Laut der Regierung ist seit März kein Anstieg an Suiziden zu verzeichnen. Spezialisten warnen jedoch: Wie sich die Pandemie auf die Suizidrate auswirkt, ist noch nicht abzusehen. Denn die psychischen Folgen von sozialer Isolation und Unsicherheit sind komplex und lang anhaltend.
Aufrecht sitzt sie auf ihrem Stuhl, die Beine vornehm übereinander geschlagen. Ihr Lidstrich ist perfekt gezogen, die Strickjacke leuchtet in strahlendem Gelb. Mit klarem und direktem Blick schaut sie in den Raum. Nichts deutet darauf hin, dass Carine* vor einigen Wochen versuchte, ihr Leben zu beenden.
„Ich möchte darüber reden“, sagt sie, und beginnt, das Erlebte zu rekonstruieren. Sie spricht von « schwarzen Gedanken », die sie hatte, als sie tagelang in ihrem Zimmer lag. Das Schlimmste sei für sie die Scham danach gewesen. Und das schlechte Gewissen. « Daran werde ich auch noch lange arbeiten müssen », sagt sie. Alleine, für sich, aber auch mit den Menschen aus ihrem direkten Umfeld.
« Meine Familie kann mit der Situation nicht umgehen », erzählt Carine. « Vorwürfe statt Verständnis » habe sie bekommen, als sie das erste Mal nach dem Suizidversuch nach Hause kam. Es sei schwer, Menschen zu finden, die zuhören und Mitgefühl zeigen. Sie spricht damit an, was offensichtlich ist und dennoch nicht konsequent angegangen wird. Depressionen und Suizidgedanken sind Tabuthemen. In Carines Umfeld, aber auch in der gesamten Gesellschaft.
Schwere Verläufe und komplizierte Versorgung
« In Luxemburg haben wir ein ganz schlechtes Verständnis von Suizidalität », sagt François d’Onghia. Der Direktor des « Centre d’information et de prévention » bemängelt, dass es hier im Land keine wirkliche Auseinandersetzung und kaum Studien zu Themenfeldern rund um Suizid gebe. « Wir wollen Suizidprävention betreiben, ohne wirklich zu wissen, wo wir ansetzen sollen », lautet seine nüchterne Bilanz. Man stütze sich auf Studien aus dem Ausland, in der Hoffnung, die Ergebnisse auf Luxemburg übertragen zu können, anstatt selbst in die Erarbeitung und Evaluierung verlässlicher Daten und Studien zu investieren.
Anfang der Woche beantwortete Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) eine parlamentarische Anfrage zu den Entwicklungen der Suizidrate im Kontext der Pandemie. Die bisher zur Verfügung stehenden Daten würden nicht darauf hinweisen, dass die Suizidrate seit dem Beginn der sanitären Krise im März bis heute im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen sei, heißt es in der Antwort der Ministerin. Das gleiche gelte für die Anzahl an Suizidversuchen.
Es ist die Dauer, die zermürbend ist. Erschöpfung kann krank machen. »Jean-Marc Cloos, Direktor der Psychiatrie der Hôpitaux Robert Schuman
« Es kann offiziell noch keine Zahlen geben », sagt hingegen François d’Onghia. Er sei « etwas überrascht », dass über die Suizidrate von 2020 überhaupt schon eine Aussage gemacht worden sei. Schließlich seien vergangene Woche gerade erst die definitiven Zahlen von 2018 veröffentlicht worden. « Die Aufarbeitung der Daten braucht Zeit, viele Fälle aus dem laufenden Jahr werden noch untersucht », sagt er. Die Aussage der Ministerin könne demnach lediglich eine ungefähre Tendenz wiedergeben.
Eine Tendenz, die von Ärzten in den Krankenhäusern eher bestätigt wird. « Eine signifikante Zunahme von Suiziden und Suizidversuchen kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht feststellen. Es gab jedoch vermehrt Fälle von besonders schweren Versuchen », sagt Paul Hédo, Leiter der psychiatrischen Abteilung des CHL. Viele Menschen zögerten wegen der Umstände noch länger als ohnehin schon, bis sie sich Hilfe suchten und ins Krankenhaus kämen. Manche aus Angst, sich dort selbst mit dem Virus anzustecken. Manche auch aus schlechtem Gewissen, die ohnehin überlasteten Krankenhäuser mit ihren « Sorgen » zu belästigen.
Pandemien und psychische Langzeitfolgen
Paul Hédo hütet sich jedoch vor einer voreiligen Entwarnung. Die Geschichte zeige, dass sanitäre und wirtschaftliche Krisen mit ihren existentiellen Bedrohungen durchaus Auswirkungen auf die Suizidrate der betroffenen Gesellschaften hatten. Die spanische Grippe vor rund 100 Jahren etwa hatte die Rate in den USA leicht erhöht. Die Sars-Epidemie im Jahr 2003 hat in Hong Kong unverhältnismäßig viele, besonders ältere Menschen zum Suizid veranlasst. Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung mit erhöhtem psychischen Leiden gab und gibt es auch noch bei HIV-Erkrankten.
Die psychischen Auswirkungen der Pandemie sind zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer abzuschätzen. »
Claus Vögele, Psychologie-Professor an der Uni Luxemburg
Bereits die Ergebnisse erster Studien und Umfragen zu den psychischen Folgen der andauernden Covid-19-Pandemie sind alarmierend. Jeder Dritte der Luxemburger Bevölkerung meldet eine Verschlechterung seines mentalen und psychischen Zustands, wie aus einer im Juli veröffentlichten Studie der Statec und des Meinungsforschungsinstituts TNS Ilres hervorgeht. Das seien doppelt so viele Menschen, wie jene, die angaben, eine Verschlechterung ihrer körperlichen Verfassung festzustellen. Das Statistikamt spricht von „weitreichenden Kollateralschäden ».
« Der Gesellschaft ist das Grundvertrauen abhanden gekommen », sagte Jean-Marc Cloos, Direktor der Psychiatrie der Hôpitaux Robert Schuman kürzlich in einem Interview mit « Radio 100,7 ». Die Unsicherheit werde zu einem « chronischen Zustand ». « Es ist die Dauer, die zermürbend ist. Erschöpfung kann krank machen », so der Psychiater.
Risikogruppen und Frontline-Workers
Ängste und Ungewissheit, soziale Distanz und Einsamkeit, die Überflutung mit bedrohlichen Nachrichten und wirtschaftlicher Druck: All das stellt eine mentale Belastungsprobe für die gesamte Gesellschaft dar. Als besonders gefährdet jedoch stuft Paul Hédo Personen ein, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt an psychischen Erkrankungen litten. Ebenso wie Menschen, die selbst mit dem Sars-CoV-2-Virus infiziert waren und eventuell später posttraumatisch erkranken. Eine weitere Risikogruppe seien auch die sogenannten Frontline-Workers: Krankenpfleger und Ärzte, Pflegekräfte in Altenheimen, die täglich an vorderster Front stehen.

« Die psychischen Auswirkungen der Pandemie sind zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer abzuschätzen », sagt auch Claus Vögele, Professor für Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie an der Universität Luxemburg. Er findet es « völlig verfrüht, jetzt schon unser Glück zu preisen ». Denn die Ergebnisse der von ihm geleiteten Umfrage zum Wohlbefinden der Bevölkerung während der ersten Phase des Lockdown zeigten eindeutig, dass « Werte über Depressivität, Angst und Einsamkeit während der Pandemie signifikant nach oben gegangen » seien. « Depressivität ist noch keine diagnostizierte Depression » präzisiert Claus Vögele. Doch bei den Fragebögen seien eine hohe Anzahl von Antworten dabei, die durchaus von « klinischer Relevanz » seien.
« Diese Ergebnisse müssen Konsequenzen auf nationaler Ebene der betroffenen Länder und auf europäischer Ebene haben », fordert Claus Vögele. Er vermutet bei manchen Entscheidungsträgern einen Fokus auf die Abwendung negativer wirtschaftlicher Konsequenzen, was unmittelbar auch verständlich sei. « Doch auch die psychische Gesundheit der Bevölkerung ist von wirtschaftlicher und sozial-politischer Bedeutung », betont Claus Vögele.
Um die psychische Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten und gegebenenfalls wiederherzustellen, brauche es Präventionsmaßnahmen: Die Infrastruktur für die klinisch-psychologische und psychiatrische Versorgung müsse ausgebaut werden. « Sie darf jener der medizinischen Vorsorge und Behandlung in nichts nachstehen », sagt der Psychologie-Professor.
Forderung nach psychosozialem Krisenmanagement
Paul Hédo beobachtet seinerseits bereits heute, dass die Versorgung psychiatrischer und somit auch suizidaler Patienten auf seiner Station durch die Pandemie komplizierter geworden ist: Familientherapeutische Sitzungen – oft ein zentrales Element in der Betreuung von suizidalen Patienten – werden auf ein Minimum reduziert. Die Möglichkeiten von Gruppentherapien sind angesichts der Hygiene- und Abstandsregeln ohnehin deutlich eingeschränkt.
Hinzu kommen die komplette Isolation von Covid-19-Infizierten sowie das Besuchsverbot, das das Gefühl sozialer Ausgrenzung verstärkt. Das Krankenhauspersonal sieht sich mit Schwierigkeiten konfrontiert, eine gesicherte Reintegration in das übliche Umfeld progressiv und flexibel zu gestalten. Auch die Nachsorge ist schwieriger. Wegen eingeschränkter tagesklinischer Angebote gibt es einen erhöhten Bedarf an Telefon-Therapien. „Die multidisziplinären Teams in den Krankenhäusern und sozialpsychiatrischen Einrichtungen verdienen viel Anerkennung für ihren Einsatz“, sagt Paul Hédo.
Einzelinitiativen statt strukturelle Prävention
In Luxemburg sind es vor allem Einzelinitiativen, die die Folgen abfedern sollen: Krankenhäuser, die mit ihren Ressourcen selbst versuchen, ihr Personal vor Burn-Out und Depressionen zu schützen, verhaltenstherapeutische Videos zur Verfügung stellen oder auch interne Gruppensitzungen anbieten. Nothotlines wurden teilweise ausgebaut, eine kurzfristig entstandene Webseite mit den wichtigsten Telefonnummern online gestellt.
Luxemburg fehlt es an einer strukturellen Suizidprävention. »François d’Onghia, Direktor des « Centre d’information et de prévention »
Die « Ligue Luxembourgeoise d’Hygiène Mentale » hat angesichts der hohen Nachfrage ihre geplanten « Erste Hilfe-Kurse » für psychische Gesundheit zeitlich vorgezogen und bereits im Rahmen der « Semaine de la Santé Mentale » Anfang Oktober online angeboten. Die « Erste Hilfe-Kurse » sollen es Teilnehmern erleichtern, psychische Krankheiten zu erkennen und Betroffene besser zu unterstützen. Das Angebot soll in den nächsten Monaten ausgebaut werden.
Wie nötig die unmittelbare Hilfe vor allem auch durch Hotlines ist, zeigen auch die kürzlich veröffentlichten Zahlen des Kinder- und Jugendtelefons: Die Zahl der Minderjährigen, die sich 2020 wegen Suizidgedanken an die Hotline wandten, hat im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. 24 Kontaktaufnahmen 2019 im Gegensatz zu bereits 33 Kontaktaufnahmen im laufenden Jahr. Hierbei handelt es sich ausdrücklich um Menschen, die von den Psychologen als « ausgeprägt suizidär » eingestuft wurden, wie aus der Antwort auf die parlamentarische Anfrage hervorgeht.
Die Priorität der Regierung
François d’Onghia, einer der federführenden Autoren des Suizid-Präventionsplans 2015-2019 zieht eine gemischte erste Bilanz. Auch er betont die große Nachfrage an Weiterbildungsangeboten und den Erfolg von Informationsveranstaltungen, bemängelt jedoch das Fehlen eines übergreifenden Konzepts. Einzelaktionen könnten grundlegende Untersuchungen nicht ersetzen. « Luxemburg fehlt es an einer strukturellen Suizidprävention », sagt der Psychologe.
Er erzählt von einem Forschungsprojekt, bei dem über zwei Jahre lang etwa hundert Familien befragt werden sollten, die mit einem Suizidfall konfrontiert waren und es sicherlich auch Jahre später noch sind. « Wir wollten verstehen, was in den einzelnen Fällen ‘schiefgelaufen’ ist, um eventuell Muster zu erkennen und vorbeugend handeln zu können », begründet François d’Onghia seine Motivation hinter dem Forschungskonzept. Doch das Projekt konnte nicht realisiert werden. Aus « Datenschutzgründen » gab es keine Unterstützung von Seiten der zuständigen Ministerien. Und das, obwohl es im Suizidpräventionsplan vorgesehen war.
Die mentale Gesundheit der Bevölkerung sei « Priorität der Regierung », heißt es immer wieder. « Ein nationaler Plan für die geistige Gesundheit wird ausgearbeitet werden », steht im Koalitionsprogramm von 2018 – 2023. Wie es im letzten Satz der Antwort auf die oben genannte parlamentarische Anfrage heißt, seien die Arbeiten wegen der Pandemie jedoch « ein wenig in Verzug geraten ».
Für die Betroffenen kommt es kurzfristig weniger auf politische Strategien als auf Betreuung und Hilfestellungen im Alltag an. Auch Carine hat Menschen gefunden, die ihr helfen und ihre Situation verstehen wollen. Schritt für Schritt will sie das Erlebte verarbeiten und wie viele ihrer Mitmenschen die Ausnahmesituation der Pandemie hinter sich lassen.
Hilfestellen
Wer Suizidgedanken hat, sollte sich Hilfe suchen – sei es bei einer vertrauten Person, bei einem Psychologen oder bei einer Hilfestelle wie SOS Détresse (Telefonnummer: +352 454545). Für Kinder und Jugendliche gibt es eine spezielle Hotline (Telefonnummer: +352 166 166).
Weitere Informationen gibt es auch auf folgenden Webseiten: www.prevention-suicide.lu und www.covid19-psy.lu.
* Name wurde von der Redaktion geändert.