Journalisten, die über Russland berichten, werden oft entweder als « Putin-Versteher » oder « westliche Propagandisten » abgestempelt. Unser Korrespondent Rick Mertens recherchiert nun selbst zehn Tage in Russland. Im Vorfeld macht er sich Gedanken über seine Erwartungen, seine journalistische Haltung und seine Selbstzweifel.
John Steinbecks Zweifel wirken erstaunlich zeitgemäß: « Wir waren deprimiert, nicht so sehr wegen den Nachrichten an sich, sondern wegen der Art, wie sie dargestellt wurden. » Mit der heutigen Russland-Berichterstattung hat dieser Kommentar nichts zu tun. Steinbeck, der 1962 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, beschreibt die amerikanische Berichterstattung über die Sowjetunion, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: « Was wir heute an Nachrichten lesen, sind oft überhaupt keine Nachrichten, sondern die Meinung von einem der halben Dutzend Experten, die uns erklären wollen, was diese Nachrichten bedeuten. »
Um den einseitigen Berichten etwas entgegen zu setzen, entschied Steinbeck 1947 selbst aus der von Joseph Stalin geführten Sowjetunion zu berichten. Er brach gemeinsam mit dem heute ebenfalls weltberühmten Fotoreporter Robert Capa nach Moskau auf. Ihr Reisebericht wurde ein Jahr später unter dem Titel A Russian Journal (Russische Reise) veröffentlicht. Die beiden Reporter setzten sich dabei ein scheinbar simples Ziel: « Wir wollten probieren ehrlich zu berichten, das niederschreiben, was wir sehen und hören – ohne zu kommentieren und ohne Schlussfolgerungen über Dinge zu ziehen, über die wir nicht ausreichend Bescheid wissen. »
Möglichst objektive Berichterstattung
Unvoreingenommene, möglichst objektive Berichterstattung gilt auch 70 Jahre später als journalistisches Ideal. Doch die Vorstellungen darüber, wie ein sachlicher Bericht aussehen soll, liegen beim Thema Russland nach wie vor besonders weit auseinander. Die Vergiftung des früheren sowjetischen Agenten Sergei Skripal und seiner Tochter haben gezeigt, wie schnell mit grobschlächtigen Kategorien geurteilt wird. Wer vor vorschnellen Urteilen warnt, gilt schnell als « Putin-Versteher ». Wer dagegen auf zweifelhafte Praktiken des russischen Präsidenten aufmerksam macht, wird gerne in die Schublade « westliche Propaganda » gesteckt. Dazwischen scheint es wenig Platz für nuancierte Betrachtungen zu geben.
Letztlich zieht mich vor allem die Neugier nach Russland: Ich will die Verhältnisse vor Ort mit den Darstellungen vergleichen, die ich aus den Medien kenne. »
In dieses journalistische Spannungsfeld begebe ich mich nun selbst: Während zehn Tagen nehme ich an einer Russland-Reise der deutschen Organisation « Journalists.Network » teil. Zusammen mit einer Gruppe von zehn jungen deutschen Journalisten reise ich nach Moskau, Kazan und Sotschi. Wir wollen knapp zwei Monate vor Beginn der Fußball-WM versuchen die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen vor Ort zu verstehen.
« In der Diskussion mit Experten sowie Wirtschafts- und Regierungsvertretern » werden wir uns zum Beispiel erkunden, « inwiefern das Land heute an die Boom-Jahre vor der Finanzkrise aufschließen kann ». So steht es in der offiziellen Beschreibung der Reise, für die ich mich vor gut zwei Monaten beworben habe. Ich witterte darin die Chance, festgefahrene Russland-Klischees zu durchbrechen, indem ich mir selbst ein Bild mache.
Selbstzweifel und zu vermeidende Klischeefalle
Doch kurz vor der Reise habe ich auch Zweifel: Was qualifiziert mich eigentlich für diese Mission? Als Russland-Experte kann ich mich nicht bezeichnen. Wie bei Recherche-Trips üblich, habe ich mich im Vorfeld gründlich eingelesen und bestimmte Themen ausgewählt, die ich vor Ort näher erkunden möchte. So werde ich die Gelegenheit haben mich mit russischen Oppositionspolitikern auszutauschen oder ausländische Unternehmen zu besuchen, die trotz Wirtschaftssanktionen weiter Geschäfte in Russland betreiben. Fest steht: All diese Begegnungen wären zuhause in Berlin nicht möglich.
Andererseits sind zehn Tage eine kurze Zeit. Besonders wenn man sich einen tieferen Einblick in die Entwicklungen im größten Land der Welt verschaffen will. In Russland erwarten mich zudem kulturelle Barrieren, die ich nur schwer überwinden kann. Damit meine ich nicht nur politische Einstellungen und soziale Bräuche, sondern auch ganz praktische Hürden. Denn der Russisch-Kurs für Anfänger, den ich vor kurzem abgeschlossen habe, wird mir kaum erlauben, Einheimische im Detail über ihre Überzeugungen und Erfahrungen zu befragen. Es bleibt mir bestenfalls die Hoffnung, dass einige mitreisende Berufskollegen mir mit ausführlicheren Russischkenntnissen zur Seite stehen.
Letztlich zieht mich vor allem die Neugier nach Russland. Ich will die Verhältnisse vor Ort mit den Darstellungen vergleichen, die ich aus den Medien kenne. Dabei versuche ich offen mit meinem eigenen Wissen und Unwissen umzugehen. Ich hoffe, auf diese Weise die übliche russische Klischeefalle zu vermeiden und möglichst nuancierte Berichte mitzubringen.
Doch auch die besten Vorsätze fruchten nicht immer. Der aus der heutigen Ukraine stammende Linguist Juri Scherekh zeigte sich 1948 jedenfalls wenig überzeugt, von John Steinbecks besagtem Reisebericht. Seine Rezension trägt den Titel: « Warum wollten Sie nicht hinsehen, Herr Steinbeck? »
Rick Mertens wird von seiner Russlandreise für REPORTER in einer ausführlichen Artikelserie berichten.