In Ungarn baut Regierungschef Viktor Orbán seine Macht weiter aus. Die Europawahlen nutzt er ganz gezielt, um Angst und Verwirrung zu schüren. Für seine Gegner scheint die Lage hoffnungslos. Hilfe erwarten sie sich durch ein Europa, das stärker auf Werten und Prinzipien beruht. Ein Gastbeitrag.
Von Gábor Horváth (Népszava)*
Es gibt absolut keinen Grund dafür, warum Ungarn zu den wichtigsten Ländern gehören sollte, die bei den kommenden Europawahlen beobachtet werden müssen. Die Bevölkerung macht 1,92 Prozent der europäischen Bevölkerung aus, und der wirtschaftliche Beitrag zum BIP der EU beträgt nur 0,8 Prozent. Dennoch boxt das Land über seiner Gewichtsklasse, wenn es darum geht, politische Trends zu beeinflussen.
Obwohl Ungarn in vielen Dingen kaum ins Gewicht fällt, so geht vom ehemaligen Karmeliterkloster über Budapest eine große Gefahr aus. Dorthin hat Viktor Orbán vor Kurzem das Büro des Ministerpräsidenten verlegt. Von seinem großen Balkon aus kann er hier auf die herrliche, wenn auch übertrieben geduldige Donau, und das prachtvolle, obgleich meist sanftmütige Parlament, hinunterblicken.
In den trügerisch sittenstrengen weißen Mauern seines Kabinetts arbeitet Orbán hoch über der Stadt an der Umkehrung der Geschichte. Seine große Idee ist das Europa der Nationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, obwohl er weiß, wie diese fröhliche Zeit endete. Das ist ihm egal. Er greift auf rhetorische Figuren von Goebbels zurück, beispielsweise den jüdischen Puppenspieler, der die Fäden zieht, mit dem teuflischen Lächeln eines in Ungarn geborenen Holocaust-Überlebenden mit der Pointe: „Lasst Soros nicht zuletzt lachen!“ Antisemitismus und Hassschürung sind bewährte Methode, und Orbán kennt keine moralischen Grenzen.
Wirtschaftsaufschwung und Angst-Politik
Warum nehmen die ungarischen Wähler das hin? Die Antwort ist dreidimensional. Wirtschaftlich betrachtet profitiert das Land von einem relativ guten Jahrzehnt. Viele Familien spüren die Vorteile trotz des rekordverdächtigen Einkommensgefälles und verblüffender Geschichten wie jene von Orbáns Jugendfreund, dem Dorf-Gasinstallateur Lőrincz Mészáros, der seit 2010 vom absoluten Niemand zum 2057. reichsten Menschen der Welt aufgestiegen ist.
Die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt, und etwa eine halbe Million meist junger und gebildeter Menschen sind in andere EU-Länder gezogen. Brüssel gibt jährlich über vier Milliarden Euro für Ungarn aus, und trägt damit zwischen drei und vier Prozent zum Bruttonationaleinkommen des Landes bei. In der EU beschäftigte Ungarn schicken etwa den gleichen Betrag nach Hause. Ohne dieses Einkommen hätte Orbán weder Geld für staatliche Beihilfen für den Mittelstand noch für seine Lieblingsprojekte, vor allem den Bau von Fußballstadien.
Der zweitwichtigste Grund, warum etwa die Hälfte der Ungarn das Regime immer noch unterstützt, ist Angst. Angst vor Veränderungen und insbesondere Angst vor einer weiteren Welle von Massenmigration wie der im Jahr 2015. Die Regierung von Orbán führt seit fünf Jahren eine skrupellose Anti-Migranten-Kampagne, die mit staatlichen Geldern finanziert wird, und deren Erträge Orbáns Partei in den Wahlkabinen erntet.
Wirkungsvolles rechtes Medienimperium
Das ist schlau, aber längst noch nicht alles. Die Hasskampagnen, welche die ungarischen – und europäischen – Steuerzahler viele Millionen Euro kosten, finanzieren Orbáns andere teuflische Schöpfung: Das ansonsten so ziemlich stillgeborene rechte Medienimperium, mit dem er jeden schlecht macht, der seinen Weg kreuzt. Aber er es ist nicht nur so, dass er die ehemaligen öffentlichen Medien besetzt, zentralisiert und zensiert, sondern er hat fast 500 rechtsextreme Medienkanäle in Privatbesitz unter das einheitliche Dach einer so genannten Stiftung gebracht. Bis auf wenige Ausnahmen werden die zentral aufgearbeiteten Nachrichten von allen TV- und Radiosendern ausgestrahlt.
Stellen Sie sich eine Dorfkneipe vor, in der die Menschen Bier trinken und Fußball schauen – sei es die Weltmeisterschaft, die Champions League oder die Landesmeisterschaft. Zur Halbzeit gibt es eine einminütige Nachrichtensendung, die aus vier 15 Sekunden langen Teilen besteht: Der erste über einen muslimischen Migranten, der ein Teenagermädchen in Frankreich erstochen hat. Der zweite über Tausende von Migranten in einem Lager irgendwo auf dem Balkan, die auf ihre Chance warten, nach Europa einzureisen. Der dritte über Bürokraten in Brüssel, die mit George Soros zusammenarbeiten, um Millionen von bösartig dreinschauenden nicht-weißen Menschen in Europa umzusiedeln. Und der letzte Teil über Ungarn, wo es Frieden und Wohlstand gibt, und ein Kabinettsmitglied das Band vor einem neuen Schlachthof oder – noch besser – einer renovierten Kirche durchschneidet. Würden Sie nicht auch Orbán Ihre Stimme geben?
Wahlmanipulationen und Hoffnungsschimmer
Hinzu kommen die verfälschten Wahlregeln, die den Parteichef begünstigen, und zwar neun Jahre nach der schamlosen Verteilung öffentlicher Gelder an einen engen Kreis von Familienmitgliedern und Freunden, und endlosen Manipulationen, die darauf abzielen, Unfrieden zwischen den Oppositionsparteien zu stiften. Was sich daraus ergibt, ist eine scheinbar hoffnungslose Situation in einem Land, das für die pessimistischen Einstellungen seiner Bewohner bekannt ist.
Nun sollte man lieber zweimal nachdenken. Die Ungarn werden in diesem Jahr zweimal ihre Stimmen abgeben: Einmal bei der Europawahl und später bei der Kommunalwahl. Die Oppositionsparteien können im Mai getrennt voneinander antreten, scheinen sich aber für den Herbst vernünftigerweise abzusprechen. Die europäischen Wähler können ihnen helfen, indem sie eine stärkere Gemeinschaft unterstützen, die nicht nur auf Wohlstand, sondern auch auf Werten und Prinzipien beruht. Dann kann Ungarn sozusagen versuchen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Aber es gibt noch einen weiteren Weg, wie Europa helfen könnte: Die Entsendung von Wahlbeobachtern. Denn dieser Typ ist ein Betrüger.
* Übersetzung von Julia Heinemann (VoxEurop)
Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament veröffentlicht Reporter.lu eine Reihe von Analysen von Journalisten und Kolumnisten aus anderen europäischen Ländern. Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit der unabhängigen Nachrichtenplattform VoxEurop.eu. Weitere Informationen zur Artikelserie finden Sie hier: VoxEurop: 27 Stimmen für Europa.