Mit dem « Solidaritéitspak » will die Regierung Kaufkraftverluste der Bürgerinnen und Bürger ausgleichen – im Fall von Geringverdienern sogar überkompensieren. Doch die einzelnen Maßnahmen sind nicht bis ins letzte Detail durchdacht und durchgerechnet.
„Für alle Haushalte steigt die Kaufkraft im Vergleich zum Vorkrisenniveau.“ Es ist ein Satz, an dem Xavier Bettel (DP) und die ganze Regierung sich messen lassen müssen. Als er vergangene Woche im Parlament die Grundzüge des « Solidaritéitspak » vorstellte, ließ der Premier jedenfalls keinen Zweifel daran, dass das Tripartite-Abkommen sozial ausgewogen sei.
Die Maßnahmen seien sogar sozialer als das, was « eine gewisse Gewerkschaft » in den Verhandlungen gefordert hatte, so der Regierungschef – ein unverhohlener Seitenhieb auf den OGBL, der eine Einigung im letzten Moment platzen ließ. Das Mantra der « Überkompensierung » von Kaufkraftverlusten basiert jedoch auf umstrittenen – und zum Teil unvollständigen – Modellrechnungen. Dennoch könnte die Regierung mit ihrem Versprechen am Ende Recht behalten.
Eine Schlüsselrolle in den Diskussionen zwischen den Sozialpartnern kam dem Statistikamt zu. Im Eiltempo berechnete ein kleines Team um Statec-Direktor Serge Allegrezza die nötige Datenlage, die als Verhandlungsbasis dienen sollte. Anhand von Projektionen zur Inflation der kommenden zwei Jahre sollte der erwartbare Kaufkraftverlust der Haushalte je nach Einkommen beziffert werden. Dabei nutzte das Statec die Kaufkraft der Haushalte im Jahr 2019 als Referenz, also vor der Corona-Pandemie.
„Diese Zahlen sollten eine Größenordnung des Kaufkraftverlustes liefern. Sie sind im Großen und Ganzen gültig, müssen aber noch verfeinert werden“, erklärt Serge Allegrezza im Gespräch mit Reporter.lu. Auf genaue Zahlen will der Direktor des Statec sich auch heute nicht festlegen.
Umstrittene Berechnungen
Dabei diente vor allem der für das Jahr 2022 errechnete Kaufkraftverlust von 419 Euro für Geringverdiener als Referenz für den beschlossenen Steuerkredit von 84 Euro. Für dieses Jahr würde die Maßnahme den Kaufkraftverlust von Menschen mit einem Monatseinkommen von bis zu 3.680 Euro ausgleichen. Die Überkompensierung würde demnach erst im kommenden Jahr greifen. Doch während der Verhandlungen konnten die Sozialpartner sich offenbar nicht mal auf diese Datenlage einigen.
Wer in den letzten Jahren unsere Berichte gelesen hat, dem ist aufgefallen, dass höhere Gehälter stärker vom Index kompensiert werden. »Serge Allegrezza, Statec-Direktor
Die ersten Verhandlungstage beschränkten sich demnach auf eine grundlegende Bestandsaufnahme. Wie mehrere Teilnehmer der Tripartite berichten, hätten die federführenden Verwaltungen erst nach und nach das wesentliche Zahlenmaterial auf den Tisch gelegt. Erst im Endspurt der Diskussionen, als sich die Verhandlungspartner über die Prinzipien einig wurden, lieferte das Statec weitere Erklärungen und Berechnungen. Die Zweifel an der Belastbarkeit der Zahlen blieben allerdings.
Tatsächlich werfen die Projektionen einige Fragen auf. In seiner Modellrechnung schätzt das Statec etwa, dass die Reduktion des Spritpreises um 7,5 Cent pro Liter alle Einkommensgruppen ungefähr gleich betreffen wird. Demnach würde dies im Schnitt je nach Einkommen des Haushalts zu einer jährlichen Einsparung zwischen 47 und 53 Euro führen. Damit widerspricht sich das Statistikamt allerdings selbst. Denn laut einer Publikation von 2019 können nicht alle Haushalte gleichmäßig von einer Verringerung der Spritpreise profitieren.
Demnach würden die Ausgaben für Energie nahezu proportional zum Einkommensniveau ansteigen. Ein Grund dafür ist zum Beispiel, dass – laut Zahlen des Statec – mehr als ein Drittel der Geringverdiener gar kein Auto besitzt. Für Haushalte mit einem Jahresnettoeinkommen von mehr als 100.000 Euro würden die Ausgaben jedoch wieder fallen. Als Erklärung führte das Statec die Möglichkeit an, dass diese Haushalte zum einen näher an der Hauptstadt wohnen und zum anderen eher einen Dienstwagen besitzen, für dessen Kosten zum Teil der Arbeitgeber aufkommt. Eine Reduktion von 7,5 Cent pro Liter dürfte also vor allem Gutverdiener und Unternehmen begünstigen.
Auf Nachfrage erklärt Serge Allegrezza, man wolle alle Zahlen nochmal im Detail überprüfen. In den kommenden zwei Wochen werde das Statistikamt die Ministerien bei den Berechnungen für den genauen Kostenpunkt der Maßnahmen unterstützen, bevor die jeweiligen Gesetzentwürfe im Parlament eingereicht werden. Erst dann lasse sich auch mit größerer Sicherheit sagen, wie stark der Kaufkraftverlust kompensiert werden kann. Das gilt auch für den neuen Energie-Steuerkredit.
Index vs. Kaufkraftverluste
In den Tripartite-Verhandlungen wurde jedoch auch deutlich, dass Gewerkschaften und Staat unterschiedliche Auffassungen hatten, was überhaupt zu kompensieren sei. „Wir verstanden den Steuerkredit als Kompensierung für die ausfallende Indextranche, die Regierung hingegen für den Kaufkraftverlust“, sagt Frédéric Krier, Mitglied des OGBL-Nationalvorstands, im Gespräch mit Reporter.lu. Der Gewerkschaftsfunktionär nahm an der Seite von OGBL-Präsidentin Nora Back an den Verhandlungen teil.

Die unterschiedlichen Auffassungen führen auch zu abweichenden Zahlen, wie hoch die Überkompensierung ausfällt. Denn obwohl der Index offiziell dazu dienen soll, die Kaufkraft zu kompensieren, ist dies längst nicht mehr der Fall – zumindest nicht in allen Einkommensklassen. „Wer in den letzten Jahren unsere Berichte gelesen hat, dem ist aufgefallen, dass höhere Gehälter stärker vom Index kompensiert werden“, sagt dazu Serge Allegrezza.
Laut den Zahlen des Statec würde eine reguläre Indexierung ohne weitere Maßnahmen des „Energiedësch“ oder der Tripartite die Kaufkraft der Haushalte mit einem Jahreseinkommen von über 70.000 Euro kontinuierlich steigern. Geringverdiener hätten alleine mit der Lohnanpassung durch den Index jedoch starke Einbußen ihrer Kaufkraft zu befürchten. Es sei demnach ein „Game changer“, dass die Regierung bei dieser Krisenbewältigung versucht habe, auch die Ungleichheit der Einkommen zu berücksichtigen und diese nicht weiter zu zementieren, so Serge Allegrezza.
Das Statec hat ebenfalls Zahlen vorgelegt, welchen Einfluss der Index ohne sonstige Ausgleichsmaßnahmen, wie etwa die Erhöhung der Teuerungszulagen, auf die Kaufkraft hat. Vor allem Geringverdiener würden demnach zwischen 317 und 644 Euro jährlich an Kaufkraft verlieren. Das Verhältnis kehrt sich jedoch um bei Haushalten mit Einkommen von über 100.000 Euro jährlich. Sie würden im Schnitt zwischen 693 und 2.047 Euro an Kaufkraft gewinnen. Der Index allein könnte also weder den Kaufkraftverlust von Geringverdienern auffangen, noch die Ungleichheit verringern.
Nachbesserungen noch möglich
Während einer Pressekonferenz nach der Unterzeichnung des Abkommens rechnete Finanzministerin Yuriko Backes (DP) zudem den Einfluss des Steuerkredits vor. Demnach würden Mindestlohnempfänger im Vergleich zum Index monatlich etwa 42 Euro mehr erhalten. Bei einem Einkommen von 3.680 Euro liegt diese Überkompensierung noch bei rund 31,5 Euro pro Monat. Dieser Betrag entspricht laut Statec in diesem Fall auch der überkompensierten Kaufkraft. Ab einem Monatsgehalt von rund 5.700 Euro fällt die Kompensierung allerdings unter den Wert des Indexes. Der OGBL berücksichtigt jedoch auch den Kaufkraftverlust durch eine fehlende Anpassung der Steuertabelle. Demnach betrage die Überkompensierung für einen Mindestlohnempfänger lediglich zehn Euro monatlich, bevor sie rapide abfällt.
Laut dem Finanzministerium würden auch Alleinerziehende mit einem Einkommen von 4.300 Euro mit 31 Euro überkompensiert werden. Diese Überkompensierungen sind jedoch nicht zwingend Anzeichen für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung. 2019 berechnete das Statec mehrere Referenzbudgets, die es erlauben, in Luxemburg ein würdevolles Leben zu führen. Bereits damals reichte das soziale Mindesteinkommen (Revis) dafür nicht aus. Auch für Mindestlohnempfänger und vor allem alleinerziehende Mindestlohnempfänger wurde das Referenzbudget um 144 Euro monatlich verfehlt. Wie sich die Werte durch die Covid-Pandemie und die Energiekrise verändert haben, rechnete das Statec nicht aus.
Für die Armutsbekämpfung könnte auch eine ausfallende Indexierung des Kindergeldes ab August zum Problem werden. Für ein Kind über zwölf Jahren mache dies einen weiteren Verlust von acht Euro monatlich aus. Entgegen den Aussagen von Franz Fayot (LSAP) während einer Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag sei die Entscheidung zur Aussetzung des Indexes aller indexierter Maßnahmen jedoch noch nicht getroffen.
Aus gut unterrichteten Regierungskreisen heißt es nämlich, dass über das Kindergeld oder sonstige indexierte Leistungen in den Verhandlungen nicht diskutiert wurde. Laut Informationen von Reporter.lu sei ein Aussetzen des Indexes für das Kindergeld auch unwahrscheinlich. Eine Begründung dafür lautet, dass diese Anpassung – anders als die Lohnindexierung – keine zusätzliche Belastung für die Unternehmen darstellt.
Steigende Sozialausgaben
Unabhängig von der Entscheidung zum Kindergeld zeichnen sich die Maßnahmen der Regierung neben dem Steuerkredit durch mehrere soziale Anpassungen aus. So haben die Sozialpartner (exklusive OGBL) beschlossen, auch das Revis und das Einkommen für schwerbehinderte Personen um 84 Euro monatlich zu erhöhen. Auch hierbei handelt es sich um eine klare Überkompensierung im Vergleich zu einer normalen Indextranche. Wie bereits zu Beginn der Covid-Krise werden zudem bis Ende des Jahres die Mieten eingefroren.

Zusätzlich soll die Kaufkraft für Studenten gestärkt werden, indem das Budget für die Studienbeihilfen um zehn Millionen Euro erhöht wird. Wie diese zusätzlichen Mittel sich auf die drei Bestandteile der Beihilfen aufteilen sollen, ist noch nicht klar. Nur so viel: Laut dem Bildungsministerium soll der größte Anteil in die Sozialbeihilfe fließen. Insgesamt könnte die Beihilfe um bis zu 450 Euro steigen, so das Ministerium auf Nachfrage von Reporter.lu.
Gerade bei diesen Ausgaben stellt sich jedoch die Frage, ob die Regierung im April 2023 wieder zurückrudern kann. Eine Kürzung der Sozialbeihilfen wäre schwer vorstellbar, und das nicht nur, weil 2023 ein Wahljahr ist. Aus dem Ministerium von Claude Meisch (DP) heißt es, dass es sich zumindest bei den Studienbeihilfen um langfristige Anpassungen handeln soll. Die anderen Leistungen sowie der Steuerkredit sollen zum April 2023 auslaufen und wieder durch die dann stattfindende Indextranche ersetzt werden, was einer Verschlechterung der Einkommen von Geringverdienern gleichkommen wird.
« Das kann gar nicht schiefgehen »
Die Verluste könnten dabei durchaus größer sein, als bisher angenommen. Der Grund dafür ist die Berechnungsform des Steuerkredits. Dieser wird prinzipiell an jeden mit einem Einkommen von weniger als 8.334 Euro netto monatlich ausgeschüttet. Die Berechnungen des Statec beziehen sich allerdings auf den Kaufkraftverlust eines Haushalts – ein entscheidender Unterschied. „Allein im ersten Quintil haben wir dreimal mehr foyers fiscaux als Haushalte“, erklärt Serge Allegrezza. Mit « foyers fiscaux » sind die jeweiligen Steuererklärungen gemeint. Lebt ein Paar etwa zusammen, ohne jedoch verheiratet oder in einer eingetragenen Partnerschaft zu sein, handelt es sich um zwei « foyers fiscaux », aber nur um einen Haushalt. Dreimal so viele « foyers fiscaux » wie Haushalte bedeutet demnach, dass der Kaufkraftverlust bei Geringverdienern im Schnitt gleich dreimal ausgeglichen wird.
Um sicherzugehen, dass tatsächlich niemand an Kaufkraft verliert, ging die Regierung jedoch davon aus, dass es sich um einen Einpersonenhaushalt handelt. Selbst in diesem Fall würde der Steuerkredit allein den Verlust an Kaufkraft überkompensieren. „Mit anderen Worten: Das kann gar nicht schiefgehen“, sagt Serge Allegrezza.
Selbst wenn die Berechnungen sich zum Teil als falsch erweisen sollten, müsste der Steuerkredit also weiterhin zu einer Überkompensierung führen. Die Frage ist nur, in welchem Umfang. Darauf soll das Statec in den kommenden Wochen Antworten liefern, wenn die jeweiligen Gesetzentwürfe vorliegen – und deren Inhalte richtig durchgerechnet wurden.


