Menschenrechte, Demokratie, Armutsbekämpfung – das waren die großen Themen der EU-Entwicklungspolitik. Doch seit einiger Zeit weht ein neuer Wind. Entwicklungshilfe wird immer mehr zum Instrument, um die eigenen Probleme zu lösen. Für Hilfe ist da wenig Platz.
Viel Zeit bleibt nicht. 2020 läuft das Cotonou-Abkommen zwischen der Europäischen Union und den sogenannten AKP-Staaten – Afrika, Karibik, Pazifik – aus. Spätestens im August müssen die Verhandlungen mit den zur Zeit 79 Mitgliedstaaten beginnen, damit die Verhandlungspartner am Stichdatum nicht mit leeren Händen dastehen.
Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission im Dezember den Entwurf des Verhandlungsmandats verfasst, das der Rat der EU-Entwicklungsminister vor Jahresmitte annehmen soll. Das Dokument spiegelt einen generellen Trend in der gemeinsamen Entwicklungshilfe wider: weg von der „Hilfe“, hin zu einer pragmatischeren Agenda.
Im Jahr 2000 einigten sich die EU und 77 Staaten des afrikanischen, pazifischen und karibischen Raumes in Cotonou, der Hauptstadt des Benin, auf ein Partnerschaftsabkommen für die nächsten 20 Jahre. Die AKP-Staaten sind vorwiegend Entwicklungsländer und oft ehemalige Kolonien von EU-Staaten. So war das Abkommen auch ein Weg, um die historischen Beziehungen und Privilegien in neue Bahnen zu lenken.
Das Cotonou-Abkommen von 2000 hatte zum Ziel, die Armut schrittweise zu beseitigen und die Länder in die Weltwirtschaft einzubinden. Es ging um drei große Themen: Entwicklungshilfe, wirtschaftliche Kooperation und politische Zusammenarbeit. Besonders letztere spielte eine bedeutende Rolle, gab sie der EU doch ein Mittel, demokratische Werte, die Achtung der Menschenrechte und eine verantwortungsbewusste Regierungsführung in den Partnerländern voranzutreiben.
Verändertes politisches Klima
Auf den ersten Blick scheint der Kommissionsentwurf des Verhandlungsmandats löblich: Themen wie Klimawandel und Management der Ozeane, die Verfolgung der Agenda 2030 oder die Rolle der Zivilgesellschaft fallen stärker ins Gewicht. Und doch wirft eine genaue Lektüre des Mandatsentwurfs Fragen auf.
Schnell wird deutlich, dass sich das politische Klima seit 2000 verändert hat. Klimawandel, Migration, Terrorismus, soziale Ungleichheiten: Das sind die Themen, die die globale Agenda bestimmen. Diese Entwicklungen muss ein neues Abkommen berücksichtigen, bestätigt Luxemburgs Kooperationsminister Romain Schneider (LSAP) im Gespräch mit REPORTER.
Entwicklung ist der letzte Punkt auf der Agenda, dabei sollte die Armutsbekämpfung Vorrang haben.“Kooperationsminister Romain Schneider
Der EU-Kommissar für internationale Entwicklung Neven Mimica unterstreicht, das künftige Abkommen soll eine modernisierte, politische „Partnerschaft zwischen Ebenbürtigen“ sein. Dennoch liest sich das Dokument phasenweise wie eine utilitaristische, teils paternalistische Wunschliste. Offene Märkte, Sicherheit und vor allem Migration sind nur einige Punkte, die andeuten, dass es der Kommission vor allem darum geht, die ganz eigenen Sorgen der EU-Ländern anzusprechen und sich gleichzeitig Handelsprivilegien zu sichern. Dazu zählt etwa, Flüchtlingen in ihre Heimatländer abzuschieben und illegale Zuwanderung zu bekämpfen. In einem Abschnitt heißt es im kalten Bürokraten-Englisch, es gelte „negative spillovers on Europe“ (etwa: negative Nebeneffekte) zu vermeiden.
Die Kommission muss nachbessern
Romain Schneider stört der Eindruck, dass der Migration mehr Bedeutung zukommt als der Entwicklungshilfe an sich. „Entwicklung ist der letzte Punkt auf der Agenda, dabei sollte die Armutsbekämpfung Vorrang haben. Das habe ich auch mehrmals im Rat der EU-Entwicklungsminister betont.“ Kommt der Kampf gegen Armut zu kurz, droht das Abkommen „keine wirkliche Partnerschaft“ zu werden, bedauert der LSAP-Minister. Migration müsse über eine Verbesserung der Strukturen und der lokalen Wirtschaften gedrosselt werden. Nicht indem sich die EU zu sehr auf Rückführung und Ausbremsen konzentriere.
Romain Schneider steht mit seiner Sorge nicht alleine da. REPORTER liegt ein geleakter, zweiter Entwurf des Verhandlungsmandates vor, der die Anmerkungen des Ratsvorsitzes berücksichtigt. Dieser suggeriert, dass der Ministerrat fundamentalen Werten, nachhaltigen Entwicklungszielen und Armutsbekämpfung deutlich mehr Bedeutung beimessen will als die Kommission.
Der Sprengstoff liegt in den Gesellschaften selbst. Unsicherheit entsteht durch Armut. Armut führt zu Unsicherheit.“EU-Abgeordneter Charles Goerens
Auch der liberale EU-Abgeordnete Charles Goerens steht dem Kommissionsentwurf kritisch gegenüber. Während der DP-Politiker den Nutzen eines neuen EU-AKP-Abkommens keineswegs in Frage stellt, so wünscht er sich eine Partnerschaft, die die Bekämpfung von sozialen Ungleichheiten in den Vordergrund stellt.
„Der Sprengstoff liegt in den Gesellschaften selbst. Unsicherheit entsteht durch Armut. Armut führt zu Unsicherheit.“ Diesen Teufelskreis könne man nur dann durchbrechen, wenn man die Probleme an der Wurzel packt, meint Goerens. Dazu zählt für ihn etwa, den globalen Zugang zur Sozialversicherung zu ermöglichen, eine faire Steuerpolitik voranzutreiben oder die Industrie in Entwicklungsländern zu fördern. Das fehlt aber im Kommissionsentwurf.
Ein eigennütziger Trend
Laut Charles Goerens hat die Kommission versäumt, sich auf die Seite der Schwächeren zu stellen. Er nennt den Mandatsentwurf utilitaristisch. Die Kommission riskiere, jene Mechanismen zu bevorzugen, die der EU Migranten vom Leib halten: „Wenn es uns darum geht, diese Instrumente zu nutzen, um hauptsächlich die Probleme der EU zu lösen, dann sind wir nicht mehr an den Problemen der Entwicklungsländer interessiert.“ Die Kommission würde damit einen gefährlichen Weg einschlagen. Die Bekämpfung der Migration und Rückführung von Flüchtlingen wird für die betroffenen Staaten zu einer Bedingung, um Entwicklungshilfe zu erhalten. „Das wäre der Anfang vom Ende der europäischen Entwicklungspolitik“, so Goerens.
Der Entwurf der Kommission bestätigt dabei aber einen Trend, den die EU-Entwicklungspolitik als Ganzes durchläuft. Concord, der Dachverband der europäischen NGOs im Bereich Entwicklungspolitik, warnt, dass die EU sich immer mehr auf eigennützige Ziele konzentriert. Dabei verwischen die Grenzen zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Die Armutsbekämpfung kommt zu kurz. Statt langfristige Lösungen vorzuschlagen, stünde eine schnelle, wenig nachhaltige Problemlösung im Vordergrund. Der Geopolitikforscher François Gemenne geht sogar noch einen Schritt weiter. Für ihn wird die EU-Entwicklungshilfe zu einer einer regelrechten „Migrationsdiplomatie“.
Das Budget droht zu schrumpfen
Dabei erklärt sich diese Entwicklung auch durch die finanziellen Zwänge, denen die EU besonders nach dem Brexit entgegensteuert. Wenn die Mitgliedstaaten nicht bereit sind, mehr als ein Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für den EU-Haushalt auszugeben, dann müssen die Gelder anders verteilt werden. Das Budget, das eigentlich der Entwicklungshilfe und Kooperation zusteht, droht für andere Prioritäten genutzt zu werden. Dazu kommt, dass die wenigsten Mitgliedsstaaten bereit sind, 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommes für Entwicklungshilfe bereitzustellen, wie die Vereinten Nationen fordern. Diese Mittel wurden in den letzten Jahren vorrangig dafür genutzt, die durch die Flüchtlingskrise entstandenen Kosten zu decken.
In diesem Sinne riskiert die „Vereinfachung“ der finanziellen Instrumente, wie es die Kommission nennt, vor allem eines zu sein: eine Kommunikationsstrategie, die künftige Finanzierungsprobleme verschleiert. So warnt der EU-Abgeordnete Claude Turmers (Déi Gréng), die EU-Kommission versuche zur Zeit mit allen Tricks, das Budget künstlich aufzubauschen. Wird zum Beispiel der Europäische Entwicklungsfonds in den mehrjährigen EU-Finanzrahmen integriert – wie es der Vorschlag vorsieht –, dann stehen beide Instrumente nicht mehr nebeneinander. Zwar erlaubt das mehr Mitbestimmung durch das Parlament, doch führt es auch zu weniger Transparenz: Ein schrumpfendes Budget fällt weniger auf.
Die EU steht unter großem Druck. Doch wenn dadurch die Wahrung fundamentaler Werte in den Hintergrund rückt, verliert sie ihren gesamten Mehrwert.“Cécile Vernant, Deutsche Stiftung Weltbevölkerung
Die Gefahr die eine Vereinfachung birgt, wird vor allem aus einem geleakten Kommissionsentwurf über den zukünftigen mehrjährigen Finanzrahmen 2020-27 deutlich. REPORTER liegt die Liste der Finanzierungsinstrumente vor, die zeigt, dass die Bestandteile der EU-Außenpolitik zusammengelegt werden. Statt 17 Instrumente umfasst die „external action“ im Entwurf nur noch fünf, darunter an erster Stelle ein „External Instrument, including strong focus on migration“, wie es im Dokument heißt. Dabei gibt es bereits den „Asylum, Migration and Integration fund“, der zum „Asylum and Migration Fund“ umgetauft wird – die Komponente „Integration“ fällt weg. Der Begriff „Entwicklungshilfe“ kommt in der Liste nicht vor. Und auch das Instrument für Demokratie und Menschenrechte sieht der Kommissionsentwurf nicht mehr vor. Die Kommission wollte zum zukünftigen Budget keine Aussage machen. Man präsentiere den Haushaltsentwurf im Mai, so eine Sprecherin.
Demnach setzt sich der Trend fort, dass die EU-Entwicklungshilfe sich auf strategische und eigennützige Ziele konzentriert. Die Armutsbekämpfung droht zur Nebensache zu werden. Charles Goerens warnt, dass der große Trumpf der EU, nämlich Menschenrechte und demokratische Werte zu wahren und zu fördern, auf diesem Weg verloren geht. Eine Sorge, die auch Cécile Vernant von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung teilt.„Die EU steht unter großem Druck. Doch wenn dadurch die Wahrung fundamentaler Werte in den Hintergrund rückt, verliert sie ihren gesamten Mehrwert.“ Die EU-Entwicklungspolitik würde demnach genau das opfern, was sie im Kern ausmacht.