Die Türkei und Griechenland pflegen seit Jahrzehnten ein angespanntes Verhältnis. Dass es auch anders geht zeigt sich auf Gökceada, der flächenmäßig größten Insel der Türkei: Hier leben Türken und Griechen friedlich zusammen. Trotzdem ist die griechisch-orthodoxe Minorität vom Ausstreben bedroht.
Schon der monotone Gesang, der über den Dorfplatz hallt, deutet drauf hin, dass Tepeköy kein gewöhnliches türkisches Dorf ist: Zu hören ist kein Imam, sondern ein griechisch-orthodoxer Priester.
Über einen breiten Innenhof und ein Vorzimmer, in dem eine Reihe von Kerzen brennen, erreicht man das Innere seiner Kirche. Im Schummerlicht des Gebetsraums lassen sich gut zwei Dutzend Gemeindemitglieder ausmachen, die auf antiken Holzbänken am Gottesdienst teilnehmen. Fast alle von ihnen sind festlich gekleidete Frauen in ihrer zweiten Lebenshälfte. Gebannt blicken Sie auf den Priester vor ihnen.
Der Priester hat einen langen weißen Bart und trägt ein schwarzes Gewand, das sich von den gold-glitzernden Ikonen und Heiligenbildern über dem Kirchenaltar abhebt. Ohne viel Luft zu holen rezitiert der Geistliche eine nicht endende Litanei von Namen herunter, immer wieder unterbrochen von lang gezogenen Gesängen auf Griechisch.
“Heute feiern wir Mnimosino, ein Ritual, in dem wir der Verstorbenen gedenken und Gott bitten, sie zu segnen. Das passiert nur zwei Mal im Jahr”, erklärt eine alte Dame in Schwarz, die ihre Hände zum Gebet gefaltet hat. Ihr Name ist Irene.
Wir sind keine Griechen, sondern zu allererst Türken
Sie gehört zur Minorität der Rum-Griechen. Das ist der Name, den die griechisch-orthodoxen Christen in Anatolien seit dem byzantinischen Reich tragen und der sich bis heute gehalten hat. Heute existiert die griechisch-türkische Kultur noch in sechs Dörfern auf Gökceada. Die Gemeinschaft umfasst einige dutzend Familien. Am sichtbarsten ist sie in Tepeköy.
Nach der Zeremonie versammelt Irene sich mit anderen Frauen aus der Kirche im Innenhof. Aus ihren Küchen in Tepeköy haben die Frauen Kolyva mitgebracht, eine süß-würzige Weizenspeise, großzügig mit Puderzucker überzogen. Gästen Kolyva auszugeben soll Segen bringen, sowohl für den Zubereiter als auch für die Seelen der verstorbenen Familienmitglieder.
Wir sind in der Türkei geboren. Deshalb sind wir keine Griechen, sondern zu allererst Türken, und dann Rum-Christen. Zuhause sprechen wir Griechisch, im Alltag aber häufig Türkisch. »Irene
Auf die Frage, ob sie sich mehr griechisch fühle oder mehr türkisch, antwortet Irene: “Wir sind in der Türkei geboren. Deshalb sind wir keine Griechen, sondern zu allererst Türken, und dann Rum-Christen. Zuhause sprechen wir Griechisch, im Alltag aber häufig Türkisch.”
Dann verschwindet sie in einer der schläfrigen Gassen von Tepeköy (auf Türkisch “Dorf auf dem Hügel”), das auf Griechisch einmal “Agridia” (“kleines Feld”) hieß. Später ist sie noch einmal im Teehaus auf dem Dorfplatz zu sehen, in dem einige der Kirchgänger nun türkischen Tee aus Tulpengläsern trinken und dabei auf Griechisch konversieren. Auf Gökceada, der flächenmäßig größten Insel der Türkei, war dies vor einigen Jahrzehnten noch überall Gang und Gebe.
Politische Spannungen hinterlassen auch Spuren auf Gökceada
Doch in den sechziger und siebziger Jahren verließen viele Rum-Griechen die Insel. Die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland um Zypern wirken sich auch auf die damals noch mehrheitlich griechisch-orthodoxe Inselbevölkerung aus. Der türkische Staat setzte sie unter Druck, nahm ihre Ländereien in Beschlag, und entzog Fischern auf der Insel die Fischereirechte.
Der Hauptgrund für die Emigration vieler rum-orthodoxer Familien war jedoch die Schließung der griechischsprachigen Schulen auf der Insel, was ihren Kindern keine Wahl ließ, als türkische Schulen zu besuchen. Da das Geld für eine legale Migration nach Griechenland nicht reichte, verließen viele die Insel illegal mit Booten und legten an den benachbarten griechischen Inseln Samothraki und Limnos an.
Der Bevölkerungsschwund auf Gökceada in den sechziger und siebziger Jahren war massiv: Während die rum-orthodoxe Community der Insel in den sechziger Jahren noch bei einer Bevölkerungszahl von rund fünfeinhalb Tausend lag, gibt es unter den 8500 Bewohner heute nur noch knapp 300 Rum-Griechen. Die meisten von ihnen sind über siebzig Jahre alt. Viele der Inselbewohner glauben deshalb heute, dass die rum-orthodoxe Bevölkerung innerhalb von rund dreißig Jahren gänzlich von Gökceada verschwinden wird.
Verlust des Kulturerbes
Nirgendwo lässt sich der Verlust des Kulturerbes besser spüren als in Dereköy, einem beschaulichen Dorf im Landesinneren der Insel. “Dereköy war einmal das größte Dorf der Türkei”, erzählt Aylin, eine junge Dame, die nun ein Café für Touristen betreibt und Ziegenkäse in großen Gläsern verkauft. Im Dorf hat es einmal 22 Kaffeehäuser, zwei Kinos, zahlreiche Frisöre, Lebensmittelläden und Schneiderwerkstätten gegeben. Heute ist davon nichts mehr übrig, jedoch gibt es nach wie vor zwei orthodoxe Kirchen in Dereköy, die an Sonntagen abwechselnd ihre Türen zum Gottesdienst öffnen.
Auch wenn nicht mehr viele Rum-Griechen in unserem Dorf leben, haben wir gute Beziehungen zu unseren verbliebenen griechischen Nachbarn. »Aylin
Viele von den Häusern, die noch intakt sind, stehen leer oder gehören griechischen Familien, die längst in Athen ansässig sind und nur in den Sommermonaten zum Urlaub auf ihre alte Insel zurückkehren. Dann schwillt die Bevölkerung auf der Insel um mehrere Tausend an. Andere haben traumatische Erinnerungen an die Tage ihrer Vertreibung und wollen nicht mehr wieder kommen. Sie versuchen, ihre alten Domizile loszuwerden – in Euro.
“Auch wenn nicht mehr viele Rum-Griechen in unserem Dorf leben, haben wir gute Beziehungen zu unseren verbliebenen griechischen Nachbarn. Man besucht sich, hilft sich gegenseitig aus. Da spielt Religion oder Ethnie keine Rolle”, erzählt Aylin in ihrem Café.
Griechisch-türkische Beziehungen auf dem Tiefpunkt
Aber was in Dereköy auf zwischenmenschlicher Ebene heute wieder funktioniert, ist auf der großen politischen Ebene nicht ganz so einfach. Die Beziehungen zwischen Athen und Ankara erreichten nach dem Putschversuch in der Türkei von 2016 einen neuen Tiefpunkt: Die Türkei fordert von Griechenland, flüchtige Militäroffiziere auszuliefern, die sich angeblich am Putschversuch beteiligt haben. Griechenland lehnt dies bisher ab. Daneben streiten beide Länder seit Jahren darüber, wo die Grenzen ihrer Lufträume verlaufen.
Auf Gökceada hingegen gibt seit einigen Jahren verstärkt Bemühungen um Versöhnung. So gibt es Initiativen, die alte rum-griechische Kultur der Insel wiederzubeleben. Die griechisch-orthodoxe Kirche bezahlt inzwischen ehemalige Inselbewohner, wenn sie sich dazu entschließen, nach Gökceada zurückzukehren. Inzwischen hat auch in Zeytinliköy, einem Dorf im Zentrum der Insel, nach fünfzig Jahren mit Unterstützung des türkischen Bildungsministeriums eine rum-griechische Schule wieder ihre Türen geöffnet. Gut dreißig Schüler erhalten dort nun wieder Unterricht auf Griechisch. Das Kurrikulum ähnelt den Lehrplänen in Griechenland, ergänzt durch Unterricht in der türkischen Sprache.
Viele der Rum-Griechen auf der Insel haben inzwischen Frieden geschlossen mit der schwierigen Vergangenheit. Sie möchten nun in die Zukunft blicken, damit ihre Traditionen nicht aussterben. Die Kirche in Tepeköy jedenfalls scheint bisher noch weit davon entfernt zu sein. Irene ist sich sicher, dass sie bis zu ihrem Lebensende auf Gökceada bleiben will. Ihre Kinder jedoch leben seit ihrem Studium in Griechenland. Ob sie einmal auf die Insel zurückziehen werden, ist fraglich.