Vor 24 Jahren starben fast eine Million Ruander im Völkermord gegen die Tutsi. Doch Eric Murangwa überlebte. Der Torhüter von Ruandas größtem Fußballverein wurde von seinem Team versteckt und beschützt. Heute hilft er anderen Überlebenden.
„Es braute sich schon lange etwas zusammen, als würde ein Sturm aufziehen. Doch dass es so schlimm kommen würde, hätten wir uns niemals ausmalen können“, erzählt Eric Murangwa. Dass der 42-jährige frühere Fußballstar überhaupt von seinem Wohnzimmer in den englischen Midlands aus mit mir reden kann ist an sich bereits ein Wunder. Der ehemalige Spieler von Rayon Sports hat den Völkermord gegen die Tutsi überlebt, der vor genau 24 Jahren seinen Lauf nahm.
Der Genozid dauerte fast 100 Tage. Das Morden begann am 7. April 1994, als ein Flugzeug mit dem ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana und dem burundischen Präsidenten Cyprien Ntaryamira an Bord abgeschossen wurde. Es endete am 14. Juli 1994, als die Ruandische Patriotische Front (RPF) das Land unter seine Kontrolle brachte. In diesen 100 Tagen wurden fast eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu ermordet oder verstümmelt. Frauen und Mädchen wurden systematisch vergewaltigt.
Nachbarn töteten Nachbarn
Der ruandische Völkermord zog sich durch alle sozialen Schichten. Die Menschen lebten vor den Gewalttaten Seite an Seite. Nachbarn töteten Nachbarn. Während viele unter uns sich an die Berichte und Bilder von Gewalt, Leichenbergen, von verstümmelten Frauen und Kindern erinnern können, so bleiben die Erzählungen von Mut, Tapferkeit und gegenseitiger Unterstützung oft unerzählt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass ein Völkermord nicht einfach passiert.“
Erics Geschichte jedoch zeigt, dass es sogar in den schlimmsten Situationen noch Raum für Hoffnung gibt: Seine Freunde und Teamkollegen haben sich nicht gegen ihn gewendet, sondern sie haben alles getan um ihn zu schützen.
„Es ist wichtig zu verstehen, dass ein Völkermord nicht einfach passiert. Die Zeichen sind schon lange vorher da. Das war in Ruanda so, und das ist heute in anderen Gegenden auf der Welt genauso“, erklärt der ehemalige Torhüter im Gespräch mit REPORTER.
Als « Kakerlaken » beschimpft
Er war erst sieben Jahre alt, als er zu erkennen begann, dass etwas nicht stimmte. In der Schule musste er in einer anderen Reihe stehen, als andere Kinder. Oft wurde er ausgegrenzt oder beleidigt. Er war Tusi, zu einer Zeit in der die ethnischen Spannungen zwischen Hutu und Tutsi immer schlimmer wurden. In den späten 1980ern und frühen 1990ern artete der Hass auf die « inyenzi », Kakerlaken, wie die Tutsi genannt wurden, immer weiter aus.
Er wollte über Fußball sprechen, also redeten wir über mein letztes Spiel. Das rettete mir das Leben.“
Das Fußballspielen half Eric damit umzugehen. Als er ein Teenager war, verlegte sein Lieblingsclub Rayon Sports seinen Sitz nach Kigali, die Stadt, in die Eric ein paar Jahre zuvor ebenfalls umgezogen war. „Ich habe immer vom Zaun aus zugesehen und wenn ein Spieler fehlte, durfte ich das Tor hüten. So wurde ich besser und besser.“ Mit 16 Jahren hatte Eric sein Debüt in der Profiliga. Ein junges Talent im größten Club des Landes zu sein, schützte den Spieler vor dem Hass, den Drohungen und den Schikanen, denen andere Tutsi Tag für Tag ausgesetzt waren. „Doch es war auch für mich nicht rosig und in den frühen 90er Jahren konnte ich nicht mehr mit meinem Team zu Spielen im Norden des Landes fahren. Es war zu gefährlich.“
Smalltalk über Fußball
Am 7. April, dem Tag als der Völkermord in Ruanda begann, sah sich Eric in einem Pub die Fußball-Afrikameisterschaft an. Er hörte Gerüchte, dass etwas Schlimmes passiert sei, konnte sich aber aber noch keinen Reim darauf machen.
Am nächsten Tag nahm das Unheil seinen Lauf. Den ganzen Tag über waren Explosionen und Schüsse zu hören. Am Nachmittag überfielen Soldaten Erics Haus, mit dem Ziel ihn zu töten. Dann jedoch erkannte einer von den Tätern Eric als Spieler von Rayon Sports und überlegte es sich anders. „Er wollte über Fußball sprechen, also redeten wir über mein letztes Spiel. Das rettete mir das Leben.“
Zu dieser Zeit war das Morden in vielen Gegenden Ruandas bereits im vollen Gange. Tutsi wurden systematisch getötet – niemand sollte überleben, nicht einmal kleine Kinder. Hutu wurden zum Morden aufgefordert: Oft gab man ihnen Waffen und stellte sie vor die Wahl: Entweder töteten sie oder sie mussten selbst sterben. Dabei war es einfach zwischen Hutu und Tutsi zu entscheiden. Die ethnische Zugehörigkeit war auf den Personalausweisen vermerkt – ein Relikt aus der belgischen Kolonialzeit.
Gerettet von einem „génocidaire“
Für Eric war klar – zu Hause war er nicht mehr sicher. Er flüchtete zu seinen Teamkollegen. „Sie haben alles getan, um mich zu schützen. Dabei haben andere Vereine ihre Tutsi-Mitglieder verraten. Doch wir hielten zusammen“, erzählt der ehemalige Spieler. Seine Freunde versteckten ihn, gaben ihm zu Essen und beschafften Informationen.
Dennoch gelang es einer Gang von Soldaten ihn zu finden. Sie kidnappten Eric und schleppten ihn zu einer Straßensperre. Doch einer seiner Teamkollegen fand heraus, was passiert war und flehte seinen Cousin, einen Hutu-Soldaten, an, Eric freizulassen. Wieder rettete sein Sport ihn. Und wieder musste er sein Versteck verlassen.
Seine Freunde baten ein Vorstandsmitglied des Vereins um Hilfe – ein Mann namens Jean-Marie Vianney Mudahinyuka, genannt Zuzu, der während des Völkermords zum notorischer Mörder wurde. „Er hat vergewaltigt und gemordet. Doch er war auch ein großer Fußballfan. Er nahm mich auf, weil er dachte das Töten sei bald vorbei und dann würde er als Held gefeiert werden, weil er mich gerettet hat.“ Zuzu brachte Eric zu einer Station des Roten Kreuzes, wo er einige Tage im Dschungel ausharrte, bevor er im Hotel Mille Collines, bekannt aus dem Film Hotel Rwanda, untergebracht wurde. Das Hotel bot zahlreichen Tutsi Schutz.
Weiter in Gefahr
Der Völkermord gegen die Tutsi endete offiziell am 14. Juli 1994 als die Ruandische Patriotische Front das Land unter seine Kontrolle brachte. Doch für Eric und andere Ruander nahmen Leid, Unsicherheit und Gewalt weiterhin ihren Lauf. Ruanda war ihn Trümmern und es gab hundert Tausende Binnenvertriebene.
Ich hatte alles verloren und musste mich neu erfinden.“
Viele Überlebende und zahlreiche Täter flohen ins benachbarte Zaire (heute Demokratische Republik Kongo). Doch in den Flüchtlingscamps brach die Cholera aus. Es war eine der größten humanitären Krisen dieses Jahrhunderts und erst jetzt interessierte sich die internationale Gemeinschaft für das Leid in der Region der Großen Seen.
Eric hat über 30 Familienmitglieder verloren, darunter seinen kleinen Bruder. Viele seiner Freunde wurden getötet. „Das Leben war nicht mehr dasselbe. Es war sehr schwer“, erinnert sich der 42-Jährige. Dabei war auch Eric weiterhin in Gefahr. Viele Hutu überquerten nachts die Grenzen „um ihre Mission zu vollenden“ und Erics Name stand auf ihrer Tötungsliste. Drei Jahre nach dem Genozid floh er aus seiner Heimat. Nach einem Fußballspiel in Tunesien blieb er auf Drängen seines Teams bei einem Zwischenstopp in Paris zurück. „Ich habe alles und jeden zurückgelassen.“
Ein neuer Start
Heute lebt Eric in Großbritannien. Mit seiner Flucht aus Ruanda endete seine Fußballkarriere – als er endlich seine Aufenthaltserlaubnis bekam, war er zu alt für die Profiliga „Ich hatte alles verloren und musste mich neu erfinden.“
„In Ruanda ist die Völkergemeinschaft nicht eingeschritten und nun lässt sie die Rohingya genauso im Stich wie damals die Tutsi.“
Eric entschied sich seine Leidenschaft für den Fußball zu nutzen um anderen Überlebenden zu helfen und gründete « Football for Hope, Peace and Unity » (FHPU). Projekte in Großbritannien und Ruanda klären junge Menschen über den Völkermord auf, sensibilisieren sie für die Konsequenzen von Hass und Gewalt, helfen ihnen mit schlimmen Erfahrungen fertig zu werden und tragen zur Aussöhnung in Ruanda bei. Erst kürzlich zeichnete die Queen Eric für seine Arbeit aus.

Nie wieder
Für Eric geht es nicht nur darum die Menschen für die Geschehnisse von 1994 zu sensibilisieren sondern auch darum aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. „Hass, Vorurteile und Diskriminierung gibt es in jeder Gesellschaft. Genozid kann überall passieren.“ Er ist überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft nichts dazugelernt hat. „In Ruanda ist sie nicht eingeschritten und nun lässt sie die Rohingya genauso im Stich wie damals die Tutsi.“
In Ruanda hat währenddessen am 7. April die Kwibuka, die alljährliche Gedenkperiode begonnen. In dieser Zeit wird den Verstorbenen gedacht.
Eric plant indes seine Projekte auf andere Konfliktgebiete auszudehnen und anderen Nationen zu helfen mit den Konsequenzen von Hass und Gewalt fertig zu werden. In diesem Sinne kann die Art und Weise wie Ruanda sich nach 1994 wieder aufgebaut haut, als positives Beispiel dienen.
Eric geht es aber auch darum, sich gegen jene stark zu machen, die den Völkermord leugnen und darum sich für die Überlebenden einzusetzen. Eric ist überzeugt, dass letztere nicht ohne Grund überlebt haben und zu einem positiven Wandel beitragen können. „Wir haben der Welt vieles zu geben und können vieles bewegen.“