Die Infektionen steigen rasant an und auch in den Krankenhäusern erhöht sich der Druck: Behandlungen werden vertagt, mehr Kapazitäten für Covid-19-Patienten freigesetzt. Den Kliniken fehlt es nicht mehr an Betten oder Material. Dafür befürchten sie einen folgenreichen Personalmangel.
« Bléift all doheem!!! », « D’Situation ass wierklech méi wéi kritesch! »: Als der Notarzt Emile Bock am 16. März auf Facebook emotional vor einem Kollaps des Gesundheitssystems warnte, wussten wohl auch die Letzten, wie ernst die Lage war. Der Lockdown und eine konsequente Priorisierung von Covid-19-Patienten bewahrte die Krankenhäuser damals vor einer Überlastung. Erst nach und nach konnten die Kliniken wieder die Normalversorgung garantieren.
Heute, angesichts einer neuen Infektionswelle, schätzt Emile Bock die Lage zwar etwas nüchterner ein. Zurzeit gebe es noch keine akuten Probleme in der Notaufnahme. Allerdings könne sich das schnell ändern. « Ich glaube, dass die Lage nach und nach außer Kontrolle gerät », so die Einschätzung des leitenden Notarztes der « Hôpitaux Robert Schuman » (HRS).
Ähnlich sieht es auch die Gesundheitsministerin. « Die Situation ist alarmierend und kann von Tag zu Tag ändern », sagte Paulette Lenert am Mittwoch bei einem Pressebriefing. Der Anstieg der klinischen Behandlungen sei noch nicht so dramatisch wie im Ausland, so die Ministerin. « Diese Situation haben wir Stand heute noch nicht. » Mit Betonung auf « noch nicht », so die Ministerin am Mittwoch.
HRS reduzieren stationäre Kapazitäten
Wie schnell sich die Lage ändern kann, zeigt sich aber auch in Luxemburg. Am gleichen Tag, noch bevor Paulette Lenert vor der Presse die Worte « noch nicht » betont hatte, beschlossen die « Hôpitaux Robert Schuman », die geplanten stationären Aktivitäten in ihren Einrichtungen ab diesem Freitag um 50 Prozent zu reduzieren.
In einer « Note interne » an die Ärzteschaft der HRS, die Reporter.lu vorliegt, begründet die Direktion diese Entscheidung mit dem « landesweiten Anstieg der Zahl von Covid-Patienten, die eine Krankenhausbehandlung benötigen ». Zudem ist von einem « Ressourcenmangel » die Rede. Dadurch sieht sich die HRS-Leitung laut dem Schreiben vom 21. Oktober « gezwungen », die Ressourcen für die Versorgung von Covid-Patienten freizusetzen. Allerdings sollen die Notfall- und onkologischen Aktivitäten weiter aufrechterhalten werden.
Neue Welle, andere Voraussetzungen
Doch nicht nur die HRS, zu der neben dem Hôpital Kirchberg, auch die ZithaKlinik, Clinique Bohler und Clinique Sainte Marie gehören, rüsten sich für die neue Welle von Coronavirus-Infektionen. Auch im « Centre Hospitalier Emile Mayrisch » (CHEM) wurde laut Informationen von Reporter.lu kürzlich ein Teil der Orthopädie-Abteilung mit zirka 30 Betten für die Behandlung von Covid-Patienten umfunktioniert. Zudem sei man ständig dabei, den Patientenstrom und die internen Sicherheitsmaßnahmen zu überprüfen, heißt es von der Pressestelle des CHEM.
Ich glaube, dass die Lage nach und nach außer Kontrolle gerät. »Emile Bock, leitender Notarzt der HRS
Das „Centre Hospitalier du Luxembourg“ (CHL) versucht seinerseits nur bedingt, Behandlungen zu verschieben. Sollten die Kapazitäten nicht mehr ausreichen, würde man dies von Fall zu Fall überprüfen, erklärt Romain Nati auf Nachfrage von Reporter.lu. „In einer Phase 3 sind wir momentan noch nicht“, sagt der Generaldirektor des CHL. Man nähere sich aber immer mehr diesem Szenario. « Phase 3 » bedeutet, dass klinische Kapazitäten strukturell umgeschichtet werden, wie rezent bei den HRS geschehen.
Der Hintergrund dieser Maßnahme ist offensichtlich: Seit mehreren Wochen steigen die Infektionszahlen. Am Mittwoch und Donnerstag verzeichnete das Gesundheitsministerium mit 416 bzw. 595 Neuinfektionen jeweils neue Rekorde seit Beginn der Pandemie. Gleichzeitig kommt es auch wieder zu mehr Covid-19-bedingten Krankenhausaufenthalten, auch wenn diese Zahl bisher nicht so schnell ansteigt wie die Ansteckungen mit dem Sars-CoV-2-Virus.
„Im Vergleich zur ersten Welle behandeln wir weniger Patienten im Krankenhaus“, sagt Dr. Emile Bock im Gespräch mit Reporter.lu. Im März und April habe man selbst Patienten mit geringen Symptomen im Krankenhaus isoliert, weil man den Krankheitsverlauf bei Covid-19 noch nicht kannte. „Jetzt wissen wir, auf was wir achten müssen, wer Risikopatient ist und welche Behandlung geeignet ist“, sagt der leitende Notarzt der HRS-Krankenhäuser.
Zudem hätten sich auch die Behandlungsmethoden geändert. „Wir behandeln nun auch weniger Patienten auf der Intensivstation“, sagt Emile Bock. Man wisse heute, dass man Patienten etwa nicht systematisch intubieren müsse. Er erwartet sich dennoch einen weiteren Anstieg, bereits jetzt spüre man eine Zunahme. „Wir haben immer mehr Patienten mit grippeähnlichen Symptomen oder bereits positiv getestete, die in der Notaufnahme landen“, berichtet Emile Bock.
Koordination hält sich in Grenzen
Nach welchen Kriterien sollen die Krankenhäuser handeln? Auf den ersten Blick scheint die Lage klar. Sollten insgesamt mehr als 100 Covid-19-Patienten in den Kliniken des Landes behandelt werden, wird die nächste Phase eingeleitet: Die geplanten stationären Behandlungen werden reduziert, um Platz und Ressourcen für Covid-Patienten zu schaffen. „Diese Kategorien sind allerdings nicht in Stein gemeißelt“, sagt der Direktor des Gesundheitsamts, Jean-Claude Schmit, im Gespräch mit Reporter.lu. Letztlich komme es auf die jeweilige Lage im Krankenhaus an, ob weitere Maßnahmen beschlossen werden müssen. So wie nun auch in den Kliniken der HRS-Gruppe.
Mir macht das Personal mehr Sorgen als die Zahl der Krankenhausbetten. »Romain Nati, Generaldirektor des CHL
„Wir stehen im ständigen Kontakt mit den Krankenhäusern“, sagt Jean-Claude Schmit. Zweimal täglich würde die „Santé“ sich über die Situation in den Krankenhäusern erkunden. Das Ministerium übernimmt dabei vor allem das nationale Monitoring der Situation der Bettkapazitäten. Konkrete Lageberichte sind jedoch nicht verpflichtend.
Ein rezentes Beispiel: Die Direktion der HRS hat die Gesundheitsministerin vor der Pressekonferenz am Mittwoch offenbar nicht über die kurz zuvor getroffene Entscheidung informiert. In einer Sitzung zwischen den Verantwortlichen der Krankenhäuser und dem Ministerium soll am Donnerstagabend die Lage neu diskutiert und das weitere Vorgehen koordiniert werden, heißt es von der « Santé ».
Neue Phase der Pandemiebekämpfung
Fest steht: Schon jetzt seien einzelne Krankenhäuser in der „Phase 3“ des nationalen Stufenplans, wurde der Direktor der HRS, Claude Schummer, am Donnerstagmorgen bei „Radio 100,7“ zitiert. Dass seine eigene Krankenhausgruppe dies bereits ab diesem Freitag umsetzt, sagte der HRS-Direktor in dem Radiointerview nicht. Auf Nachfrage von Reporter.lu wollte sich kein anderer Verantwortlicher der HRS zu dieser Frage äußern.
Das Zurückfahren der normalen Kapazitäten wird sich auf die Gesundheit vieler Patienten auswirken. Das ist unausweichlich. »Alain Schmit, Präsident der AMMD
Mit dem Fortschreiten der Pandemie haben sich auch die Gründe für eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems gewandelt. In den ersten Monaten habe es vor allem an medizinischem Material gefehlt (etwa Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung), erklärte Claude Schummer am Donnerstag im Interview mit „Radio 100,7“. Heute seien die Krankenhäuser in dieser Hinsicht viel besser aufgestellt. Allerdings gebe es in der aktuellen Welle einen neuen „Facteur limitant“, nämlich die personelle Aufstellung der Kliniken.
Um alle nötigen Aktivitäten auszuüben, fehle es schlicht an Ärzten und anderen Mitarbeitern, so der HRS-Generaldirektor. Zusätzlich erschwert werde die Situation, dadurch, dass sich rezent auch vermehrt Krankenhauspersonal mit dem Coronavirus infiziert hat. Laut « RTL » seien am Donnerstag 14 Angestellte der HRS und 30 des CHL positiv getestet worden, weitere 22 (HRS) bzw. 60 Mitarbeiter (CHL) würden sich in Quarantäne befinden.
Risikofaktor Krankenhauspersonal
„Mir macht das Personal mehr Sorgen als die Zahl der Krankenhausbetten“, sagt auch Romain Nati und meint damit nicht nur die Gefahr einer Infektion. Der personelle Bedarf für Covid-Patienten sei äußerst hoch, was zur Erschöpfung des Personals führen könnte. „Dieses Risiko ist real“, so der Generaldirektor des CHL. Auch Emile Bock befürchtet, dass verschiedene Kollegen vor einem Burn-out stehen. „Ich vermute, dass das noch mehrere Monate so weiter geht. Das wird an unseren Kräften zehren“, sagt der erfahrene Notarzt.

Neben der Infektionsgefahr für das Personal und den Erschöpfungserscheinungen fürchtet CHL-Chef Romain Nati allerdings auch die Entscheidungen der Nachbarstaaten: „Wenn Belgien und Frankreich beschließen sollten, die Schulen erneut zu schließen, könnte uns das Personal ausgehen.“ Die Krankenpfleger aus den Nachbarstaaten müssten in einem solchen Szenario zum Teil freigestellt werden, um sich um die Kinder zu kümmern.
Claude Schummer fordert deshalb bei „Radio 100,7“ ein höheres Personalbudget. Bereits in den letzten Monaten hat die Krankenkasse den Kliniken weitere 78,5 Vollzeitstellen für die Behandlung von Patienten zugesichert, wie « Paperjam » im August berichtete. Eine weitere Aufstockung ist allerdings unwahrscheinlich. „Wir schließen nicht aus, mehr Krankenpfleger einzustellen, allerdings wissen wir nicht, ob wir noch welche finden“, sagt Jean-Claude Schmit. Überall würden die Infektionszahlen ansteigen und somit auch der Bedarf an Personal. Es sei also schwierig, in der jetzigen Lage qualifizierte Kandidaten zu finden, so der Leiter des Gesundheitsamts.
Kollateralfolgen für Nicht-Covid-Patienten
Schon im Sommer hatten die Verantwortlichen der Kliniken eine neue große Welle im Herbst befürchtet. Der Generaldirektor der HRS, Claude Schummer, sagte etwa Ende Juli im Interview mit « Radio 100,7 », dass diese neue Covid-19-Welle nicht zur Minderbehandlung von anderen Krankheiten führen dürfe. Die Nicht-Covid-Patienten, die zum Beginn der Pandemie vernachlässigt wurden, seien zum Teil « in einem schlechten Zustand » zurück in die Krankenhäuser gekommen. « Wir können uns nicht erlauben, die Normalversorgung wieder zurückzufahren », sagte Schummer damals.
Wir haben in den Krankenhäusern noch eine gewisse Kontrolle. »Paulette Lenert, Gesundheitsministerin
Wie man die Balance zwischen steigenden Covid-19-Fällen und der Normalversorgung im Krankenhaus schafft, sei aus medizinischer Sicht « die Frage aller Fragen », sagt auch Alain Schmit. Laut dem Präsidenten der Ärztevereinigung AMMD wäre es angesichts der steigenden Infektionszahlen « schlicht nicht möglich, alle Aktivitäten in den Krankenhäusern aufrecht zu erhalten ». Dennoch pocht er darauf, die Patienten mit geplanten Eingriffen nicht zu vergessen. « Das Zurückfahren der normalen Kapazitäten wird sich auf die Gesundheit vieler Patienten auswirken. Das ist unausweichlich », so Alain Schmit im Gespräch mit Reporter.lu. Diese Situation werde zwangsläufig Langzeitfolgen für die Betroffenen und für das ganze Gesundheitssystem nach sich ziehen.
Politischer Handlungsdruck nimmt zu
Die Lage in den Krankenhäusern erklärt auch die zögernde Haltung der Regierung, keine neuen restriktiven Maßnahmen zu ergreifen. Der letztliche Grund für den Lockdown im vergangenen März war, einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Pandemie, Anfang April, behandelten die Krankenhäuser des Landes 173 Covid-19-Patienten – der Höchststand in den Intensivstationen lag am 3. April bei 45 Patienten. Heute – Stand: 22. Oktober 2020 – liegt die Zahl bei 61 Krankenhausaufenthalten und acht Intensivpatienten. 140 Menschen sind bisher an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben.
Die neue Infektionswelle werde sich anders auf die medizinische Lage auswirken als noch im März oder April, betonen die befragten Experten. Und doch stellt sich die Frage, ab wann genau die Regierung in diesem Punkt politischen Handlungsdruck verspürt. „Wir haben in den Krankenhäusern noch eine gewisse Kontrolle“, sagte Gesundheitsministerin Paulette Lenert am vergangenen Mittwoch. Sobald sich auch hier ein akuter Anstieg abzeichne, sobald sich vor allem die Altersstruktur der Neuinfizierten wandele und sich damit das Risiko von schweren Krankheitsverläufen erhöhe, würde sich die politische Diagnose ändern. „Dann müssen auch andere Maßnahmen getroffen werden.“