Die Identitätsdebatte hat in diesem Wahlkampf eine zentrale Rolle eingenommen. Gab sich Luxemburg vor fünf Jahren noch weltoffen und tolerant, macht man heute Zukunft auf « Luxemburgisch ». Doch die Debatte ist nicht neu. Sie ist vor allem Ausdruck einer allgemeinen Ratlosigkeit. Eine Analyse.

Es ist noch nicht so lange her, da gab Luxemburg sich weltoffen und tolerant. Das Großherzogtum sollte als das Land auftreten, das jeden willkommen heißt.

Man erinnere sich etwa an das erste Video der Nation-Branding-Kampagne. Zu sehen sind Menschen aller Hautfarben und religiöser Gesinnungen, die von Offenheit und Pluralismus erzählen – und das nicht einmal vor luxemburgischer Kulisse. Nationale Symbole oder andere Hinweise, die auf das Großherzogtum schließen lassen, sucht man vergebens. Luxemburg ist zuverlässig, dynamisch und vor allem multikulturell, gaukelt die Kampagne vor. Und wo zeigt sich die Multikulturalität besser, als anhand der Sprachenvielfalt.

Als Blau-Rot-Grün 2013 antrat „um die Fenster aufzureißen“, da plädierte man noch für eine offene, inklusive Gesellschaft, die sich selbst hinterfragt. Sie stellten ein Referendum in Aussicht, das in Luxemburg lebenden Ausländern das Recht geben sollte, die nationale Politik mitzubestimmen. Und hätten damit die Nationalität geradezu aufgehoben. Sie beauftragten den Historiker Vincent Artuso damit, die Luxemburger Kollaboration im Zweiten Weltkrieg zu untersuchen.

In nur fünf Jahren machte Luxemburg einen fundamentalen Wandel durch. Die offene Willkommenskultur wich einer Rückbesinnung auf sich selbst.

2014, bei der 175-Jahr-Feier des Großherzogrums, lobte Xavier Bettel noch wie toll das Land unterschiedliche Nationalitäten und Kulturen zusammenzubringt. Gemeinsam blicken wir nach vorne, meinte der Premierminister. Gemeinsam bauen wir eine Zukunft auf. Der Historiker Michel Pauly durfte sogar öffentlich die Absurdität des 175 Jahrestags der Nation vorführen.

Screenshot: Inspiring Luxembourg

Plötzlicher Sinneswandel

Nun, fünf Jahre später summt Xavier Bettel im DP-Wahlvideo die Nationalhymne und betont: Zukunft, ja. Aber bitte « op Lëtzebuergesch ». Déi Gréng « hunn eist Land gär ». Die ADR schloss sich mit dem « Wee2050 » zusammen. Und die Luxemburger Sprache scheint auf einmal die gefühlt wichtigste Sorge derer, die sich am Sonntag an die Wahlurnen begeben.

Die Identitäts -und Sprachendebatte der vergangenen Wochen legt nahe: Innerhalb von fünf Jahren machte Luxemburg einen fundamentalen Wandel durch. Die offene Willkommenskultur wich einer Rückbesinnung auf sich selbst.

Dieser Sinneswandel war für viele ein Anlass den Teufel an die Wand zu malen. In zahlreichen Zeitungsartikeln, Interviews, Analysen, Carte Blanches, Presseschreiben und Rundtischgesprächen las und hörte man, dass die Ideen der Rechten zum politischen Mainstream wurden. Demnach würde das Feld, das traditionell von der rechtskonservativen ADR besetzt war, auf einmal von allen anderen Parteien übernommen. Für den Zeithistoriker Denis Scuto ersetzt der Begriff der Identität sogar den der „Rasse“, der seit dem Zweiten Weltkrieg aus dem öffentlichen Diskurs verbannt wurde. Die Ausländerorganisation ASTI spricht von einen Wettbewerb der Patrioten.

Dabei muss klar sein, dass es die nationale Identität so nicht gibt. Zum einen ist „die Identität“ ein Konstrukt das fortwährend wandelt. Und auch die Nation ist bloße Fiktion.

Es ist aber falsch zu glauben, die Debatte um die nationale Identität sei neu. Die Frage nach dem Luxemburgisch-sein wurde 2018 mitnichten zum ersten Mal von der politischen Mitte gestellt. Auch gerät sie nicht zum ersten Mal in den Mittelpunkt eines Wahlkampfes. Nein, nicht einmal die Wachstumsfrage ist neu.

Die Identitätsdebatte kommt in Schüben. In den letzten Jahrzenten beobachtet man in Luxemburg immer wieder zwei entgegengesetzte Strömungen. Das Großherzogtum als dynamisches, offenes Land und Musterknabe der europäischen Integration war immer nur eine Seite des Luxemburger Narrativs. Die nationale Identitätsdebatte eine andere.

Die Identitätsfrage ist keineswegs neu

Nur einige Beispiele: Ende der 1970er Jahre haderte Luxemburg mit der geringen Geburtenrate, während die Zahl der Einwanderer anstieg. DP-Premierminister Gaston Thorn fürchtete einen „demografischen Selbstmord“, schreiben Historiker der Universität Luxemburg im Sammelband „Inventing Luxembourg.“ CSV-Politiker Lucien Thiel sprach von ethnischer Verarmung. Und STATEC-Direktor Georges Als kritisierte die « Integrationsverweigerung » der Einwanderer und forderte ein Wiederbeleben des Nationalstolzes.

In den 1990er entwickelte der Services des Sites et Monuments Nationaux eine Ausstellung mit dem Titel „Lëtzebuerger Haus“ – das ist übrigens auch der Name des museumartigen Gebildes zur Förderung der Luxemburger Identität, das die DP im aktuellen Wahlprogramm fordert.

2001 sorgte die Gëlle Fra-Kopie „Lady Rosa of Luxembourg“ für einen „Kulturkampf“, kritisierte das Kunstwerk von Sanja Ivekovij doch Luxemburgs Umgang mit seiner jüngeren Geschichte.

2007 löste der damalige CSV-Fraktionschef Michel Wolter eine nationale Debatte um die Symbole Luxemburgs aus, als er in einem Gesetzesvorschlag die rot-weiß-blaue Fahne durch den „roude Léiw“ ersetzen wollte.

Die offizielle Marketingbroschüre der Regierung « A Propos de l’Histoire du Luxembourg » warf bereits 2008 die Frage auf: „Le Luxembourg saura-t-il mettre en place une croissance durable, tout en préservant son identité collective …“ Wie der Politologe Philippe Poirier jüngst gegenüber dem „Quotidien“ sagte: „Depuis que je réalise des études pour la chambre des députés, à savoir depuis 1999, il y a le même type de débat qui s’invite dans les campagnes électorales.“

Identität als Orientierungspunkt

Zur Rückbesinnung auf sich selbst kommt es in der Regel in Krisenzeiten. Geht es einem Land schlecht, dann spielen nationale Werte und Symbole auf einmal eine größere Rolle. Sie, oder besser die ihnen zugeschriebene Symbolkraft, soll der Bevölkerung durch schwere Zeiten helfen.

Vor diesem Hintergrund soll das Comeback der nationalen Identität – zumindest denen, die sich damit identifizieren – eine gewisse Stabilität geben. Felix Braz (déi Gréng) betonte etwa vor wenigen Tagen auf « Radio 100,7 », dass in Zeiten in denen sich die EU in der Krise befände, diese Rückbesinnung eine natürliche Folge, eine Art Schutzmechanismus sei. Fragt sich nur, vor was oder wem die Bürger geschützt werden wollen.

Dabei muss klar sein, dass es die nationale Identität so nicht gibt. Zum einen ist „die Identität“ ein Konstrukt das sich fortwährend wandelt. Die Nation ist gelebte Fiktion. Wie der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson 1983 festhielt: Nationen sind erfundene Gemeinschaften, die sich durch eine kollektive Identifikation mit Elementen wie der Sprache, Geschichte, oder des Vaterlands auszeichnen.

Schaut man auf die aktuelle Debatte in Luxemburg, so dient die Rückbesinnung auf sich selbst der bloßen Abschottung. Sie dient als Ausgleich für eine simplistisch geführte Wachstumsdebatte. »

Es scheint, dass die Debatte, die eigentlich keine ist vor allem dazu dient, die allgemeine Inhaltslosigkeit, Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit der Parteien zu maskieren. Man hat fast den Eindruck, die Politiker von rechts bis links hätten allesamt das gleiche Fazit aus dem Referendum-Debakel und der Sprachenpetition von Lucien Welter gezogen: Dass man damit ganz einfach und ohne viel Aufwand eine Polemik entfachen kann, von der man sich letztlich die Unterstützung durch die Wähler erhofft.

Exklusion statt Inklusion

Schaut man auf die aktuelle Debatte in Luxemburg, so dient die Rückbesinnung auf sich selbst der bloßen Abschottung. Sie dient als Ausgleich für eine simplistisch geführte Wachstumsdebatte, gegen den 1-Million-Einwohnerstaat. Gegen Grenzgänger. Gegen Einwanderer. Die hässlichsten Formen nimmt diese Debatte etwa bei ADR-Politiker Robert Mehlen an. Er sprach auf « Radio 100,7 » von einer „Überfremdung“, die der luxemburgischen Identität drohe. Der Grat zwischen patriotischer Rückbesinnung und Ausländerfeindlichkeit ist schmal.

Claude Wiseler behauptet zwar auf « Radio 100,7 » stolz, die Luxemburger Identität sei eine „identité accueillante“, sofern man sich integriert und die hiesigen Werte verinnerlicht. Wiselers Argument zeigt aber: Die Identitätsdebatte ist auch eine Ausgrenzungsdebatte, anhand derer bestimmt wird, wer nicht dazugehört.

Doch um von einer Bedrohung der nationalen Identität zu sprechen, müsste man erst einmal definieren, was denn die Luxemburger Identität eigentlich ist. Für 2017 etwa zählt das Statistikamt STATEC 9,030 Einbürgerungen. Dürfen sie sich als Luxemburger fühlen, weil sie einen Luxemburger Pass haben?

Und wer ist den eigentlich „Luxemburger“, wenn die Frage auf einer emotionalen Gesinnung beruht? Ist der Italiener, der in den 1970ern nach Luxemburg gekommen ist und jetzt eine eigene Baufirma führt Luxemburger? Ist der „Expat“, der für die Arbeit hergezogen ist und nun eine Familie gegründet hat Luxemburger? Oder der Mittzwanziger dessen Vorfahren zwar aus Luxemburg stammen, der aber weder weiß, was „eng Deckelsmouk“ ist, noch wie die Heemecht klingt?

Identität ist nicht gleich Sprache

Ein Problem der Diskussionen der letzten Monate ist es, dass es sich nicht einmal um eine richtige Debatte handelt. Denn die Frage nach der nationalen Identität wurde auf ein einziges Element heruntergebrochen: die Luxemburger Sprache. Dabei ist schon seit langem klar, dass die Gesellschaftsstruktur Luxemburgs so komplex ist, dass sich die Debatte gar nicht auf dieses eine Element reduzieren lässt. Im 2010 erschienen Sammelband „Doing Identity in Luxemburg“ kamen Geisteswissenschaftler der Uni Luxemburg zur Schlussfolgerung, dass die einfache Gleichstellung Sprache und Identität in Luxemburg unmöglich ist.

Dennoch dreht sich die aktuelle Identitätsfrage allein um die Sprache. Symbole, Kultur, Literatur, Erinnerungsorte, Geschichtsschreibung oder andere Elemente werden gar nicht erst diskutiert, wie auch Joël Adami in der « Woxx » bedauerte. Geht es ums Nationalbewusstsein, müsste dann nicht zum Beispiel die luxemburgische Geschichte thematisiert werden und die Frage nach der Erinnerungskultur neu gestellt werden? Wäre nicht die Luxemburger Literatur der beste Weg, um das Luxemburgisch-sein zu fördern?

Bei der Identitätsfrage geht es traditionell darum „wat mir sin“, a „wat mir bleiwe wöllen“. Doch diese Frage wird in der Diskussion nicht einmal gestellt. Es scheint viel mehr so, als diene die Sprache als Ersatz für eine Identität, die keiner so recht zu definieren weiß. Angesichts der aktuellen Diskussionen wird einzig klar, dass Attribute wie „offen und multikulturell“ nicht greifen. Doch was sind wir dann? Auf die Frage gab es im Rahmen des Wahlkampfes kaum Antworten.

Die DP fordert zwar ein lebendiges Luxemburg-Haus. Sie weiß aber nicht, was es dort zu sehen, riechen und schmecken geben soll. Ja, nicht einmal die ADR hat die Dynamik des Wahlkampfes genutzt, um diese Frage zu konkretisieren.

Placebo-Lösungen statt fundierter Inhalte

Wie karg die Debatte eigentlich ist, zeigen nicht zuletzt die vorgebrachten Lösungsvorschläge. Die Ängste, die das Wachstum anscheinend bei den Wählern schürt, lassen sich wohl kaum dank luxemburgischer Ortsschilder, Sprachmanifeste oder Luxemburg-Häusern nehmen. Auch nicht durch Gemeindebeamte, die den Bürger auf Luxemburgisch begrüßen.

Bei der Identitätsfrage geht es traditionell darum „wat mir sin“, a „wat mir bleiwe wöllen“. Doch diese Frage wird in der Diskussion nicht einmal gestellt.

Es handelt sich um Placebo-Lösungen, die über die Komplexität der tatsächlichen Probleme – sei es der Wohnungsbau, die Verkehrsprobleme oder die Spannungen zwischen Wachstum und Umwelt – hinwegtäuschen sollen. Bekanntlich ist es aber einfacher Symptome zu bekämpfen, als Probleme bei der Wurzel zu packen. Und Wähler gewinnt man leichter, wenn man einfache Lösungen für vermeintlich einfache Probleme schafft, als wenn man vielschichtige, schwer lösbare Probleme überhaupt beim Namen nennt. Laut einer TNS-ILRES-Umfrage gehören die Fragen nach Sprache und Identität nicht einmal zu den Fragen die die Wahlen entscheiden. Das sind Wohnungswesen, Mobilität und Erziehung.

Wenn es denn nur um Identität und Sprache geht, hätte man sich wenigstens eine echte Debatte, einen Hauch des Wahlkampfs gewünscht. Doch die einzige Frage, über die sich die Parteien zu streiten scheinen, ist die, wer denn zuerst an die Förderung des Luxemburgischen gedacht hat. Lauscht man den Diskussionen, wird nur eines ersichtlich: „Mir wëlle bleiwe wat mir sinn.“ Doch eigentlich wissen wir gar nicht, was wir sind und was uns ausmacht.