljährigkeit auszudehnen, Opfer von Gewalt und Missbrauch bräuchten sehr lange, um sich über die Vorfälle auszudrücken.

Ein Blick in die Schweiz

In der Schweiz wurde 2010 ein Projekt zur Aufarbeitung der Heimvergangenheit von einer privaten Stiftung unternommen. Erste öffentliche Entschuldigungen der Verantwortlichen gab es bereits in den 1980er Jahren. Die Schweizer Regierung hat inzwischen einer Forschungsgruppe den Auftrag erteilt, das Thema wissenschaftlich zu beleuchten, und den Auftrag mit einer Summe von 1,28 Millionen Euro dotiert. Dies wurde aber auch erst 2017 vom Parlament gut geheißen. In weiteren Ländern ist die Auseinandersetzung mit dem Thema schon früher erfolgt und am umfassendsten hat sich wohl Irland mit der unangenehmen Vergangenheit auseinander gesetzt.

Bei der Aufarbeitung in der Schweiz wurde aber auch deutlich, dass die Mehrheit der Betroffenen inzwischen verstorben sind. Falls die Aufarbeitung in Luxemburg nicht zeitnah stattfindet, wird dies auch hier der Fall sein. „Dabei wäre es aus vielen Gründen wünschenswert, auch die noch lebenden Bewohner und Bewohnerinnen dieser Einrichtungen im abgesteckten Zeitraum aktiv mit einzubeziehen“, hatte es bereits 2010 im Abschlussbericht der Hotline geheißen.

Zentrale Anlaufstelle für Betroffene

Und jetzt? Die Möglichkeit, eine interministerielle Kommission einzurichten, um den Ablauf einer Aufarbeitung zu bestimmen, findet  Charel Schmit, Präsident der Association des communautés éducatives et sociales (ANCES) nicht angebracht. Es reiche nicht, ein Jahr an der Frage zu arbeiten, sagt er. Allein ein unabhängiges und permanentes Ombudscomité komme seiner Meinung nach für solch eine Aufgabe in Frage. Empfehlungen für das weitere Vorgehen müssten von eben diesem Comité ausgesprochen werden. Doch ohne eine solide Wissensbasis sei dies schwer zu bewerkstelligen, es fehle schlicht eine alle Institutionen umfassende Bestandsaufnahme.

Déi Gréng hatten 2011 eine neutrale, sichtbare und dennoch diskrete „Anhörungsstelle“ für die Betroffenen gefordert, das „Ombudscomité fir d’Rechter vum Kand“ (ORK) hat sich für eine unabhängige Beratungs-und Diagnostikstelle für traumatisierte Kinder eingesetzt – ebenso wie die Autoren des Hotline-Abschlussberichtes.

Auch Charel Schmit würde eine neue Anlaufstelle für betroffene Jugendliche begrüßen. In der Theorie sei das ORK bekannt, einige betroffene Jugendliche würden das System auch kennen, aber längst nicht alle. Eine spezielle Anlaufstelle könnte auch die verjährten Fälle angemessen behandeln.

„Deontologisches Bewusstsein schärfen“

Nicht nur für die Betroffenen wäre ein Weiterkommen in der Frage wichtig – auch den wissenschaftlichen Disziplinen der Sozialwissenschaften und der Geschichtsschreibung fehlt dieses Puzzleteil. Zudem sieht Charel Schmit in der Aufarbeitung eine Chance, die selbstkritische Wahrnehmung der Professionellen des gesamten Sozialbereichs voranzutreiben. „Das deontologische Bewusstsein  schärfen“, so charakterisiert der Präsident der ANCES die möglichen Auswirkungen einer Aufarbeitung. Dies könnte gar zu einem professionellen Verhaltenskodex für den gesamten sozialen Bereich führen, der seiner Meinung nach notwendig ist.

Das Thema stößt vor allem in den Schulen weiterhin auf größere Unsicherheiten. „Jede Einrichtung, in der mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird, müsste eigentlich einen Beauftragten für ‚Bientraitance‘ bestimmen und es müsste verpflichtende Prozeduren geben“, so Charel Schmit weiter. Standards mit dem Titel „Qualität in der Heimerziehung“ waren seit 2011 Teil des Rahmenübereinkommens für Heimeinrichtungen. Schutz vor Gewalt und Vernachlässigung galt als eine der Leitideen hinter deren Ausarbeitung. Momentan sind die Standards für ein neues Rahmenkonzept wieder Gegenstand einer Kooperation mit der Universität.

Vergangenheit als Antrieb für die Gegenwart

Für die Verantwortlichen der Einrichtungen – nicht nur der staatlichen – stellt sich weiterhin die Frage, wie Gewalt und Missbrauch in Zukunft vermieden werden können. Der soziale Kontext ist zwar heute ein ganz anderer, aber dennoch würden weiterhin Formen von Gewalt bestehen. Charel Schmit prangert etwa die strukturelle Gewalt an. Diese bestehe beispielsweise darin, dass die Erzieher, bedingt durch den großen administrativen Aufwand, nicht immer die nötige Zeit für ihre Schützlinge zur Verfügung hätten.

Der Mangel an adäquaten Fachkräften trägt auch nicht zur Verbesserung der Lage bei. Ein Gesetzesentwurf, der die bestehenden staatlichen Strukturen in ein „Institut publique d’aide à l’enfance et à la jeunesse“ zusammenfassen soll, kann,  wie in der Analyse des „Land“, als verpasste Chance begriffen werden, da etwa mit keinem Wort die unrühmliche Vergangenheit oder deren notwendige Aufarbeitung erwähnt wurde.

Seit 2010 hat sich aber einiges getan. Die Positionierung der Professionellen wurde eindeutiger. Die freien Träger (Arcus, Caritas Luxembourg, Croix-Rouge luxembourgeoise, Elisabeth, Les lnternats Jacques Brocquart asbl) haben das „Dispositif Bientraitance“ eingeführt. Diese gemeinsame Initiative sieht „Bientraitance“-Beauftragte vor, dazu Fortbildungen, einen externen juristischen Beirat und Multiplikatoren in den verschiedenen Institutionen der fünf Träger.

Die staatlichen Kinderheime arbeiten ihrerseits institutionsübergreifend mit dem Ansatz der Traumapädagogik. Zudem wurden Kinder-und Jugendräte sowie ein Beschwerdemanagement eingeführt. Die Bewältigung der weiter zurückliegenden Traumata findet also bis auf Weiteres in der Zukunft statt.