Während im Westen die Angst vor einer Eskalation wächst, gehört der Krieg in der Ukraine seit acht Jahren zum Alltag. Ein Besuch an der Frontlinie im Osten des Landes gibt Einblick in einen zehrenden Konflikt, dem mittlerweile 14.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.  

Von Pit Scholtes (Solote, Ostukraine)

Nur leicht schimmern die Überbleibsel vom Vortag noch in der Pfütze. Einzig das Flugleitwerk der Mörsergranate ist noch deutlich zu erkennen: ein schwarzer Stern aus Maschinenstahl. Sergiy zeigt sich unbeeindruckt von dem Beschuss. Zu sehr ist der Kommandant bereits an die rituellen Artilleriesalven gewöhnt. „Sie beschießen uns jeden Abend. Etwa jede halbe Stunde, sobald die Dämmerung einsetzt, geht es los“, erklärt der erst 23-jährige Kompaniechef betont gelassen. Beschossen werden er und seine Männer aus etwa 800 Metern Entfernung. Dort liegt die Stellung des Gegners, etwa 100 bis 130 Kämpfer der selbsternannten « Volksrepublik Lugansk ».

Ein Dorf im Kriegsgebiet

Nach mehr als acht Jahren hat in Solote eine tragische Routine eingesetzt. Seitdem verläuft die sogenannte Kontaktlinie, wie die Front offiziell heißt, direkt durch die fünf weit versprengten Teile des Ortsgebiets im äußersten Osten der Ukraine. Die Truppen der ukrainischen Armee kontrollieren Solote 1 bis 4, während Solote 5 von russischen Separatisten besetzt wird.

Die Hauptstellung der ukrainischen Armee liegt etwas außerhalb des Dorfkerns von Solote 4. In einem Waldstück haben die Truppen Stellung in einem verlassenen Wohnblock aus Sowjetzeiten bezogen. Wie viele genau hier stationiert sind, will Kommandant Sergiy aus strategischen Gründen nicht beziffern. Die Fenster des achtstöckigen Gebäudes sind mit Brettern versiegelt, aus einigen ragen Ofenrohre.

Menschen aus dem Westen fragen mich immer: Hast du keine Angst vor Krieg? Hier ist seit 2014 Krieg und so schlimm es klingt, wir sind daran gewöhnt. »Oleksi Babchenko, Bürgermeister

An einer Wand aus mit Sand befüllten Klötzen liegt eine Stoffpuppe mit dem Konterfei von Wladimir Putin. Sie dient den Soldaten für das Schießtraining. Wenig deutet hier darauf hin, dass eine mögliche russische Invasion bevorsteht. Die Stellung erweckt eher den Eindruck, dass aus einem Provisorium über die Jahre ein Stützpunkt geworden ist, den man eher verwaltet als verteidigt. Trotz des täglichen Beschusses wirkt der Konflikt hier wie eingefroren.

Angriffe an der Tagesordnung

„Der Artilleriebeschuss soll uns aus der Stellung locken. Das eigentliche Ziel ist es, uns aufs offene Feld zu kriegen, damit die feindlichen Scharfschützen freie Sicht auf uns haben“, erklärt Sergiy. Etwa seit September sei der Beschuss mit Mörsergranaten intensiver geworden. Seine Kompanie habe seitdem drei Verwundete zu beklagen, berichtet der junge Kommandant. Er selbst ist seit Sommer 2021 in Solote stationiert. Bereits davor war sein Leben von der Armee geprägt. Nachdem er zunächst eine Militärakademie besucht hatte, sei es vor allem der Maidan-Protest 2014 gewesen, der ihn dazu bewogen habe, anschließend die Offiziersschule in Lviv zu besuchen.

Die Spuren des Konflikts sind in der Donbass-Region, so wie hier in der Nähe von Slowjansk, noch allgegenwärtig. (Foto: Pit Scholtes)

Wie viele Menschen genau noch in den einzelnen Ortsteilen leben, sei schwer zu sagen, meint Presseoffizier Taras Gren während der Busfahrt durch Solote 4. Die letzte Volkszählung aus dem Jahr 2001 geht offiziell von 13.000 Bewohnern aus. In dieser Zeit lebte Solote eigentlich vom Kohleabbau, so wie die ganze Gegend. Durch die Büsche am Horizont sind die beiden Fördertürme der Kohlegrube gut zu erkennen.

Völlig verschwunden ist das dörfliche Leben trotz des andauernden Konflikts nicht. Aus einigen Kaminen steigt Rauch in den winterlichen Himmel. Die Gärten vor den kleinen Häuschen warten auf den Frühling, die umgegrabene Erde von Schnee bedeckt. Vor einem Haus stehen bunte Bienenkästen. In der Ortsmitte gibt es noch immer einen Supermarkt. Seitlich daneben lässt ein Linienbus den Motor laufen, der Fahrer raucht noch eine Zigarette, bevor er seinen einzigen Fahrgast in die nächstgelegene Stadt Sjewjerodonezk fährt. Die Geräuschkulisse ist vom Gebell streunender Hunde geprägt. Die Straßen aber bleiben nahezu menschenleer und das Dorf erinnert an eine Geisterstadt.

Krieg als tragische Routine

Der schwelende Konflikt mit den Separatisten ist dennoch allgegenwärtig. Wer nach Solote will, muss zwei Militär-Checkpoints passieren. An dem zweiten haben die ukrainischen Truppen behelfsmäßige Krankenstationen in schwarzen Containern errichtet, sie sind auch gedacht für die Menschen, die in dem von Separatisten besetzten Ortsteil von Solote 5 leben und auf medizinische Hilfe angewiesen sind. Die Hauptstraße durch den Ort ist gesäumt von schweren Betonblöcken. Sie sollen Armeefahrzeuge daran hindern, querfeldein in den Ort vorzudringen.

Viele Einwohner haben das Dorf Solote 4 wegen der andauernden Kampfhandlungen längst verlassen. (Foto: Pit Scholtes)

Während der Westen Angst vor einem Krieg in der Ukraine hat, ist dieser Krieg hier in der Ostukraine keine Neuigkeit. Eine nüchterne Version davon, was das heißt, liefern die jährlichen Statusberichte der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Allein im Jahr 2021 kam es zu 93.902 Verstößen gegen den in den Minsker Verträgen vereinbarten Waffenstillstand. Zudem wurden 2021 insgesamt 94 Zivilisten verletzt, 16 davon tödlich.

Seit Beginn des Konflikts 2014 sind rund 14.000 Menschen ums Leben gekommen. UN-Schätzungen aus dem Jahr 2019 gehen davon aus, dass die russischen Separatisten 5.500 Verluste zu beklagen hatten und die ukrainische Armee rund 5.000. Zudem sind seit Beginn des Konflikts rund 1,5 Millionen Menschen aus den besetzen Gebieten zu Binnenflüchtlingen geworden. Die Dunkelziffer dürfte jedoch höher liegen, da viele sich nicht offiziell als Flüchtlinge registriert haben.

Wie viel die Region auch wirtschaftlich leidet, davon zeugen nicht nur die zahlreichen verlassenen Fabrikanlagen rund um die lokalen Zentren in Kramatorsk und Sjewerodonezk. Auch dass beide Orte heute überhaupt als Kernstädte gelten, ist eine direkte Folge des Konflikts. Denn mit Lugansk und Donetsk hat die Region Donbass ihre zwei wirtschaftlichen und politischen Zentren verloren.

Angriffe auf die Infrastruktur

Ein Verlust, der wirtschaftlich nicht ohne Folgen bleibt. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass die Region seit Beginn des Konflikts etwa 102 Milliarden Dollar an Wirtschaftsleistung verloren hat – das entspricht ungefähr 14,6 Milliarden Dollar jährlich seit 2014. So waren viele der ansässigen Industrieunternehmen, wie etwa der Maschinenbauer « Kramatorsk Heavy Industries », auf den russischen Markt ausgerichtet, von dem sie jetzt abgeschnitten sind. Hinzu kommt, dass ausländische Investoren von dem andauernden Konflikt abgeschreckt werden. Zudem ist die öffentliche Infrastruktur nahezu täglichen Angriffen ausgesetzt und muss mühsam wiederaufgebaut werden.

« Menschen aus dem Westen fragen mich immer: Hast du keine Angst vor Krieg? Die einfache Antwort lautet: Hier ist seit 2014 Krieg und so schlimm es klingt, wir sind daran gewöhnt », erklärt Oleksi Babchenko, der als Bürgermeister der Kreisverwaltung Hirske ebenfalls für Solote zuständig ist. Erst vor zwei Monaten sei die Hauptwasserleitung von Solote durch Artilleriebeschuss fast vollständig zerstört worden, erklärt der 34-Jährige. Ähnliche Angriffe habe es in den vergangenen Jahren auch auf die Strom- und Gasversorgung gegeben, erklärt der Bürgermeister, der 2014 selbst bei der Verteidigung des Flughafens in Donetsk verwundet wurde.

« Natürlich bereiten wir uns auf eine Invasion vor, aber es ist wichtig, nicht in Panik zu geraten », sagt Bürgermeister Oleksi Babchenko. (Foto: Pit Scholtes)

Weit schlimmer als in Hirkse sei die Lage aber in den von Separatisten besetzen Gebieten, so der ausgebildete Jurist. Täglich würden rund 40 Menschen aus dem besetzten Teil von Solote das Bezirksamt in Hirkse aufsuchen. « Es fehlt ihnen an allem. Es gibt keine medizinische Versorgung, keine staatliche Unterstützung und die Menschen sind der Willkür der Separatisten ausgesetzt », schildert Oleksi Babchenko die Lage. Ins Bezirksamt würden sie unter anderem auch kommen, da ihnen noch eine Rente aus der Ukraine zustehe. « Wir laden ihnen das Geld auf eine spezielle Karte, würden wir es ihnen in bar ausbezahlen, würde es am einzigen geöffneten Grenzübergang beschlagnahmt », erklärt der Bürgermeister von Hirske.

« Viele Russen wollen keinen Konflikt »

Doch auch wenn der Konflikt das Leben in der Region seit Jahren prägt, ist sich Oleksi Babchenko der neuen Dimension bewusst: « Natürlich bereiten wir uns auf eine Invasion vor, aber es ist wichtig, nicht in Panik zu geraten. » Die Lage heute sei nicht mehr mit 2014 zu vergleichen, die Armee sei viel besser ausgerüstet und kampferprobt.

Es ist eine Sichtweise, die Oberst Dmytro Krasylnykov nur zu gerne teilt. Der gedrungene Mitvierziger ist Befehlshaber der Nördlichen Einheit der ukrainischen Armee und zuständig für die Region Lugansk. Auf die Frage, wie die Chancen seiner Truppen im Falle einer russischen Invasion stehen, fällt seine Antwort dennoch nuanciert aus: « Besonders bei Raketenangriffen aus größerer Entfernung hat Russland einen Vorteil. Die Situation ändert sich aber, sobald die russischen Truppen die Kontaktlinie überqueren. Denn je näher sie an uns heranrücken, desto größer werden unsere Chancen. Bei der Artillerie und der Panzerabwehr sehe ich uns im Vorteil. »

Viele Russen wollen keinen Konflikt mit der Ukraine und sehen uns als Brüder. Ich bezweifele, dass die Moral in der russischen Armee lange aufrechtzuerhalten bleibt. »Dmytro Krasylnykov, Oberst der ukrainischen Armee

Zudem stünden der ukrainischen Armee bei Bedarf mehr als 100.000 Reservisten zur Verfügung, wovon die meisten über Erfahrung im Umgang mit Artilleriegeschützen verfügten, so der Oberst. Und dann wäre da noch ein weiterer Faktor, den man nicht unterschätzen dürfe: den moralischen. « Viele Russen wollen keinen Konflikt mit der Ukraine und sehen uns als Brüder. Ich bezweifele, dass die Moral in der russischen Armee lange aufrechtzuerhalten bleibt. Das ist bei uns anders, wir kämpfen für unsere Souveränität », sagt Dmytro Krasylnykov.

Auch direkt an der Kontaktlinie überwiegt die Zuversicht. Auf die Frage, wie die Stimmung unter den Soldaten sei, huscht ein Schmunzeln über das Gesicht von Kommandant Sergiy: « Wir sind motiviert und die Moral ist sehr gut. Nur das Wetter und die andauernde Kälte machen uns zu schaffen. » Langsam bricht die Dämmerung über Solote herein und es wird Zeit, die Kontaktlinie zu verlassen. Wieder in Sjewjerodonezk angekommen, hören wir, dass die Stellung nur 30 Minuten nach unserem Besuch erneut beschossen wurde.


Anmerkung der Redaktion: Diese Reportage entstand im Rahmen einer Pressereise, an der Reporter.lu teilnahm und die von der « Academy of Ukrainian Press » organisiert und finanziert wurde. Die Nichtregierungsorganisation wird finanziell von mehreren westlichen Staaten und Stiftungen unterstützt.