Erneuerbare Energien sind vielerorts auf dem Vormarsch. Das zeigt sich auch bei der Stromversorgung. Die totale Elektrifizierung kann die Klimakrise aber auch nicht alleine lösen. Selbst die Musterschüler zeigen: Die Energiewende braucht noch reichlich Unterstützung.
Beim Besuch der Steuerzentrale von 50Hertz, einem in Berlin ansässigen Versorgungsunternehmen, glaubt man sich in die Kommandozentrale eines Raumschiffs versetzt: Bildschirme voller Daten, eine entspannte Ruhe und das unterschwellige Gefühl eines riesigen Kraftflusses auf dem Flug ins Weltall. Dieser maximal gesicherte Ort hat die Aufgabe, 18 Millionen Menschen in Ost- und Norddeutschland mit Strom zu versorgen.
Heute, am Morgen des 13. Mai, zeigen die Bildschirme an, dass 28 Prozent dieses Stroms aus Windparks und 24 Prozent aus Solarpanels stammen. Vor zehn Jahren hätten die Betreiber der Netze, die in den reichen Ländern der Welt das Licht nicht ausgehen lassen, noch behauptet, dass dies unmöglich sei. Die erneuerbaren Energien waren zu störanfällig, zu schwierig an die jeweilige Nachfrage anzupassen, und zu sehr abhängig von Frequenzschwankungen bei dem von ihnen erzeugten Strom. Noch 2011 stellten Experten bei einem vom « Massachusetts Institute of Technology » (MIT) veranstalteten Symposium fest: „Zu viel Elektrizität aus intermittierenden erneuerbaren Energien ist ein ebenso großes Problem wie zu wenig davon.“
Diese skeptische Haltung war verständlich. Dirk Biermann, der bei 50Hertz für den Systembetrieb zuständig ist, bemerkt, dass « die Netzbetreiber beim Systembetrieb sehr konservativ sind, weil wir auf jeden Fall sicherstellen müssen, dass die Stromversorgung aufrechterhalten wird. » Trotzdem war das nicht ganz zutreffend. Das von 50Hertz aufgebaute Netz ist ohne Weiteres imstande, ein Übertragungsnetz mit 50 bis 60 Prozent Wind- und Solarenergie zu betreiben.
Das Endspiel für die fossilen Energien
Doch das ist noch nicht alles. Das Unternehmen strebt an, bis 2032 ein hundertprozentiges Wind- und Solarenergienetz zu realisieren. Dirk Biermann hält dieses Ziel für anspruchsvoll – „Wir müssen schneller werden. » Auch wenn er „gelegentliche Spannungen“ auf dem Weg dorthin erwartet, glaubt er fest daran.
An einigen Orten gelingt dies immerhin schon, wenn auch nur für recht kurze Zeiträume. Im Nachbarland Dänemark wird das gesamte Stromnetz zeitweise nur mit Windenergie betrieben. Am 3. April um 15.39 Uhr stammten über 97 Prozent des Stroms in Kalifornien aus Wind- und Solarenergieanlagen. Innerhalb eines Jahrzehnts hat der Fortschritt in den Bereichen Technik, Management und Systementwicklung dazu geführt, dass Design und Betrieb der von erneuerbaren Energien beherrschten Netze von nüchternen und risikofeindlichen Netzbetreibern übernommen wurden. Was bisher als fundamentales Hindernis für den Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien galt, wurde dadurch abgebaut.
Die Fähigkeit, erneuerbare Energien für den größten Teil der Netzversorgung zu nutzen, sowie die Tatsache, dass die erneuerbaren Energien preiswerter wurden und noch immer werden, bilden die Grundlage einer Dekarbonisierungsstrategie, die von den Befürwortern einer Stabilisierung des Klimas insgesamt unterstützt wird. Sie wollen den Strom aus allen Netzen emissionsfrei, preiswert und massenhaft verfügbar machen. Sie sind dafür, alle Prozesse, die derzeit noch fossile Energien benötigen – wie E-Autos, Heizung von Wohnungen oder Stahlwerke – zu elektrifizieren, wenn dies problemlos möglich ist.
Damit wird man nicht alles erreichen, was notwendig ist. Aber es lässt sich immerhin schon Vieles erreichen. Vor zwei Jahrzehnten ließ der hohe Preis einer emissionsfreien Produktionskapazität ein solches Konzept als unrealistisch, wenn nicht besorgniserregend erscheinen. Heute sehen es viele als günstige Gelegenheit. Allerdings gibt es auch erhebliche Hindernisse.
Das Problem der grünen Alternativen
Ein großes Problem ist die Backup-Kapazität. Wenn es bei der Anlage von 50Hertz einen doppelt so großen Anteil an erneuerbaren Energien gäbe – was angesichts der aktuellen Trends von Kosten und Ressourcen in den 2030er Jahren gut möglich wäre – dann könnte das Netz an diesem schönen Frühjahrsmorgen auf allen Strom, den es braucht, zugreifen. Aber nach dem Sonnenuntergang und in längeren Zeiten der Windstille wäre keine Extrakapazität nutzbar, wie billig sie auch immer sein mag.
Dirk Biermann erklärt, ein Teil der Antwort auf diese „Dunkelflaute“ bestehe darin, das Netz zu erweitern und erneuerbare Energien aus anderen Quellen zu integrieren. Außerdem müssten Mittel und Wege gefunden werden, die Nachfrage zu drosseln, wenn die Versorgung bedroht sei. Ferner seien leistungsfähigere Batterien und sonstige Speichersysteme sehr wichtig. Schließlich seien auch Backup-Kapazitäten erforderlich.
In Deutschland kommt die Kernkraft dafür nicht in Betracht. Die letzten Atomkraftwerke des Landes werden Ende dieses Jahres abgeschaltet, und zwar im Rahmen eines Prozesses, der als Überreaktion auf die Kernschmelze in Fukushima 2011 begann. Und in keinem Land sollte auf Kohle zurückgegriffen werden. Da diese Optionen somit entfallen, hat Deutschland seine erneuerbaren Energien so organisiert, dass als Backup-System langfristig die Verbrennung von Wasserstoff vorgesehen ist, für die die umfangreichen erneuerbaren Energieressourcen des Netzes verwendet werden sollen.
Für den Aufbau einer Produktionskapazität von Wasserstoff habe man geplant, Erdgas als Überbrückung einzusetzen und mit steigender Wasserstoffproduktion langsam auslaufen zu lassen, sagt Dirk Biermann. Das ist keine perfekte Lösung, weil Gas zwar weniger klimaschädliche Emissionen erzeugt als Kohle, aber immer noch recht viel davon. Immerhin ist es eine technisch plausible Lösung.
In politischer Hinsicht allerdings nicht. Die russische Invasion in der Ukraine hat nicht nur die Erdgaspreise explodieren lassen, sondern auch Befürchtungen hinsichtlich der Versorgungssicherheit und der strategischen Abhängigkeit von einem mächtigen Gegner aufkommen lassen. In 2021 importierte die EU 45 Prozent ihres Erdgases aus Russland; bei Deutschland als dem größten Gasverbraucher Europas betrug dieser Anteil 55 Prozent.
Klimaschutz vs. Versorgungssicherheit
Die grundlegende Lehre für die Energiesicherheit im Post-Ukraine-Zeitalter geht denn auch weit über Deutschland hinaus. Sie besteht darin, sich möglichst wenig von fossilen Energien aus geopolitisch unzuverlässigen Quellen abhängig zu machen. In einer Hinsicht lässt sich dieses Ziel sehr gut dadurch erreichen, dass man möglichst rasch mehr erneuerbare Energiekapazitäten in die Netze integriert. Eine Kilowattstunde aus einem Solarpanel oder einer Windturbine muss nicht in Form von Gas angekauft werden.
Eine beschleunigte Ausweitung der erneuerbaren Energiekapazitäten bildet eine Priorität für Leute, die sich für Klimasicherheit einsetzen. In anderer Hinsicht unterscheiden sich die beiden Modelle jedoch. Wie rasch sie auch immer in die Netze integriert werden, können die erneuerbaren Energien den europäischen Bedarf an Gas nicht vollständig decken; auch können sie kein Backup bieten, wenn die erneuerbaren Energien keinen Strom produzieren. Gas ist lebenswichtig für Europas Industriezentren, ganz zu schweigen von der Beheizung vieler Privatwohnungen in Europa. Deswegen wollen die Befürworter der Energiesicherheit Europas Importkapazitäten für Flüssiggas (LNG) erheblich ausweiten.
Die Befürworter der Klimasicherheit sehen dies mit Schrecken. Sie argumentieren, dass eine Zukunft mit niedrigen bis keinen Emissionen sich nicht nur durch die Verringerung des Einsatzes fossiler Energien in den bestehenden Infrastrukturen erreichen lässt, sondern dass es vielmehr darum geht, einen Systemwechsel durch den unumkehrbaren Austausch der Infrastrukturen durchzuführen. Investitionen in alternative fossile Energieträger in einem Umfang, der für den Ersatz der russischen Lieferungen innerhalb eines Jahrzehnts erforderlich wäre – so befürchten sie – hätten zur Folge, dass die Kohlenwasserstoffe für die kommenden Jahrzehnte im europäischen Stromnetz unverzichtbar würden. „Besorgt erst neues Gas, und werdet dann grün“ steht gegen „Grün werden bedeutet: kein neues Gas.“
Komplexe energiepolitische Abwägungen
Dieses Problem gibt es allerdings nicht nur in Europa. Ähnliche Befürchtungen wurden laut, als Gavin Newsom, der Gouverneur von Kalifornien, ankündigte, in einer neuen „strategischen Kapazitätsreserve“ von 5,2 Milliarden Dollar sei auch eine Rolle für Erdgas vorgesehen. Dies, um sicherzustellen, dass der ambitionierte Ausbau der erneuerbaren Energien nicht zu Blackouts führt.
Diese Abwägung zwischen Energiesicherheit und Klimasicherheit wird dadurch noch komplizierter, dass eines der Grundprobleme der Dekarbonisierung der Wirtschaft noch nicht gelöst ist. Ist die erforderliche Technologie überhaupt schon verfügbar? Oder muss sie erst noch entwickelt werden?
In diesem Zusammenhang behaupten die Einen, alle für eine radikale Dekarbonisierung erforderlichen Ressourcen seien bereits vorhanden, und dass es bei der Energiewende nur noch darum gehe, die politische Unterstützung für ihre noch raschere und umfassendere Realisierung zu finden. Hinzu komme der Wille, vor allem der reichen Länder der Welt, sparsam mit der Energie umzugehen. Die Anderen versichern, die Energiewende werde eine Menge neuer Technologien erfordern, die derzeit noch im Labor erprobt würden und in einigen Fällen das Labor noch gar nicht erreicht hätten.
Hier überschneiden sich die Technik und die Politik. Wenn man überzeugt ist, in naher Zukunft drohe die Klimakatastrophe, dann muss man mehr oder weniger für einen technologischen Wandel nach dem Motto „Je schneller, desto besser“ eintreten. Ist man dagegen entschieden gegen Klimamaßnahmen, die massive politische und wirtschaftliche Verwerfungen zur Folge haben können, dann wird man längerfristigen Forschungsarbeiten den Vorzug geben.
* Dieser Artikel basiert auf einem Originaltext aus dem „Economist“, den Reporter.lu im Rahmen einer Syndizierungspartnerschaft veröffentlicht.
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From The Economist, translated by Hermann J. Bumb, published under licence. The original article, in English, can be found on www.economist.com