In Luxemburg besteht ein Mangel an medizinischer Versorgung. Vor allem an « Maisons Médicales » und Gemeinschaftspraxen. Und vor allem im ländlichen Raum. Die Politik hat das Problem erkannt, tut sich mit Lösungen aber schwer.
Seit ein paar Tagen zieren große blaue Flecken die Beine von Manuela. Woher die kommen, weiß sie selbst nicht so genau. Ein Arzt soll das jetzt herausfinden – und zwar in der Maison Médicale in Ettelbrück. Um 20 Uhr öffnet das lokale Gesundheitszentrum, kurz darauf warten bereits die ersten Patienten auf ihre Behandlung. Manuela selbst war schon öfter hier. Das Klima sei entspannter als in der Notaufnahme, die Wartezeiten kürzer. „Der Vorteil der Maison Médicale ist, dass ich nicht in die Notaufnahme muss, sondern hier von einem Allgemeinmediziner behandelt werden kann“, sagt sie.
Genau deswegen sind die Zentren 2008 eingeführt worden. Hausärzte bieten in den Maisons Médicales in Ettelbrück, Luxemburg-Stadt und Esch/Alzette an Abenden, in der Nacht sowie an den Wochenenden einen Bereitschaftsdienst an. Dadurch sollen die Notaufnahmen entlastet werden.
Dennoch reißen die Diskussionen um die Maisons Médicales nicht ab. Die Menschen würden sie nicht nutzen, wüssten nicht, dass sie überhaupt existieren, gleichzeitig gebe es aber zu wenige davon in Luxemburg, heißt es von der Politik.
Im Sinne der Patienten – und potenziellen Wähler
Jetzt haben die Parteien die Problematik rund um die ärztliche Versorgung und die Maisons Médicales als Wahlkampfthema für sich entdeckt – oder wiederentdeckt. Der Ton der Programme ist bei den großen Parteien mehr oder weniger der gleiche: Das System soll analysiert, nachgebessert beziehungsweise ausgebaut werden. Hört sich zwar nach Tatendrang an, wurde aber auch schon bei den vergangenen Wahlen gefordert – zumindest in ähnlicher Form.
Dem Patienten bleibt nichts anderes übrig, als in die Notaufnahme zu gehen.“Georges Clees, Patientevertriedung
Zum Vergleich: Eine Maison Médicale für den Osten (DP), eine Reform des Not- und Bereitschaftsdienstes „in enger Zusammenarbeit mit den Maisons Médicales“ (LSAP), eine „kritische Prüfung“ der Häuser (Déi Gréng) oder auch noch eine Auswertung des Systems und die „Einrichtung einer oder mehrerer Maisons Médicales Pédiatriques“ (CSV) – was sich die Parteien bereits 2013 auf die Fahnen geschrieben haben, wird jetzt quasi wiederverwertet.
Denn auch in den Programmen von 2018 werden „längere Öffnungszeiten“, ein „flächendeckendes suffizientes Angebot“, Zentren mit „pädiatrischen Dienstleistungen“ oder eine Förderung einer engeren Zusammenarbeit zwischen Maisons Médicales und Krankenhäusern gefordert.
Wie sich die Ärzte in Luxemburg verteilen
Laut Informationsportal « eSanté » des Gesundheitsministeriums gibt es aktuell 539 Allgemeinmediziner in Luxemburg. Davon haben alleine 156 ihre Praxis in Luxemburg-Stadt. Auf Platz zwei liegt Esch mit 35 Hausärzten, auf Platz drei Düdelingen mit 21. Zum Vergleich: In Ettelbrück praktizieren 16 Allgemeinmediziner, in Ulflingen zwei, in Eischen einer. Auch in Leudelingen oder Niederanven ist jeweils nur ein Hausarzt ansässig. Der Vorteil hier: Die Patienten sind auch gut an die Hauptstadt angebunden und können im Notfall dort auf ein breiteres Angebot zurückgreifen.
Die Punkte der neuen – und alten – Wahlprogramme stimmen im Wesentlichen mit den Forderungen der Patientenvertriedung überein. Eine Maison Médicale im Osten und Westen des Landes, eine für Kinder im Norden, außerdem flexiblere und vor allem längere Öffnungszeiten aller Gesundheitszentren – all das will die Vertretung seit längerem.
„Die meisten Ärzte arbeiten bis um 18 Uhr, die Maisons Médicales öffnen aber erst um 20 Uhr. Wo soll der Patient denn hin, wenn er in den zwei Stunden dazwischen einen Arzt braucht?“, fragt Georges Clees von der Patientevertriedung. „Ihm bleibt dann nichts anderes übrig, als in die Notaufnahme zu gehen.“ Dabei sollten gerade diese durch die Maisons Médicales entlastet werden.
Politischer Handlungsbedarf
Noch ein wichtiger Punkt für die Patientevetriedung: Die Förderung von Gemeinschaftspraxen. Auch das wollen die Parteien durchsetzen. Während CSV, LSAP und Déi Gréng in ihren Programmen nicht weiter auf das „Wie?“ eingehen, spricht zumindest die DP von „finanziellen Anreizen“ für Interessenten.
Clees seinerseits kritisiert: „Die Politik spricht zwar von Gemeinschaftspraxen – passiert ist bis jetzt aber noch nichts.“ Dabei könne man mit diesem System Praxen im ländlichen Raum gut bündeln und dort eine bessere und flexiblere medizinische Versorgung garantieren.
Es besteht demnach Handlungsbedarf. Doch wie sieht die Situation in der Realität aus? Und wie schätzen die Ärzte die Lage ein?
Dr. Patrick Oms leitet die Maison Médicale in Ettelbrück. Ein normales Reihenhaus, von außen eher unscheinbar. Nur das Schild mit Aufschrift « Maison Médicale du Nord » macht an der Hauswand auf das Gesundheitszentrum aufmerksam. Am frühen Abend führt Oms durch das Warte- und die zwei Behandlungszimmer. Noch ist es hier ruhig, die Lichter noch nicht eingeschaltet, das Sekretariat noch nicht besetzt.

Er schätzt die Einführung der drei Maisons Médicales in Luxemburg. Was eine mögliche Gründung von Häusern im Osten und Westen des Landes angeht, sieht er aber keinen Handlungsbedarf. „Das sind alles politische Debatten“, so der Arzt. „Weil es eine Maison Médicale im Zentrum, im Süden und im Norden gibt, wollen Politiker den Menschen auch in ‘ihrer’ Region eine anbieten. Dabei gibt es beispielsweise im Osten gar kein Krankenhaus“, sagt er. Gerade die direkte Nähe des Hauses zu einer Klinik sei aber wichtig, weil die Maison Médicale all die Patienten dorthin verweist, die sie selbst nicht behandeln kann.
Entlastung für die Mediziner
Überhaupt steht er einer Ausweitung der Maisons Médicales eher kritisch gegenüber. „Angebot schafft auch Nachfrage“, so Oms.
Eigentlich geht es ihm dabei aber um etwas anderes. Denn seine Kollegen – und vor allem die jüngere Generation – wollen neben dem Job auch mehr Freizeit. Gibt es aber mehr Maisons Médicales, müssen die Ärzte auf mehr Standorte verteilt werden – und mehr Schichten übernehmen.
Im Süden suchen rund 12.000 Patienten pro Jahr die Maison Médicale auf. Dort sind die Kollegen komplett ausgelastet.“Dr. Patrick Oms, Maison Médicale Ettelbrück
Das durchzusetzen sei schwierig, so Oms. „Die jüngere Generation von Ärzten will einen besseren Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit. Heute würde niemand mehr so arbeiten, wie wir es früher getan haben“, so der Arzt.
Bevor die Maison Médicale in Ettelbrück eröffnet wurde, teilte sich Oms seine Wochenenddienste im Kanton Clerf mit vier anderen Kollegen. Heute nehmen am Bereitschaftsdienst in Ettelbrück 62 Ärzte aktiv teil. „Das ist schon eine extreme Entlastung für alle,“ sagt Oms. „Früher war das anstrengender. Neben der normalen Arbeitswoche mussten wir von freitags bis montags morgens auf Abruf bereit sein. Da blieb nicht viel Zeit für Familie oder anderes.“
Zahlen der Patienten steigen
Das Problem: Die Maisons Médicales in Ettelbrück, Luxemburg und Esch sind bereits heute gut besucht. Oms plädiert deshalb eher für einen Ausbau der drei bestehenden Häuser. „Im Süden suchen rund 12.000 Patienten pro Jahr die Maison Médicale auf. Dort sind die Kollegen komplett ausgelastet.“ Und auch in Ettelbrück steigen die Zahlen stetig. 2015 zählte die Maison Médicale 8.367 Patienten, 2016 waren es 8.731 und 2017 rund 9.500.
Noch können wir die Patienten hier alle behandeln. Die Zahlen werden aber vor allem in Wiltz in den kommenden Jahren weiter steigen“Christiane Jackmuth, Ambulanz Wiltz
Dass der Weg dorthin für manche Patienten weit ist, kann er nur bedingt nachvollziehen. „Die Menschen sind heute mobiler denn je“, sagt er. Und für alle anderen gebe es in den Häusern neben dem Sprechstundenarzt auch einen, der zu den Patienten rausfahren kann. So sei man auch an den ländlichen Raum angebunden oder für die Patienten da, die nicht mehr mobil sind.
Besondere Lage des Nordens
Müssen die Maisons Médicales demnach gar nicht ausgeweitet werden? Nicht jeder sieht das so. Christiane Jackmuth aus der Ambulanz („Polyclinique“) in Wiltz, wäre zumindest für eine weitere Maison Médicale im Norden. „Noch können wir die Patienten hier alle behandeln. Die Zahlen werden aber vor allem in Wiltz in den kommenden Jahren weiter steigen“, sagt sie im Gespräch mit REPORTER.
Und es stimmt: Alleine durch das Projekt „Wunne mat der Wooltz“ wird Wiltz einen Einwohnerzuwachs von 1.800 Personen erleben. „Spätestens dann werden wir an unsere Grenzen stoßen“, so Jackmuth.

Doch auch aus einem anderen Grund ist eine weitere Maison Médicale im Norden sinnvoll: Die Ambulanz in Wiltz ist nämlich nur bis abends um 20 Uhr geöffnet, an den Wochenenden von 10 bis 18 Uhr. „Natürlich wäre alleine deswegen eine Maison Médicale für die Patienten wertvoll“, so Jackmuth.
Gemeinschaftspraxen als Lösung?
Die Meinungen gehen demnach auch innerhalb der Branche auseinander. Für die Association des Medecins et Medecins Dentistes (AMMD) steht fest: Der Fokus sollte nicht auf mehr Maisons Médicales, sondern auf mehr Gemeinschaftspraxen gelegt werden. „Unserer Meinung nach reichen die drei Häuser erst einmal aus. Sie könnten aber durch Gruppenpraxen ergänzt und auch entlastet werden“, so Generalsekretär Guillaume Steichen im Gespräch mit REPORTER. Für ihn sind Gemeinschaftspraxen ein „Zukunftsmodell“.
Es braucht aber natürlich einen Ansporn, damit Ärzte sich auf das Projekt der Gemeinschaftspraxen einlassen. »Dr. Guillaume Steichen, AMMD
Die Vorteile davon sind in den Augen der AMMD klar: Die Ärzte sind bei Öffnungszeiten von acht Uhr morgens bis 19.30 Uhr abends länger erreichbar. Außerdem brauchen Patienten in der Mittagspause, von 12 bis 14 Uhr, keinen festen Termin, um in der Praxis vorbeizuschauen. An den Wochenenden sollen die Praxen von 8 bis 12 Uhr mittags Dienst haben. Dadurch würden Notaufnahmen entlastet und es bestehe ein größeres und flexibleres Angebot für die Patienten, so Steichen.
Damit das System klappt, hat die AMMD klare Vorstellungen von den Gemeinschaftspraxen. Mindestens vier Ärzte sollen sich in einer Praxis zusammentun oder drei mit eigenen Praxen in einem Umfeld von rund zehn Kilometern.
Alle Mitglieder einer Praxis bekommen Zugriff auf das gleiche Computerprogramm und können so auf die Akten der unterschiedlichen Patienten zugreifen, eine gemeinsame Sekretärin koordiniert Termine. „Es braucht aber natürlich einen Ansporn, damit Ärzte sich auf das Projekt der Gemeinschaftspraxen einlassen“, sagt Steichen.
Mehr Geld, flexiblere Öffnungszeiten
Mit dem Ansporn ist natürlich das liebe Geld gemeint. Jeder Arzt, so wünscht es sich die AMMD, soll einen einmaligen Zuschuss von 10.000 Euro zugesprochen bekommen, wenn er sich an einer Gemeinschaftspraxis beteiligt. Durch die längeren Öffnungszeiten soll die CNS zudem für jede abgehaltene Sprechstunde einen kleinen Betrag draufzahlen. Mit Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) sei man sich soweit einig, sagt Steichen. Es sei die CNS, die dem Ganzen bis jetzt einen Strich durch die Rechnung macht.
Die Menschen müssen darüber ins Bild gesetzt werden, dass eben nicht immer die Notaufnahmen die erste und vor allem die richtige Anlaufstelle für sie ist“Dr. Guillaume Steichen
Steichen argumentiert, dass die Ärzte dazu bereit seien, in Schichten und an Samstagen zu arbeiten – dann brauche es auch einen finanziellen Anreiz für sie. Man sei schließlich, samt Sekretärin, während der Sprechstunden in der Praxis anwesend – ob Patienten vom Angebot Gebrauch machen oder nicht.
Fehlende Aufklärung der Bürger
Damit ein mögliches neues System von Gruppenpraxen oder mehr Maisons Médicales funktioniert, braucht es laut den Experten aber vor allem eines: Eine gute Informationskampagne, die bei den Patienten ankommt. Denn die unterschiedlichen Akteure sind sich einig: Es fehlt dem Patienten an Informationen – auch deshalb seien die Notaufnahmen überlastet.
„Die Menschen müssen darüber ins Bild gesetzt werden, dass eben nicht immer die Notaufnahmen die erste und vor allem die richtige Anlaufstelle für sie ist“, sagt Guillaume Steichen. Dafür müssten sie aber erfahren, wie Maisons Médicales und Arztpraxen in Luxemburg überhaupt funktionieren.
So wie Manuela in Ettelbrück. Sie kennt das lokale Gesundheitszentrum schon lange. „Dazu muss ich aber auch sagen, dass ich hier in der Gegend wohne und öfter mit dem Auto vorbeifahre. Ich glaube, dass ich ansonsten nicht darauf aufmerksam geworden wäre.“