Im Zuge der geplanten Verfassungsreform wertet das Parlament seine Rolle deutlich auf. Durch Misstrauensanträge und niedrigere Hürden für die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen könnten die Abgeordneten die Regierung künftig wirksamer kontrollieren.
„Ich berufe die Regierung für morgen um zehn Uhr ein und gehe danach zum Palast, um dem Großherzog Neuwahlen vorzuschlagen“: Mit diesen Worten schloss Jean-Claude Juncker (CSV) am 10. Juli 2013 die Debatte über den Bericht der Enquetekommission zur Geheimdienstaffäre ab. Der damalige Parlamentspräsident Laurent Mosar (CSV) ließ, bewusst oder unbewusst, eine Abstimmung über die Motionen der Opposition und der LSAP nicht mehr zu. In diesen Texten forderten die Parteien den Premierminister dazu auf, vorgezogene Wahlen abzuhalten. Durch die improvisierte Vorgehensweise behielt jedoch der damalige Regierungschef vorerst die Kontrolle über das weitere Geschehen und blieb bis zu den Neuwahlen offiziell – und nicht nur geschäftsführend – im Amt.
Die Debatte war nicht nur historisch, weil sie das Ende der Ära Juncker einläutete. Auch verfassungsrechtlich war sie bemerkenswert bis problematisch. Denn laut Verfassung steht es nur dem Großherzog zu, das Parlament aufzulösen. Auch eine Vertrauensfrage oder sogenannte „Motion de censure“ wird im aktuellen Grundgesetz nicht erwähnt. Kurz: Die rechtliche Basis, nach welcher der Großherzog die Entscheidung zum Ausrufen von Neuwahlen trifft, wurde nie festgelegt.
Wie bei so vielen Fragen, die von der geltenden Verfassung nicht ausdrücklich geregelt werden, leiteten die Abgeordneten die Möglichkeit, die Vertrauensfrage an die Regierung zu stellen, aus einem einzigen Satz im Grundgesetz ab: „Les membres du Gouvernement sont responsables.“ Es ist auch dieser Satz, der der von Jean-Claude Juncker geführten Regierung nach mehr als 18 Jahren an der Macht zum Verhängnis wurde.
Eine mehr als nur symbolische Reform
Mit der aktuell im Parlament diskutierten Verfassungsreform soll dieses offensichtliche Rechtsvakuum nun beseitigt werden. Dabei ist die Einführung eines Misstrauensvotums nur eines von mehreren Beispielen, wie das Parlament seine Rolle als Kontrollinstanz der Regierung stärken will.
„Quer durch den neuen Verfassungstext kann man feststellen, dass das Parlament gestärkt wird“, sagt der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Mars Di Bartolomeo (LSAP), im Gespräch mit Reporter.lu. Demnach steht es dem Großherzog künftig nur dann zu, das Parlament aufzulösen, wenn eine Mehrheit der Abgeordneten der Regierung zuvor das Vertrauen entzogen hat. Der Interpretationsspielraum soll so deutlich verkleinert werden. Selbst wenn die Regierung zurücktreten wolle, müsse dies vom Parlament bestätigt werden.
Somit erhalten die „Motion de censure“ oder „Motion de confiance“ ausdrücklich Einzug in die Verfassung. Doch ein klares Verfahren für die Organisation eines Misstrauensvotums gibt es noch immer nicht. Der parlamentarische Verfassungsausschuss beauftragte deshalb den neugeschaffenen wissenschaftlichen Dienst des Parlaments erstmals damit, eine Textvorlage für eine Änderung der parlamentarischen Geschäftsordnung auszuarbeiten.
Ziel eines Untersuchungsausschusses ist es, mögliche Verfehlungen zu untersuchen und Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten. Er soll keine Strafkammer für die Regierung werden.“Mars Di Bartolomeo, LSAP-Abgeordneter
„Obwohl kein geeigneter Mechanismus zur Umsetzung der politischen Rechenschaftspflicht im Gesetz verankert ist, wurden in der Praxis bereits mehrere Misstrauensanträge von den Mitgliedern des Parlaments eingereicht“, schreibt die „Cellule scientifique“ in dem kürzlich erstellten Gutachten, das Reporter.lu vorliegt.
In dem 24-seitigen Dokument wird versucht, durch einen Vergleich der verschiedenen parlamentarischen Systeme der Nachbarstaaten ein für Luxemburg geeignetes Verfahren für das Misstrauensvotum aufzustellen. Zudem bemühen sich die Verfasser, die bisherige Praxis bestmöglich in den Text zu integrieren. Demnach könne ein Misstrauensvotum etwa noch am Tag des entsprechenden Antrags stattfinden. Auch soll das Parlament die Möglichkeit erhalten, der Regierung die Vertrauensfrage zu stellen.
Dabei handelt es sich um eine Luxemburger Eigenart, denn normalerweise steht es nur den Regierungen zu, dem Parlament die Vertrauensfrage zu stellen. Diese Möglichkeit der Regierung wird indes auch im neuen Verfassungstext so vorgesehen. Das Misstrauensvotum würde sich denn auch vom konstruktivem Misstrauensvotum in Deutschland unterscheiden. Dort ist der Bundestag nach einem Misstrauensvotum verpflichtet, innerhalb von drei Wochen einen neuen Vorsitzenden der Regierung wählen. Erst wenn das nicht gelingt, müssen Neuwahlen organisiert werden.
Anzeichen für mehr Selbstbewusstsein
Bei den Ausführungen der „Cellule scientifique“ handelt es sich aber nur um ein Vorschlagspapier. Das Dokument soll allerdings als Diskussionsbasis für die Abgeordneten dienen. Abgeschlossen sind die parlamentarischen Arbeiten damit jedoch nicht. „Es stellen sich noch mehrere Fragen. Etwa, ob die Debatte über ein Misstrauensvotum vertagt werden kann und wenn ja, wie lange? Oder wie viele Abgeordnete benötigt werden, um ein Misstrauensvotum einzufordern“, sagt Sven Clement (Piratenpartei) im Gespräch mit Reporter.lu. Der wissenschaftliche Dienst könne keine politischen Entscheidungen treffen, deshalb müssten die Abgeordneten diese Fragen klären, so der Abgeordnete.

Dennoch enthält der Vorschlag der „Cellule scientifique“ bereits mögliche Antworten auf diese Fragen. In Frankreich kommt etwa ein Antrag für ein Misstrauensvotum erst zwei Tage nach seiner Einreichung zur Abstimmung. Das Dokument des wissenschaftlichen Dienstes sieht hingegen keine Mindestfrist vor. Darin wird vielmehr vorgeschlagen, die Abstimmung spätestens nach fünf Tagen abzuhalten. „Diese Regel stellt eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme dar, die auf die in der Praxis festgestellte Schwierigkeit eingeht, dass über einige ‘klassische’ Anträge auch nach mehreren Monaten oder sogar Jahren keine Abstimmung stattgefunden hat“, so die Autoren des Gutachtens. Somit soll verhindert werden, dass der Parlamentspräsident den Antrag zwar annimmt, aber nicht zur Abstimmung bringt.
Die Antworten der Fraktionen auf diese Fragen sollen Anfang März zusammengetragen und im zuständigen Ausschuss diskutiert werden. Es ist für das Parlament eine außergewöhnliche Vorgehensweise. Denn die meisten Gesetzesvorschläge werden nicht von den Abgeordneten, sondern von der Regierung ausgearbeitet. Der Prozess für die Änderung der Geschäftsordnung ist demnach selbst ein Beleg für ein zunehmendes Selbstbewusstsein des Parlaments.
„Die Abhängigkeit von der Regierung wird so gekappt“, drückt es Sven Clement aus. Denn selbst Vorschläge, die von Abgeordneten der Mehrheitsparteien eingereicht wurden, seien oft von Beamten aus den Ministerien ausgearbeitet worden, mutmaßt der Piratenabgeordnete. Durch die unbefangenen Vorschläge des hausinternen Dienstes des Parlaments gewinnen die Abgeordneten demnach weiter an Autonomie im Gesetzgebungsprozess.
Untersuchungsrecht soll gestärkt werden
Doch der Vorschlag zum Misstrauensvotum ist nicht das einzige Gutachten der „Cellule scientifique“ in Zusammenhang mit der Verfassungsreform. Kurz vor Jahresende reichte der Dienst auch einen Text über die Organisation von Untersuchungsausschüssen ein. Die noch nicht verabschiedete Verfassungsreform zu den Befugnissen des Parlaments erlaubt es etwa bereits einem Drittel der Abgeordneten, eine « Commission d’enquête » einzuberufen. Somit soll nach fast 18 Jahren eine Forderung vom damaligen Oppositionspolitiker Alex Bodry (LSAP) umgesetzt werden. Die Arbeiten an dem Vorschlag des LSAP-Abgeordneten konnten wegen verfassungsrechtlicher Bedenken des Staatsrats allerdings erst 2011 abgeschlossen werden.
Der Vorschlag des wissenschaftlichen Dienstes geht zudem über die reine Umsetzung des neuen Verfassungstextes hinaus. Demnach raten die Juristen auch dazu, einen Zwischenbericht zu erstellen, wenn der Untersuchungsausschuss seine Arbeit vor dem Wahltermin nicht abschließen könne. Zusätzlich schlägt die „Cellule scientifique“ vor, Minderheitsmeinungen in den Bericht des Untersuchungsausschusses aufzunehmen, falls die Abgeordneten sich nicht im Konsens auf einen Text einigen können.
Für das Parlament – und vor allem für die Opposition – werden diese Änderungen neue Türen öffnen. Bisher war für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nämlich die einfache Mehrheit der Abgeordneten nötig. Das heißt: Ohne Stimmen der Mehrheitsparteien konnte keine Enquetekommission einberufen werden. Deshalb sind in Luxemburg seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch lediglich fünf Untersuchungsausschüsse eingesetzt worden.
Die neue Regelung könnte dazu führen, dass dieses Instrument häufiger genutzt wird. Wäre die Verfassungsreform bereits in Kraft, könnte die Opposition auch gegen den Willen der Koalitionsparteien etwa einen Untersuchungsausschuss zur « SuperDrecksKëscht »-Affäre einsetzen. Demnach treibt manchen Politiker auch die Sorge um, dass die neue Regelung für parteipolitische Zwecke missbraucht werden könnte. „Ziel eines Untersuchungsausschusses ist es, mögliche Verfehlungen zu untersuchen und Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten. Er soll keine Strafkammer für die Regierung werden“, sagt der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Mars Di Bartolomeo.
Nicht nur die geplanten Änderungen, auch ihre sachliche Vorbereitung deuten auf ein zunehmendes Selbstbewusstsein des Parlaments hin. Wie groß dieses neue Selbstbewusstsein tatsächlich sein wird, muss sich noch zeigen. Denn zunächst muss das entsprechende Kapitel der Verfassungsreform verabschiedet werden. Dann müssen die einzelnen Reformen noch per Gesetz, beziehungsweise in der Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer, umgesetzt werden. Erst dann können die Abgeordneten unter Beweis stellen, wie ernst sie ihre neue, ausgeweitete Kontrollfunktion nehmen werden.


