Arbeit soll Menschen einen gewissen Lebensstandard und die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Bei einem von sieben Erwerbstätigen in Luxemburg ist das jedoch nicht mehr der Fall. Alleinerziehende, Großfamilien und Berufseinsteiger sind besonders betroffen.
Er verdiente das Geld, sie kümmerte sich um das Haus und die Kinder. Das war der Deal. Dann, knapp zwanzig Jahre später, gab es keinen Deal mehr. Mit der Scheidung war das Leben in der gehobenen Luxemburger Mittelschicht für sie vorbei. Mühsam hat Anne-Marie* sich seitdem eine neue Existenz aufgebaut und verdient heute ihr eigenes Geld. Den unqualifizierten Mindestlohn, bei einer Sicherheitsfirma. Das Geld reicht knapp, um ihre Kinder zu versorgen. Doch es reicht nicht, um auf dem freien Markt eine geeignete Wohnung zu finden. Trotz Vollzeitjob und Kompromissbereitschaft lebt Anne-Maries Familie seit einem Jahr in einem von der Gemeinde finanzierten Wohnheim.
Es fühlte sich an wie der Gewinn eines Jackpots: Nach fünfjährigem Studium findet Julie* ihren ersten Job bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, einer der „Big Four“. Bald sieht sie Arbeitstage von zwölf Stunden und Wochenendschichten zu Hause als völlig normalen Lebensstil an. Für kaum mehr als 2.000 Euro netto im Monat. Die Corona-Krise habe ihr die Augen geöffnet, sagt die 26-Jährige heute: „Ich mache nichts mehr für mich, weder Sport, noch Kino, meine Beziehung ist zerbrochen und abends bin ich sogar zu müde zum Kochen“, resümiert sie und fragt: „Für was das alles? Für ein leeres Bankkonto?“
Vor mittlerweile mehr als zehn Jahren kam die Familie Santos* nach Luxemburg. Bis heute ist sie jedoch immer noch nicht richtig angekommen. Zwei Mindestlöhne plus Sozialleistungen, zu mehr hat es in den letzten Jahren nicht gereicht. Seit die sechsköpfige Familie vor ein paar Monaten auch noch aus hygienischen Gründen ihre Mietwohnung zwangsräumen musste, rutscht sie weiter in die Prekarität ab. Auch sie wohnen nun in einem öffentlich finanzierten Wohnheim und stehen auf den Wartelisten der sozialen Wohnungsvermittlungen.
Erwerbsarmut: Einer von sieben ist betroffen
Es sind drei Beispiele, die stellvertretend für einen Trend stehen: Luxemburg ist in der EU zwar das Land mit dem höchsten Bruttosozialprodukt pro Kopf und dem höchsten, gesetzlich geregelten Mindestlohn. Auf einem der Spitzenposten ist Luxemburg aber auch bei dem Anteil der so genannten „Working Poor“: Bei der Anzahl jener Menschen, die trotz Arbeit in armen oder von Armut bedrohten Haushalten wohnen.
Wenn in einem Land 10 bis 15 Prozent der arbeitenden Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze leben, hat das Arbeitsrecht versagt.“Luca Ratti, Uni Luxemburg
Für 2019 berechnete Eurostat für Luxemburg einen Anteil von 12,1 Prozent. Seit 2013 liegt Luxemburg konstant über dem EU-Durchschnitt. „Die Tatsache, eine Arbeit zu haben, schützt in Luxemburg nicht vor Armut“, schreibt die Arbeitnehmerkammer in ihrem Sozialpanorama von 2020. Einer von sieben Erwerbstätigen sei dem Armutsrisiko ausgesetzt, heißt es in dem Bericht weiter. „Kein einziges Land in der Eurozone kann solche Proportionen aufweisen.“
Politische « Tropfen auf den heißen Stein »
„Um das Phänomen der ‘Working Poor’ zu bekämpfen und zielgerichtete Sozialtransfers zu gewährleisten, werden Höhe, Berechnungsgrundlage und Bewilligungskriterien für die Teuerungszulage angepasst“, steht im blau-rot-grünen Regierungsprogramm 2018-2023. Die Corona-Krise kam der Regierung allerdings zuvor: Die Teilzeitarbeit, die vor allem Geringverdiener hart trifft, führte im letzten Jahr im Rahmen der staatlichen Soforthilfe zu einer Verdoppelung der Teuerungszulage. Doch handelte es sich hierbei eher um eine akute Schadensbegrenzung, als um eine strukturelle Bekämpfung des Problems.
Dass die Teuerungszulage im Rahmen des Haushaltsgesetzes nun seit dem 1. Januar um zehn Prozent erhöht wurde, sehen Gewerkschaften und Sozialpartner als « Tropfen auf den heißen Stein ». Sie fordern eine armenfreundliche Steuerreform, eine weitere Erhöhung des Mindestlohnes sowie eine substantielle Erweiterung der Sozialtransfers.

« Wir hätten begrüßt, wenn die Verdoppelung der Teuerungszulage aus dem Jahr 2020 auch in Zukunft beibehalten worden wäre », sagt Frédéric Krier vom OGBL. Eine grundlegende Forderung der Gewerkschaft ist zudem die Erhöhung des Mindestlohns um zehn Prozent. « Der Mindestlohn muss garantieren, dass man damit zumindest über dem Armutsrisiko liegt », sagt Frédéric Krier. « Das ist in Luxemburg bei weitem nicht immer der Fall. »
Im politischen Diskurs werden die Zahlen zu hoher Erwerbsarmut gerne als Nebeneffekt eines wohlhabenden Landes dargestellt. Das Argument: Die vielen hohen und sehr hohen Einkommen im Land würden zwangsläufig zu einem höheren Wert der von Armut bedrohten Haushalte führen. Robert Urbé von der Caritas jedoch hält diese Argumentation für ein „seit Jahren völlig von der Realität losgelöstes politisches Narrativ. »
Referenzbudget gibt Aufschluss über Bedürfnisse
Nach welchen Kriterien werden alleinstehende Personen, Familien oder Alleinerziehende als arm eingestuft? Das Statistikamt hat 2017 eine Studie veröffentlicht, die die Zahlen durch die Berechnung eines so genannten Referenzbudgets greifbarer machen soll. Das Referenzbudget ist ein Minimalbudget, das jedem Einzelnen ermöglichen soll, ein « zwar bescheidenes, aber angemessenes Leben » zu führen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es setzt sich aus verschiedenen « Körben » voller Waren und Dienstleistungen zusammen.
Die Erwerbsarmut ist vor allem ein Problem für ausländische Erwerbstätige, die kein Stimmrecht haben. Die ‘Working Poor’ haben in Luxemburg keine Stimme. »Robert Urbé, Caritas
Die Ergebnisse der Studie sind in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. So wurde ein konkreter Betrag errechnet, wie viel Geld verschiedene Haushalte zur Verfügung haben müssen, um in Luxemburg ein angemessenes Leben zu führen. Für eine Einzelperson beläuft sich der Betrag auf 1.923 Euro, für eine Familie mit zwei Kindern auf 3.935 Euro, für eine Alleinerziehende je nach Alter des Kindes auf etwa 2.623,18 Euro.
Schaut man sich die unterschiedlichen Körbe etwas genauer an, wird deutlich, dass die Budgets äußerst knapp berechnet wurden, wie zum Beispiel der Korb „soziales Leben“ für eine Familie mit zwei Kindern zeigt: 35 Euro pro Monat für Feste und Geschenke, weniger als 30 Euro pro Monat für kulturelle Aktivitäten, 52,77 Euro für Restaurantbesuche und ein Jahresbudget von unter 1.000 Euro für Urlaub. Flagrant ist zudem auch, dass bei Familien mit mehr als zwei Kindern das Referenzbudget über dem Budget liegt, was Familien, die den Mindestlohn verdienen, zuzüglich Sozialleistungen pro Monat zur Verfügung haben.
Alleinerziehende, Großfamilien und Berufseinsteiger
Die Studie zum Referenzbudget bestätigt demnach die Statistiken zum Armutsrisiko: Besonders Alleinerziehende und Berufseinsteiger, die alleine wohnen, aber auch Familien mit mehr als zwei Kindern sind jene Haushalte, die schnell in prekären Verhältnissen leben. 17,5 Prozent der Luxemburger Bevölkerung war bereits 2019, vor der sanitären Krise, armutsgefährdet. 12,1 Prozent von ihnen trotz Arbeitsverhältnis.
Erwerbsarmut ist so störend, weil sie den Sozialpakt in seinen grundlegendsten Elementen untergräbt. Sie bringt den sozioökonomischen Zusammenhalt in Gefahr. »Luca Ratti, Uni Luxemburg
„Wenn in einem Land 10 bis 15 Prozent der arbeitenden Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze leben, hat das Arbeitsrecht versagt“, sagt Luca Ratti von der Universität Luxemburg. Der Associate Professor koordiniert seit Februar 2020 ein europäisches Forschungsprojekt, das die sozialen und rechtlichen Gründe für die europaweite Zunahme der Erwerbsarmut untersucht. „Sobald Arbeit keinen angemessenen Lebensstandard mehr garantiert, haben wir ein soziales und politisches Problem“, so der Experte für Arbeitsrecht im Gespräch mit Reporter.lu.
Schließlich sei der Sozialvertrag der westlichen Gesellschaften historisch auf der Idee aufgebaut, dass Arbeit es den Bürgern ermögliche, ein menschenwürdiges Leben zu führen und an der Gesellschaft teilzunehmen. „Erwerbsarmut ist so störend, weil sie den Sozialpakt in seinen grundlegendsten Elementen untergräbt. Sie bringt den sozioökonomischen Zusammenhalt in Gefahr“, sagt Luca Ratti.
Forschungsprojekt erarbeitet Empfehlungen
„Die soziale Kohäsion in unserem Land ist in den letzten Jahren weiter strapaziert worden“, sagt auch Robert Urbé von der Caritas. „Daran ist unsere Regierung nicht unschuldig.“ Für Robert Urbé ist der Grund für die zögerliche Haltung der Politik im Kampf gegen Erwerbsarmut relativ klar: „Die Erwerbsarmut ist vor allem ein Problem für ausländische Erwerbstätige, die kein Stimmrecht haben“, schrieb er bereits 2019 im Luxemburger Länderbericht zur „Working Poor“- Studie des „European Social Policy Network“ (ESPN).
Robert Urbé erinnert daran, dass bei den letzten Parlamentswahlen am 14. Oktober 2018 gerade einmal 47 Prozent der Luxemburger Bevölkerung das Recht hatten, zu wählen, 44,3 Prozent von ihnen seien verbeamtet, 21,1 Prozent Rentner. „Die ‘Working Poor’ haben in Luxemburg keine Stimme“, so seine Schlussfolgerung.
Das möchte das Forschungsprojekt von Luca Ratti ändern. Es ist bewusst praxisorientiert aufgebaut, sein Ziel ist es, der Regierung einen Empfehlungskatalog zur Bekämpfung der Erwerbsarmut an die Hand zu geben. Die Maßnahmen könnten nur greifen, wenn sie sich aus einem Zusammenspiel von Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht zusammensetzten, erklärt Luca Ratti.
Relevant seien in diesem Zusammenhang vor allem auch sozialpolitische Maßnahmen. Allen voran der Zugang zu erschwinglichem Wohnraum. Das gelte für viele Länder Europas, doch ganz besonders für Luxemburg, sagt der Professor abschließend. Ansonsten würden die Wartelisten der sozialen Wohnungsvermittlungen immer länger werden. Und die Prekarität der Betroffenen würde eher noch zunehmen.
* Namen wurden von der Redaktion geändert.
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