Die WG-Debatte in Esch verschleiert ein größeres soziales Problem. Die Machtverhältnisse auf dem Wohnungsmarkt geraten immer stärker in Schieflage. Die Folgen: prekäre Wohnsituationen, Missbrauch und eine Verschärfung des Ungleichgewichts zwischen Einkommen und Mietpreisen.

„Ein halbes Jahr lang habe ich jeden Monat 500 Euro für einen Briefkasten bezahlt“, erzählt Ana*. „Ich habe mich schlecht gefühlt, aber ich hatte keine Wahl.“ Die gebürtige Brasilianerin ist eine von vielen, die am offenen Wohnungsmarkt in Esch/Alzette scheiterten. « Ich hatte Angst, dass ich ohne Wohnsitz meinen Anspruch auf Sozialleistungen verliere und dass meine Bemühungen um die doppelte Staatsbürgerschaft umsonst gewesen wären », erinnert sie sich. « Ich fand einfach keine Wohnung. Monatelang. » In ihrer Verzweiflung ließ sie sich auf ein illegales Geschäft ein: Die Besitzerin eines Escher Cafés vermittelte ihr einen Mietvertrag für ein Studio, das sie nie gesehen hat. Ana hatte offiziell eine Adresse in Luxemburg, wohnte aber tatsächlich im französischen Audun-le-Tiche.

Auch Benoît Klensch, der im Immobilienbüro der « Stëmm vun der Strooss » arbeitet, kann von ähnlichen Missständen auf dem Wohnungsmarkt berichten. Sein Büro verwaltet landesweit 26 Einfamilienwohnungen, die meisten davon im Süden des Landes. Doch das reicht längst nicht aus, um der hohen Nachfrage gerecht zu werden. Er erzählt von den im populären Sprachgebrauch so genannten „Kaffiszëmmeren ». Dabei handelt es sich um Zimmer über Cafés in meist schlechtem Zustand, die von so genannten Schlafhändlern vermietet werden. Und das zu horrenden Preisen: « Ich zahle 700 Euro für 15 Quadratmeter », erzählt Paul*, der über einem Café wohnt. Ohne Küche und mit einem Bad, das aussehe, « wie bei den Hottentotten », sagt er mit Humor. Privatsphäre habe er auch keine. « Nachbarn, rechts, links und oben, Café unten, da ist immer Halligalli. » Doch man nehme nun einmal, was man bekomme.

Benoît Klensch schätzt, dass etwa ein Drittel der knapp hundert Menschen, die täglich zur Essensausgabe der « Stëmm vun der Strooss » nach Esch kommen, in solch prekären Zimmern wohnen. Diese steigende Tendenz sei paradox: Denn die Stadt kann durchaus gegen Missstände in Mietwohnungen vorgehen. Seit Dezember 2019 gibt es ein Gesetz, das der Gemeinde das nötige Werkzeug in die Hand gibt, um die Zimmer im Ernstfall sogar räumen zu lassen und die Mieter auf Kosten des Vermieters neu unterzubringen.

Prekäre Wohnverhältnisse und Nebenmärkte

Der Blick an den Rand der Gesellschaft zeigt die Auswirkungen einer nationalen und kommunalen Wohnungspolitik, die den gesellschaftlichen Veränderungen Jahrzehnte hinterherhinkt. Die öffentliche Hand hat keine Kontrolle über die Wohnpreise im Land: In nur elf Jahren (2005 – 2016) ist das Mieten im landesweiten Durchschnitt um 47,5 Prozent teurer geworden, wie man aufgrund von Statistiken des Instituts für sozioökonomische Studien (Liser) berechnen kann. Auch wenn der Süden im Durchschnitt mit 43 Prozent etwas unter dem nationalen Wert liegt, steht die Mietsteigerung auch hier in Schieflage zur Einkommenssteigerung.

Auf dem Stadtgebiet von Esch ist der Anteil an kommunalen Sozialwohnungen seit 15 Jahren stark rückläufig. »Marc Baum, Déi Lénk

Verschärft wird die Situation dadurch, dass es in den Gemeinden oft nicht genug subventionierten Wohnraum gibt. Aus einem Bericht des Service Logement der Stadt Esch von 2019 geht hervor, dass in Esch 237 Anträge auf der Warteliste stehen. Die insgesamt 326 Sozialwohnungen reichen also nicht aus. « Im Verhältnis zu allen Wohnungen auf dem Stadtgebiet von Esch ist der Anteil an kommunalen Sozialwohnungen seit 15 Jahren stark rückläufig », lautet die Erklärung von Gemeinderat Marc Baum von Déi Lénk. Diese Tendenz verschärfe sich gerade weiter. « Das hat nicht dazu geführt, dass weniger prekarisierte Menschen in Esch leben. Das Gegenteil ist richtig: Lediglich ihre Prekarisierung verschärft sich. »

Der Mangel an Sozialwohnungen und der kaum regulierte Immobilienmarkt tragen maßgeblich dazu bei, dass Nebenmärkte überhaupt erst entstehen. Immer weniger Haushalte können sich ein an ihr Einkommen und ihre Zusammensetzung angepassten Wohnraum leisten.

Foto: Christian Peckels

Es ist nicht so, dass die politisch Verantwortlichen dies nicht erkannt hätten. Erst letzte Woche noch zeigte sich Wohnungsbauminister Henri Kox (déi Gréng) besorgt über Ergebnisse einer Studie, die er gemeinsam mit Mitarbeitern des Liser vorstellte. Daraus geht hervor, dass die Zahl der Haushalte, die mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen ausgeben, in den letzten Jahren weiter drastisch gestiegen ist. Für alle privaten Miethaushalte aus sämtlichen Einkommensstufen im Land gilt, dass mittlerweile jeder Dritte die 40 Prozentmarke übersteigt. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 war es noch jeder Fünfte.

Diese Entwicklung wirkt sich am stärksten auf die unterste Einkommensschicht aus: Fast zwei Drittel dieser Haushalte gibt mehr als 40 Prozent seines verfügbaren Einkommens für Miete aus (63,9 Prozent 2018 im Vergleich zu 41,7 Prozent 2010).

Reform der Wohnbeihilfe geplant

Um mehr Haushalten zu bezahlbaren Wohnungen zu verhelfen, kündigte Henri Kox vergangene Woche ein neues Gesetz zur Wohnbeihilfe an. In den nächsten Wochen soll ein erster Entwurf dieser Reform vorliegen, die bereits im Regierungsprogramm festgehalten war. Die Regelungen der staatlichen Subventionen für erschwinglichen Wohnraum sollen überarbeitet werden. Dem Thema des erschwinglichen Wohnraums widmet Liser eine zweite Studie, in der dieser als eine Kategorie zwischen Übergangsunterkünften für Menschen in Not einerseits und Wohnraum auf dem privaten Markt andererseits definiert wird. Es handelt sich demnach um Wohnraum, der gestaffelt nach Einkommen und Haushaltszusammensetzung vom Staat subventioniert wird.

Die Reform des Gesetzes, dessen Grundlage über vierzig Jahre alt ist, ist längst überfällig. Um überteuerten Mietpreisen für Wohnungen und möblierte Zimmer entgegenzuwirken, soll auch die Regelung zur Mietobergrenze, die sich bisher an fünf Prozent des investierten Kapitals der vermieteten Immobilie orientiert, überarbeitet werden. Dies könnte dann auch dem Argument, Wohngemeinschaften würden die Preise für Einfamilienhäuser explodieren lassen, den letzten Wind aus den Segeln nehmen.

Foto: Christian Peckels

Will man den Wohnungsmarkt den heutigen Bedürfnissen anpassen, so kommt man nicht umhin, sich mit wandelnden Gesellschaftsstrukturen und den damit verbundenen alternativen Wohnmodellen auseinanderzusetzen. « Aus dieser Überlegung heraus haben wir vor zwei Jahren « de WG-Projet » ins Leben gerufen », erzählt Gary Diderich, Gemeinderat von Déi Lénk in Differdingen und einer der Verantwortlichen der Life asbl. Der Verein ist mit dem Wohnungsbauministerium konventioniert, um dazu beizutragen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Ein knappes Dutzend Immobilien im ganzen Land verwaltet die Initiative bereits, doch in Esch stößt sie seit Februar auf Granit. Ihre Anfrage, ein Einfamilienhaus in eine Wohngemeinschaft umzuwandeln, wurde mit einem «ist nicht möglich» von der zuständigen Dienststelle abgeschmettert. Ein Brief an den Schöffenrat blieb bis heute unbeantwortet.

Die Vorstellung einer homogenen Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt (ein Eigenheim für Vater, Mutter, Kind, vielleicht Hund) dominiert auch heute noch das Angebot auf dem Markt und besonders die Arbeitsweisen in vielen Kommunalverwaltungen. Dies zeigen die Erfahrungen der Life asbl, sowie jener Personen, die sich in Wohngemeinschaften anmelden wollen.

Gemeinsamer Einsatz für die Mieter

Menschen, meist Mieter, die sich in prekären Wohnsituationen befinden oder – wie ganz aktuell – Probleme bei der Anmeldung haben, sind oft auf professionelle Hilfe angewiesen, um sich aus ihrer Lage zu befreien. Die Gesetze sind kompliziert, Beratungsstellen für viele nicht leicht genug zugänglich: Das Friedensgericht in Esch hat seit einigen Jahren keinen eigenen juristischen Informationsservice mehr, die Escher « Commission des Loyers », die bei finanziellen Streitfällen zwischen Vermieter und Mieter zur Mediation herangezogen werden kann, hat sich in den vergangenen zwei Jahren ein einziges Mal getroffen. Mehr Nachfrage habe es nicht gegeben, heißt es von einem Mitglied der Kommission. Und bis vor wenigen Wochen hat es in Luxemburg auch keinen Mieterschutzverein gegeben.

« Wir werden auf nationaler Ebene aktiv sein, um die Rechte aller in Luxemburg lebenden Mieter zu verteidigen », sagt Jean-Michel Campanella, der Präsident des im Juni gegründeten Vereins « Mieterschutz Lëtzebuerg » auf Nachfrage. Und dies bei rechtlichen Fragen, aber auch auf politischem Niveau. Während die Besitzer von Immobilien mit der « Union des propriétaires » eine starke Vertretung im politischen Diskurs hätten, habe es bisher an einem Gesprächspartner für die Regierung gefehlt, der aktiv die Interessen der Mieter verteidige, so Campanella.

Ana hat es übrigens geschafft. Sie wohnt mittlerweile in Differdingen und besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft. Ihre Erfahrung, sich im Kampf um Wohnung und Papiere lange Zeit als unbeliebte Bürgerin dritter Klasse gefühlt zu haben, ist für nicht wenige Menschen im Land aber immer noch Realität.


* Der Name wurde von der Redaktion geändert.