Weltweit waren in der Pandemie etwa 90 Prozent aller Schüler von Schulschließungen betroffen. Auch in Luxemburg wurde wochenlang per Videokonferenz unterrichtet. Das System wurde pragmatisch angepasst, doch die Folgen für Lehrer und Schüler werden langanhaltend sein.
„Wir sollen uns nichts vormachen. Unsere Schule war nie dafür geeignet, auf Fernunterricht umzuschalten“, sagt Bob Reuter. Der Universitätsdozent weiß, wovon er spricht, denn er forscht zu digitalen Lehrmethoden und unterrichtet angehende Pädagogen. Fernunterricht sei keine dauerhafte Alternative zum Präsenzunterricht. Es ist lediglich „besser als nichts“, so Bob Reuter. Viele Lehrer und Schüler geben dem Dozenten der Universität Luxemburg recht.
Obwohl die Pandemie bereits seit neun Monaten den Alltag bestimmt, gibt es weiterhin kein Patentrezept für die Organisation des Schulunterrichts. „Es gibt hier keine Ideallösung. Der Fernunterricht ist für uns auch keine pädagogische Innovation“, sagt Lex Folscheid vom Bildungsministerium.
Mehr Autonomie in der zweiten Welle
Eigentlich dachte man, die Situation wäre wieder unter Kontrolle. Im September kehrten die Schüler in ihre jeweiligen Schulgebäude zurück. Nach eineinhalb Monaten war allerdings erneut Schluss. In der Zwischenzeit hatten die meisten Schulen bereits wieder eine Maskenpflicht eingeführt. Dort, wo es nicht schon der Fall war, wurde in den oberen Klassen der Sekundarstufe wieder eine Mischung aus Fern- und Präsenzunterricht angeboten. Die Organisation des Unterrichts wurde den Schulen allerdings selbst überlassen. Die Direktionen wüssten am besten, welches Format sich für ihre Schule eigne, so das Ministerium.
Wir sind in dieser Zeit einem Druck ausgesetzt, den wir so nicht kennen, auch die Prüfungsangst hat zugenommen. »Kimon Leners, Schülervertreter
Nicht bei allen trifft dies auf Zustimmung. „Zu viel Freiheit führt zu Chaos anstatt zu einer Planungssicherheit“, sagt etwa Alain Massen im Gespräch mit Reporter.lu. Der Vorsitzende der nationalen Elternvertretung betont, dass es für Schüler und Eltern schwierig sei, die Übersicht zu behalten. Sind etwa zwei Kinder in verschiedenen Sekundarschulen in der Oberstufe, sei der organisatorische Aufwand für die Eltern enorm.
Trotz Kritik von allen Seiten begrüßen Lehrer und Schüler, dass die jetzigen Maßnahmen sich nur auf die Oberstufe beschränken. Es gehe um Schadensbegrenzung. Denn im ersten Lockdown litten vor allem junge Schüler unter dem neuen Unterrichtsformat.
Wesentliche Wissenslücken vorhanden
„Das letzte Schuljahr war eigentlich nur ein halbes Jahr“, sagt Patrick Arendt im Gespräch mit Reporter.lu. Die wenigsten Kinder hätten zu Beginn des neuen Schuljahres das nötige Niveau gehabt, so der Grundschullehrer und Vorsitzende des « Syndikat Erziehung und Wissenschaft » des OGBL (SEW). Im Sommer versuchte das Ministerium die Rückstände mit dem „Summer School“-Programm aufzuholen. Laut Patrick Arendt allerdings vergeblich.
Eigentlich sollten zusätzliche Nachhilfestunden organisiert werden. „Die Pandemie hat uns erneut einen Strich durch die Rechnung gemacht“, erklärt Lex Folscheid. Die Kurse sollten Anfang November beginnen und mussten allerdings abgesagt werden. Der Grund: Das Personal wurde erneut für den normalen Unterricht benötigt, so der Kabinettschef von Bildungsminister Claude Meisch (DP).
In einem normalen Jahr ist es für uns bereits fast unmöglich, das Schulprogramm vollständig umzusetzen, dieses Jahr wird es also besonders schwierig. »Yannick Glod, Sekundarschullehrer
Doch auch in der Sekundarstufe sind die Nachwehen des ersten Lockdowns noch spürbar. Durch die Änderung der Versetzungskriterien seien viele Schüler trotz unzureichender Kenntnisse in die nächste Klasse gekommen. „Da wurde vieles unter den Teppich gekehrt“, sagt ein Sekundarschullehrer, der namentlich nicht genannt werden will. « Es wird darüber hinweggetäuscht, wie ernst die Lage tatsächlich ist. »
Eine wichtige Einschränkung war zudem: Während die „Summer School“ für Kinder in der Grundschule verpflichtend war, konnten sich Schüler in der Sekundarstufe freiwillig einschreiben. „Das war reine Augenwischerei. In zwei Wochen konnten die Schüler den Rückstand mit einem Lehrer, den sie nicht kannten, kaum aufholen“, so der Lehrer.
Freiwillige Nachhilfe reicht nicht aus
Das Ministerium ist sich der Lage bewusst: „Die Schüler, die es am meisten benötigen, nutzen das Angebot am wenigsten, wenn es nicht verpflichtend ist“, so Lex Folscheid. Zu Beginn des Jahres habe man das Augenmerk auf die Grundschulen gerichtet. Künftig wolle man aber alle Stufen des Schulsystems verstärkt im Blick behalten.

Neben dem nationalen Angebot des Ministeriums bieten die meisten Sekundarschulen zusätzliche „cours d’appui“ an, die allerdings in vielen Fällen nur in der Unterstufe (7e bis 5e) verpflichtend sind. Verschiedene Schulleitungen setzen zudem auf persönliche Nachhilfestunden oder zusätzliche Aufgaben über die Schulferien. Dennoch berichten mehrere Lehrkräfte von wesentlichen Wissenslücken, die dem ersten Lockdown geschuldet sind.
Das Schuljahr hat demnach bereits unter schwierigen Bedingungen begonnen. Mit den zusätzlichen Maßnahmen der letzten Wochen könnte die Situation sich für die Betroffenen weiter verschlechtern. Das betrifft vor allem die Prüfungen. Für das Schulprogramm sind allerdings keine Kürzungen vorgesehen. „Wir hören von den Schulen, dass man bis jetzt noch nicht in Verzug geraten ist“, sagt Lex Folscheid.
Normales Programm in anormalen Zeiten
Die Schüler fürchten allerdings, dass mittlerweile mehr auf die Quantität des Gelernten als auf die Qualität des Unterrichts geachtet wird. „Im Fernunterricht können nicht alle Schüler mitgenommen werden“, sagt Kimon Leners, Präsident der « Conférence Nationale des Élèves du Luxembourg » (CNEL). Zusätzlich würden durch Covid-19-Fälle in der Schule nicht alle Klassen mit dem vom Ministerium vorgegebenen Tempo mithalten. Der Schülervertreter fordert deshalb eine Bestandsaufnahme. „Dann könnte man überprüfen, wie weit die Klassen tatsächlich fortgeschritten sind. »
Wir wissen nicht mal, ob die Schüler zu Hause das nötige Umfeld haben, um aktiv an einem Fernunterricht teilzunehmen. »
Vicky Reichling, UNEL-Sprecherin
Während die Schulleitungen dem Ministerium meldeten, dass sie den Zeitplan einhalten, sehen sich manche Lehrer gezwungen, das Programm anzupassen. „In einem normalen Jahr ist es für uns bereits fast unmöglich, das Schulprogramm vollständig umzusetzen, dieses Jahr wird es also besonders schwierig“, sagt Yannick Glod, Geschichts- und Geografielehrer am „Lycée Hubert Clément“ im Gespräch mit Reporter.lu.
Die Voraussetzungen sind schlecht. Gerade in der Oberstufe befürchten Lehrer eine Verlängerung des A/B-Systems, also der alternierenden Präsenzpflicht. Doch mehrere Lehrer gehen davon aus, dass im Fernunterricht viel Lernstoff nicht von den Schülern aufgenommen werden kann. Vieles gehe also zurzeit verloren, was durch Präsenzunterricht aufgefangen werden könnte. Dazu zählten nicht nur Grammatikregeln oder mathematische Formeln, sondern auch soziale Interaktionen.
Notfallplan des Ministeriums steht bereit
Wie lässt sich eine Lösung finden? In Absprache mit den Schulprogrammkommissionen erstellte das Ministerium bereits im Frühjahr neue Vorgaben für ein verkürztes Programm. Die Ausschüsse definierten die wesentlichen Inhalte für ihr jeweiliges Fach. „Sollte die Lage sich nicht verbessern, können wir sicherlich wieder auf dieses Programm zurückgreifen“, versichert Lex Folscheid aus dem Ministerium. Zurzeit sei dies aber noch nicht notwendig.
Die Lehrer haben auch heute schon die Möglichkeit, weniger Wert auf die nebensächlichen Teile des Programms zu legen, erklärt Raoul Scholtes. Eine Verkürzung des Programms lehnt er allerdings ab. „Sonst vermittelt man den Schülern, die weggelassenen Teile des Programms wären unwichtig“, so der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Feduse der CGFP. Bereits im vergangenen Jahr sei dies selbst bei guten Schülern auffällig gewesen. „Da viele Schüler das Jahr bereits vor der letzten Prüfung bestanden haben und die schlechteste Note für den Durchschnitt nicht berücksichtigt wurde, haben sie den Lernstoff der letzten Wochen im Frühjahr nicht ernst genommen“, so der Gewerkschafter und Biologielehrer.
Vernachlässigte psychische Gesundheit
Indes spüren die Schüler sich zusätzlich unter Druck gesetzt, in der andauernden Krisensituation die gleiche Leistung zu erbringen. „Den Bedürfnissen der Schüler gerecht zu werden, ist wichtiger als das Schulprogramm“, betont die Schüler- und Studentenvertreterin Vicky Reichling im Gespräch mit Reporter.lu. Die Debatte um eine „verlorene Corona-Generation“ sei verkürzt, so die Sprecherin der UNEL. Die Regierung richte ihr Augenmerk ausschließlich auf das Programm anstatt auf die Bedürfnisse der Schüler: „Wir wissen nicht mal, ob die Schüler zu Hause das nötige Umfeld haben, um aktiv an einem Fernunterricht teilzunehmen.“
Mit dem Umfeld ist damit schon der benötigte Raum zum Lernen gemeint. Nicht jede Familie verfügt zu Hause über ausreichend Platz, nicht jedes Kind hat ein eigenes Zimmer oder einen Schreibtisch zur Verfügung. Auch habe nicht jedes Kind zu Hause ein sicheres Umfeld. Ein formal vollständiges Unterrichtsprogramm nütze demnach nichts, wenn nicht für alle Schüler die gleichen Bedingungen für ein Lernen zu Hause geschaffen wurden, sagt Vicky Reichling.

Zudem kritisieren die Betroffenen, dass das Ministerium nicht ausreichend auf die psychische Lage der Schüler achte. „Wir sind in dieser Zeit einem Druck ausgesetzt, den wir so nicht kennen, auch die Prüfungsangst hat zugenommen“, sagt Kimon Leners von der CNEL. Zwar soll das Gelernte aus dem „Homeschooling“ nicht prüfungsrelevant sein, aber es wird dennoch als bekannt vorausgesetzt. Für viele Schüler sei es deshalb oft schwierig nachzuvollziehen, was sie tatsächlich in der Prüfung erwarten könnte, meint Kimon Leners.
Das Ministerium ist sich auch dieser Herausforderung bewusst. Im Juni beauftragte Claude Meisch (DP) das „Centre psycho-social et d’accompagnement scolaires“, ein Weiterbildungsprogramm für Lehrer anzubieten. Dieses befindet sich zurzeit noch in Ausarbeitung. „Über die Weihnachtsferien haben wir die Hotline für Jugendliche mit psychischen Problemen personell aufgestockt“, erklärt zudem Kabinettschef Lex Folscheid.
Wider die allgemeine Unsicherheit
Wie soll es weitergehen? Was die befragten Lehrer und Schüler vor allem belastet, ist die allgemeine Unsicherheit. „Im letzten Jahr musste das Ministerium in der Not reagieren, das Provisorium dauert allerdings an“, sagt Kimon Leners. Auch Alain Massen von der Elternvereinigung hätte sich vom Ministerium einen „Masterplan“ für den Schulbeginn im September gewünscht. Das Ministerium habe etwa die Gelegenheit verpasst, eine Studie über den Fernunterricht zu erstellen.
Zwar biete die Impfung einen Lichtblick, der es erlauben würde, zum normalen Unterricht zurückzukehren, allerdings werde das nicht gleich für jeden möglich sein, hofft Alain Massen. „Es ist klar, dass bis Ende des Schuljahres Einschränkungen bleiben, dann sollte das Ministerium auch Szenarien für das restliche Jahr ausarbeiten“, sagt der studierte Psychologe.
Wir hatten anfangs Schwierigkeiten mit den Testkapazitäten für Schüler, die haben wir mittlerweile allerdings überwunden. »Lex Folscheid, Kabinettschef des Bildungsministers
„Es ist falsch, zu behaupten, dass wir keine Strategie haben“, entgegnet Lex Folscheid. In der Tat hatte der Lenkungsausschuss (comité de pilotage) des Bildungs- und Gesundheitsministeriums über den Sommer einen Stufenplan ausgearbeitet. „Wir hatten anfangs Schwierigkeiten mit den Testkapazitäten für Schüler, die haben wir mittlerweile allerdings überwunden », betont der hohe Beamte. Auch habe man den Lehrern im Laufe der Zeit mehr Material, Fortbildungen und andere Hilfen für den Fernunterricht zur Verfügung gestellt.
Bob Reuter, der Experte für digitalen Unterricht an der Universität, blickt unterdessen schon weiter in die Zukunft. Er hofft, dass die Krise bei der Lehrerschaft zu mehr Verständnis für digitale Unterrichtsmethoden geführt hat. Digitale Medien könnten später auch im Präsenzunterricht eingesetzt werden, betont Bob Reuter. „Sie sind komplementär und dienen zur Bereicherung des Unterrichts. Ein Ersatz sollte es eigentlich nie sein“, so der Universitätsdozent.
Abseits der Zukunftsperspektive geht es für die Schüler aktuell um praktische Lösungen. Psychischen Druck abbauen und den Schülern die Prüfungsangst nehmen, sei das Wichtigste, sagt der Schülervertreter Kimon Leners. „Wir sind es schließlich, die danach irgendwie das Jahr schaffen müssen. »
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