Um sich den westlichen Sanktionen im Zuge des Ukrainekrieges zu entziehen, musste Russland kreativ werden. Das zeigt sich besonders beim Handel mit Rohöl. Seit ein weiteres Embargo gegen das Regime in Moskau gilt, droht der Graumarkt zu explodieren.
In dem Jahr seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben sich einst marktbeherrschende westliche Firmen aus dem Handel, der Verschiffung und der Versicherung von russischem Rohöl zurückgezogen. An ihrer Stelle helfen bisher unbekannte neue Marktteilnehmer, das Rohöl des Landes zu verkaufen. Sie sitzen nicht in Genf, sondern in Hongkong oder Dubai. Viele haben noch nie mit diesem Rohstoff gehandelt. Das globale Energiesystem wird immer fragmentierter, gespaltener – und gefährlicher.
Seit dem 5. Dezember, als ein weiteres Paket westlicher Sanktionen in Kraft trat, benötigt Russland diese alternative Lieferkette noch dringlicher. Die Sanktionsmaßnahmen verbieten europäische Importe von zur See befördertem Rohöl und erlauben es russischen Schiffen, die Logistik- und Versicherungsunternehmen des Westens nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn der Preis ihrer Fracht unter 60 Dollar pro Barrel liegt. Weitere Sanktionen für Diesel und andere raffinierte Produkte traten am 5. Februar in Kraft, wodurch die alternativen Lieferkanäle noch wichtiger werden.
„The Economist“ hat mit einer Reihe von Vermittlern auf dem Ölmarkt gesprochen und Daten aus der gesamten Lieferkette untersucht, um die Auswirkungen der Sanktionen zu bewerten und daraus mögliche künftige Szenarien zu entwickeln. Zum Leidwesen des Westens und zur Erleichterung Russlands wurde dabei festgestellt, dass die neue „Schatteninfrastruktur” in den Bereichen Schifffahrt und Finanzierung robust und umfangreich ist. Anstatt zu verschwinden, steht der Graue Markt vor weiterem Wachstum, sobald die neuen Sanktionen wirken.
Alte Tanker durch dunkle Kanäle
Für Russlands Exporte, die im vergangenen Jahr mehr als zehn Prozent des weltweiten Handelsvolumens ausmachten, waren die europäischen Sanktionen im Dezember ein schwerer Schlag. Zwei Monate später haben sie jedoch wieder das zuletzt im Juni verzeichnete Niveau erreicht. Das Volumen des zur See transportierten Rohöls, das zunimmt, wenn der Markt blockiert wird, hat sich wieder normalisiert. Wie erwartet, nehmen China und Indien den Großteil der mit Sanktionen belegten Barrels ab. Doch es gibt eine Überraschung: Das Frachtaufkommen mit unbekannten Zielen ist sprunghaft angestiegen. Russisches Öl, das früher leicht zu verfolgen war, wird jetzt durch dunklere Kanäle transportiert.
Ein Teil des Handels nutzt immer noch dieselben griechischen Spediteure, dieselben britischen Versicherer und dieselben niederländischen und japanischen Banken, die die Branche seit Langem beherrschen. Dieses System überlebt dank der vom Westen im Dezember durchgesetzten Preisobergrenze. In dem Monat, als die europäischen Firmen damit beschäftigt waren, den mit den Sanktionen verbundenen Papierkram zu prüfen, brach der Anteil des von ihnen gehandelten westrussischen Rohöls von 60 Prozent auf 13 Prozent ein. Seit der juristische Papierkrieg erledigt ist, hat sich dieser Anteil auf 36 Prozent erholt. Aber wahrscheinlich wird er erneut zurückgehen. Zum 1. Januar haben die weltgrößten Rückversicherer, welche wiederum die Versicherer versichern, beschlossen, die Schifffahrt aus russischen Häfen nicht mehr abzudecken. Westliche Versicherer müssen nun entweder aus dem Geschäft aussteigen oder die durch das erhöhte Risiko entstehenden Mehrkosten weitergeben.
Am anderen Ende des Spektrums liegt der „Schwarzhandel”, der seit Langem von Produzenten wie dem Iran und Venezuela praktiziert wird. Ausgemusterte Tanker, die bis zu einem halben Jahrhundert alt sind, fahren ohne Transponder zu heimlichen Kunden. Sie werden umbenannt und neu gestrichen, manchmal mehrmals pro Fahrt. Sie laufen häufig überlastete Terminals an, wo ihr Rohöl mit anderem Öl gemischt wird, was es schwieriger macht, es nachzuverfolgen. Kürzlich wurden mehrere riesige Tanker gesichtet, die früher im Golf vor Anker lagen und nun Fracht von kleineren russischen Schiffen vor Gibraltar übernommen haben. Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 mehr russisches Öl importierten als in den vorangegangenen drei Jahren zusammen, scheinen einen Teil davon gemischt und nach Europa weiterverkauft zu haben. Malaysia exportiert doppelt so viel Rohöl nach China, wie es selbst produzieren kann. Vieles davon stammt wahrscheinlich aus dem Iran, aber Schiffsbeobachter vermuten, dass auch ein paar russische Barrels darunter sind.
Da russische Firmen Rohöl immer noch legal in einen Großteil der Welt verkaufen können, erscheint dieser Kanal unnötig kompliziert. Der Anteil der durch ihn fließenden Exporte ist zwar steigend, aber insgesamt gering. Stattdessen fließt der größte Teil des russischen Rohöls durch „graue“ Netzwerke, die zwar die Preisobergrenze nicht einhalten, aber auch nicht illegal sind, weil sie nicht-westliche Logistik nutzen und in Länder liefern, die nicht Teil der Blockade sind. Diese undurchsichtigen, vereinzelten Geschäfte stützen sich auf drei Hauptsäulen: eine neue Gruppe von Händlern, eine riesige und wachsende Tankerflotte und neue Finanzierungsquellen.
Eine ganze Reihe von Grautönen
Russlands Rohöl wurde früher von den Handelsfirmen russischer Produzenten und westlicher Ölkonzerne sowie von Schweizer Rohstoffhändlern ins Ausland verkauft. Diese waren meist in Genf ansässig. Aber viele der ersteren scheinen nun an freundlichere Orte umgezogen zu sein. Robin Mills vom Beratungsunternehmen „Qamar Energy” schätzt, dass sich seit Kriegsbeginn mehr als 30 russische Handelsunternehmen in Dubai niedergelassen haben – einige unter neuem Namen. Da westliche Händler sich zurückgezogen haben, sind Neuankömmlinge aufgetaucht, die nach Indien, Sri Lanka, in die Türkei und andere Länder verkaufen. Die meisten haben bisher nicht mit russischem Öl oder überhaupt mit Öl gehandelt. Insider vermuten, dass es sich bei den meisten um Strohfirmen russischer Staatsunternehmen handelt.
Es ist diese merkwürdige Gruppe, die die weitläufige Graue Flotte organisiert. Seit die EU erstmals Sanktionen gegen die Logistik erwogen hat, ist der Gebrauchttankermarkt explodiert. Laut dem Schiffsmakler „SSY“ wechselten im vergangenen Jahr fast 200 Rohöltanker den Besitzer, etwa 55 Prozent mehr als im Jahr 2021. Die meisten waren „Aframax“- und „Suezmax“-Tanker: Mit einer maximalen Kapazität von einer Million Barrel sind dies die einzigen Schiffe, die klein genug sind, um in russischen Häfen anzulegen. Die Nachfrage nach Aframax-Tankern war so stark, dass einige kürzlich für 35 Millionen US-Dollar verkauft wurden. Das entspricht dem Durchschnittspreis, den China letztes Jahr für den Kauf viel größerer „VLCC“-Tanker gezahlt hat, die bis zu zwei Millionen Barrel laden können.
Die Flotte, mit der Russland die Preisobergrenze umgehen kann, umfasst jetzt etwa 360 Schiffe, was 16 Prozent des weltweiten Rohöltankerbestands gleichkommt. Würden alle westlichen Schiffe russisches Rohöl meiden, so würde die „Schattenflotte“ ausreichen, um Russlands Rohölexporte auf dem derzeitigen Niveau zu halten, sagt Reid l’Anson von „Kpler“, einem Datenservice-Unternehmen. Aber viele der Schiffe sind mehr als zwei Jahrzehnte alt und legen sehr lange Strecken zurück. Während Rohöl weniger als eine Woche braucht, um vom Schwarzen Meer nach Europa zu gelangen, dauert es 45 Tage, um China zu erreichen.
Die Förderer des Schattenhandels
Als das Geschäft boomte, mussten die neuen Zwischenhändler Finanzierer finden, um ihre Geschäfte zu finanzieren und zu versichern. Die Fähigkeit, Millionen Barrel zu bewegen, ohne Kapital aufzubringen, indem man auf nahezu unbegrenzte Kreditlinien von den größten Banken der Welt zurückgreift, ist seit Langem ein entscheidendes Element des Ölhandels. Beim russischen Öl, das westliche Banken mittlerweile meiden, ist das nicht mehr möglich. Stattdessen scheint der Schattenhandel durch Kredite des russischen Staates gefördert zu werden, wobei die Zwischenhändler die Fracht erst dann bezahlen, wenn sie den Gesamtbetrag erhalten haben. Auch Banken am Golf beteiligen sich zunehmend an der Finanzierung. Insider glauben, dass sie beschlossen haben, tätig zu werden, als „ADNOC“, der staatliche Energieriese der VAE, im November damit begann, russisches Rohöl zu kaufen.
Der Abschluss einer Versicherung ist schwieriger. Die Reeder von Öltankern müssen nicht nur ihre Ladung und ihre Schiffe schützen. Hafenbehörden, die Passagen wie den Bosporus kontrollieren, verlangen außerdem eine Schutz- und Schadensversicherung (p&i) für die Kosten von Schäden, die Schiffe Menschen, Eigentum oder der Natur zufügen können. Die Haftung aus einer Ölpest kann so groß sein, dass 90 Prozent der globalen p&i-Deckung von Zusammenschlüssen von Reedern bereitgestellt werden, die Prämien bündeln. Außerhalb des Westens hat kein privater Markt die Kraft, ähnliche Sicherheitsnetze aufzubauen, sagt Ulrich Kadow vom deutschen Versicherungskonzern „Allianz“. Doch auch hier wurden Lösungen gefunden. Seit Dezember scheinen russische Firmen, die oft neu im Schifffahrtsgeschäft sind, eingesprungen zu sein, um Fracht- und Schiffsversicherungen anzubieten. Einige p&i-Abdeckungen von ebenso fragwürdiger Qualität werden wahrscheinlich vom russischen Staat angeboten. Versicherungsexperten vermuten, dass einige Häfen, die Länder bedienen, welche russisches Rohöl abnehmen – insbesondere Indien –, das Deckungsniveau gesenkt haben, das sie für ankommende Tanker verlangen.
Der Graue Handel kann noch weiter wachsen. China und Indien können mehr russisches Rohöl kaufen: Ihre Tanks sind laut der Datenservicefirma „Kayrros“ zu weniger als zwei Dritteln gefüllt, was darauf hindeutet, dass die meisten ihrer Einkäufe raffiniert und weiterverkauft – einige nach Europa – und nicht gelagert werden. Am 3. Januar erhöhte China seine Exportquoten für Raffinerieprodukte im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent, bemerkt Giovanni Serio vom Handelsunternehmen „Vitol“. Das geschah vielleicht als Probelauf, um mehr Rohöl aus Russland zu kaufen und die raffinierten Produkte dann im Ausland zu verkaufen.
Schließlich könnte die Wirkung der Anreize, die Preisobergrenze einzuhalten, mit der Zeit nachlassen. Im Dezember erließ Wladimir Putin ein Dekret, das den Verkauf an Käufer verbietet, die sich an die Regeln halten. Die Formulierung des Dekrets ist unklar und öffnet die Tür für Ausnahmen. Viele denken, dass es nicht strikt durchgesetzt wird. Immerhin könnte der am 1. Februar in Kraft getretene Beschluss noch einige Käufer zum Umdenken bewegen.
Tanker, Seemann, Soldat, Spion
Preiserhöhungen würden das Gesamtbild drastischer verändern. Heute wird Brent, die internationale Rohöl-Benchmark, zu 83 US-Dollar pro Barrel gehandelt, verglichen mit durchschnittlich 100 Dollar im letzten Jahr. Russlands schwache Verhandlungsposition und hohe Frachtkosten führten dazu, dass sein „Ural“-Rohöl bereits vor der Einführung der Preisobergrenze billiger verkauft wurde. Infolgedessen wird ein Barrel Ural-Öl, das aus dem Westen Russlands stammt und den größten Teil seiner Exporte ausmacht, unter der Preisobergrenze von 60 US-Dollar verkauft. Dieser gemäßigte Markt macht jedem das Leben leichter, der sich an die Regeln halten möchte. Viele Analysten glauben jedoch, dass eine Erholung der chinesischen Nachfrage in Verbindung mit schwachen Investitionen in neue Ölvorräte das Brent-Öl in der zweiten Hälfte dieses Jahres wieder auf 100 Dollar treiben könnte. In einem solchen Szenario würde auch der Ural-Öl-Preis steigen. Einige Käufer würden sich dann vermutlich eher dem Schattenhandel zuwenden, als sich mit Compliance-Problemen auseinanderzusetzen.
Auch die neue Sanktionsrunde bei Raffinerieprodukten wird dem Grauen Handel einen deutlichen Schub verleihen. Im Dezember kaufte Europa eine Million Barrel Diesel und andere saubere Destillate pro Tag, was 55 Prozent der russischen Exporte entspricht. Jetzt muss Russland neue Käufer finden. China und Indien haben wenig Nachfrage nach raffinierten Produkten, und der Weltmarkt ist fragmentiert. Daher könnten Russlands beste Chancen auf den kleineren Märkten Brasilien und Mexiko liegen, deren Vorräte schwinden werden, wenn Amerika mehr nach Europa exportiert. Doch die Flotte für den Transport solcher Produkte ist klein, und die langen Transportwege werden die Knappheit noch verstärken. All dies deutet darauf hin, dass Russland nicht in der Lage sein wird, einen Großteil seines raffinierten Öls zu verkaufen, und stattdessen versuchen wird, so viel Rohöl wie möglich auf den Grauen Markt zu bringen.
Für Russland bietet das Wachstum im Grauen Handel Vorteile. Es entzieht den größeren Teil seiner Exportmechanismen der Kontrolle durch westliche Vermittler. Und es macht die Preisgestaltung weniger transparent. Westliche Schätzungen der Ural-Öl-Preise, die auf wenigen tatsächlichen Handelsgeschäften basieren, haben Schwierigkeiten, die Kosten zu verfolgen. Die neuesten verfügbaren indischen Zolldaten vom November zeigen, dass das Land Öl mit viel niedrigeren Rabatten gekauft hat als damals gemeldet, bemerkt Sergey Vakulenko, ein ehemaliger russischer Ölmanager, der jetzt bei der Denkfabrik „Carnegie Endowment” arbeitet. Graumarkt-Vermittler, die Kosten wie Fracht erfassen, bieten eine Möglichkeit, Geld auf Konten von Offshore-Unternehmen zu leiten, die der Kreml wahrscheinlich beeinflussen kann.
In der Zwischenzeit wird Russlands Sanktionsumgehung unangenehme Nebenwirkungen für den Rest der Welt haben. Eine wird darin bestehen, den Ölhandel entlang scharfer geopolitischer Linien weiter aufzuspalten. Im Dezember erklärten mehrere westliche Großkonzerne, darunter „ExxonMobil“ und „Shell“, sie würden keine Tanker mehr chartern, die russisches Öl transportiert haben, und zwangen die Eigentümer, Partei zu ergreifen. Die andere Wirkung wird darin bestehen, den Ölhandel zu einem riskanteren Geschäft zu machen. Ein wachsender Teil des Erdöls der Welt wird von kaum bekannten Firmen transportiert, auf veralteten Schiffen, die längere und schwierigere Strecken zurücklegen als je zuvor. Sollten sie einen Unfall verursachen, sind die Versicherer möglicherweise nicht bereit oder nicht in der Lage, den Schaden zu übernehmen. Die Verbündeten der Ukraine haben gute Gründe, ihre Hände von russischem Öl zu lassen. Aber dadurch werden sie nicht verhindern, dass die Trümmer von schiffbrüchigen Öltankern an ihren Küsten stranden.
© 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.From The Economist, translated by Hermann J. Bumb, published under licence. The original article, in English, can be found on www.economist.com.