Luxemburgs Wahlsystem gilt als veraltet und kaum repräsentativ. Nach den letzten Wahlen hat Blau-Rot-Grün einen zaghaften Versuch für eine Reform unternommen. Doch einer Erneuerung der Demokratie stehen die Eigeninteressen der Parteien und Abgeordneten im Weg.

Es gehört fast zur luxemburgischen Tradition, gleich nach den Wahlen eine Reform des Wahlsystems in Aussicht zu stellen. In den Koalitionsverhandlungen konnten die Regierungsparteien sich etwa darauf einigen, im Rahmen der Verfassungsreform das Wahlsystem „einer kritischen Prüfung“ zu unterziehen. Gleich zu Beginn seines zweiten Mandats als Premierminister forderte Xavier Bettel (DP) deshalb die einzelnen Parteien auf, zu drei grundsätzlichen Fragen Stellung zu beziehen. Er wolle die Positionen „zum Doppelmandat, dem Beibehalten der vier Wahlbezirke und den Strafen bei einer Nichtbeteiligung an der Wahl“ erfahren, so der Regierungschef in einem Brief an CSV, LSAP, DP, Déi Gréng, ADR, Piraten und Déi Lénk.

Die Antworten auf das Schreiben trafen erst nach und nach im Staatsministerium ein. Als letzte hat Anfang 2020 die Premierpartei DP auf die Fragen geantwortet. Dabei wird deutlich: Die Ideen der Parteien liegen zum Teil weit auseinander. Bei den Doppelmandaten gibt es zumindest etwas Bewegungsspielraum. Für eine Reform der Wahlbezirke findet sich jedoch keine Mehrheit.

Eine Reform als Bauernopfer

Die CSV, unter Führung des damaligen Parteichefs Frank Engel, wertete den Brief des Premiers zudem als eine Infragestellung des Kompromisses über eine neue Verfassung. Um die vier Wahlbezirke zu fusionieren, wäre eine weitere Verfassungsänderung nötig, doch dafür gebe es keinen Konsens, so die Argumentation der größten Oppositionspartei. Ihr politisches Manöver nutzte die CSV aber vor allem, um das Projekt einer neuen Verfassung inklusive Referendum zu kippen. Die Reform des Wahlsystems wurde dabei zum Bauernopfer.

Auch die Regierung sieht die selbst angestoßene Debatte offenbar als gescheitert an – zumindest vorerst. Das Staatsministerium arbeitete jedenfalls bisher keinen Kompromissvorschlag aus und will nun die Verabschiedung der abgespeckten Verfassungsreform abwarten, wie es auf Nachfrage von Reporter.lu heißt.

Das Problem ist, dass jede Partei mit dem Rechenschieber die verschiedenen Szenarien durchspielt. Eine Reform hat nur eine Chance, wenn nicht klar ist, wer Gewinner oder Verlierer sein wird. »Alex Bodry, Mitglied des Staatsrats (LSAP)

Manche Abgeordnete können deshalb aufatmen. Denn kaum eine andere politische Frage kann für Parlamentarier so existenzbedrohend wirken wie eine Anpassung des Wahlsystems. Jede Reform hat das Potenzial, die Karten im Parlament völlig neu zu mischen. Dadurch könnte ein neues Wahlverfahren selbst bei unveränderten politischen Mehrheiten das Ende der parlamentarischen Karriere eines Abgeordneten bedeuten. Dies gilt vor allem für Vertreter der größten Oppositionspartei, wenn sich die Idee eines einzigen Wahlbezirks durchsetzen sollte.

Für die CSV könnte diese Reform an die Substanz gehen. Durch die Einteilung in vier Wahlbezirke konnte die Partei im Norden und Osten bei den letzten Parlamentswahlen zwei Restsitze ergattern. Gäbe es nur einen Wahlbezirk ohne sonstige Änderungen des Wahlsystems, würde die Partei vier und die DP einen Sitz verlieren. Dafür würden Déi Lénk, LSAP und ADR einen und die Piraten sogar zwei zusätzliche Sitze gewinnen.

Nach der aktuellen Berechnungsmethode stehe durch die Abschaffung der Wahlbezirke demnach für die CSV viel auf dem Spiel. In ihrem Brief stellten die Christsozialen demnach klar, an einer „politischen Vertretung der Regionen“ festzuhalten. Wie diese genau aussehen sollte, konnte oder wollte die Co-Fraktionsvorsitzende der CSV auf Nachfrage nicht sagen. Man werde eine konkrete Position ausarbeiten, wenn eine Reform öffentlich diskutiert werde. „Wir pochen nicht darauf, das System zu ändern, verschließen uns aber auch nicht einer Diskussion“, so Martine Hansen.

Die Großen könnten gewinnen

Innovativere Lösungen, wie etwa die Einteilung des Landes in sieben Wahlbezirke, fasste keine Partei ins Auge. Für eine solche Lösung plädierte der Publizist Henri Schmit in seinem Buch « Comment réformer le système électoral? ». Um einer zu starken Bevorteilung der größeren Parteien entgegenzuwirken, dränge sich eine Einteilung des Landes in gleichgroße Wahlbezirke auf. Zusätzlich sollte man die Berechnungsmethode für die Sitzverteilung anpassen, so Henri Schmit.

Gewinner dieser Reform wären Piraten und ADR, Verlierer vor allem Déi Lénk, CSV und Déi Gréng. Zusätzlich zur Einteilung in sieben Wahlbezirke fordert der Autor, als Grundlage für die Berechnung von Sitzen pro Bezirk die Anzahl der Wahlberechtigten und nicht jene der Bevölkerung zu nehmen. Auch das wäre ein entscheidender Unterschied.

Dass Luxemburgs Wahlsystem reformbedürftig ist, sehen alle Parteien ein. Bisher fehlt in diesem Punkt aber offensichtlich der Wille zu einer grundlegenden demokratischen Erneuerung. (Foto: Europäische Union 2019)

Bei der letzten Reform von 1988 zählte das Land noch rund 375.000 Einwohner. In den vergangenen 30 Jahren ist die Bevölkerung hingegen erstaunlich gleichmäßig gewachsen. Im Schnitt repräsentierte ein Abgeordneter Ende der 1980er Jahre rund 6.400 Einwohner, mittlerweile sind es etwa 10.600. Die Abweichung zwischen den verschiedenen Wahlbezirken betrug damals wie heute höchstens sechs Prozent.

„Wir hielten damals fest, die Gewichtung zu überdenken, sollten die Zahlen zu weit voneinander abweichen“, sagt Alex Bodry (LSAP) im Gespräch mit Reporter.lu. Bodry stimmte der Änderung 1988 als Abgeordneter zu und verfasste als Fraktionsvorsitzender 2019 die Antwort der Sozialisten auf Xavier Bettels Brief.

Stimmen mit unterschiedlichem Gewicht

Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Zahl der Wahlberechtigten. Ein Abgeordneter des Nordens vertrat bereits 1991 etwa ein Drittel mehr Wähler als ein Zentrumsabgeordneter. Inzwischen sind es gar 50 Prozent mehr. Auch die ADR forderte deshalb 2013, die Wahlbezirke neu zu gewichten. Das Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger werde vom aktuellen Gesetz nicht berücksichtigt, so das Argument. Ausschlaggebend sollte die Zahl der Wahlberechtigten und nicht der Bevölkerung sein. Somit würden alle Bezirke zuungunsten des Zentrums zusätzliche Sitze gewinnen.

Die Wählerschaft steht nicht mehr im Verhältnis zur luxemburgischen Gesellschaft. Dass eine Mehrheit der Bevölkerung kein Wahlrecht besitzt, bleibt das größte Problem in Luxemburg. »Philippe Poirier, Politikwissenschaftler

Der gescheiterte ADR-Kandidat im Ostbezirk, Robert Mehlen, klagte deshalb im Februar 2019 vor dem Bezirksgericht Luxemburg und forderte Schadenersatz in Höhe von 480.000 Euro. Das entspräche dem Gehalt eines Abgeordneten für fünf Jahre, also dem Gehalt, das ihm entging, weil er knapp ein Mandat verfehlte. Im Mai 2021 hielt der Verfassungshof auf Anfrage des Bezirksgerichts fest, dass das Parlament laut Verfassung die Gewichtung frei festlegen könne. Damit droht die Klage nun zu scheitern.

Trotzdem teilen nicht alle Parteien diese Einschätzung. „Ein einziger Wahlbezirk führt zu einer Gleichbehandlung aller Wähler, dies sowohl in Bezug auf das Gewicht ihrer Stimmen als auch auf die Liste der Kandidaten“, schreiben etwa Déi Gréng in ihrer Antwort an den Staatsminister. Mit anderen Worten: Das aktuelle System sei ungerecht.

Zu dieser Schlussfolgerung kann man aber auch aus einem anderen Grund gelangen. « Die Wählerschaft steht nicht mehr im Verhältnis zur luxemburgischen Gesellschaft. Dass eine Mehrheit der Bevölkerung kein Wahlrecht besitzt, bleibt das größte Problem in Luxemburg », sagt der Politologe Philippe Poirier. Zwar hätten die Luxemburger dem Ausländerwahlrecht 2015 per Referendum eine Absage erteilt. Doch das ändere nichts am anhaltenden Demokratiedefizit, so der Inhaber des Lehrstuhls für parlamentarische Studien an der Universität Luxemburg.

Eine Frage der Partikularinteressen

Auch wenn das Wahlrecht für Kommunal- und Europawahlen ausgeweitet werden soll, gilt eine diesbezügliche Reform für die Legislativwahlen in naher Zukunft als ausgeschlossen. Während die Einführung eines Ausländerwahlrechts am 2015 ausgedrückten Willen der Wähler scheiterte, werden andere Reformen wohl aufgrund der Partikularinteressen der Parteien fehlschlagen.

Wie sehr es den Abgeordneten bei einer Reform des Wahlsystems um ihre eigenen Interessen geht, zeigt allerdings nicht nur der Fall Robert Mehlen. Die DP schlägt in ihrer Stellungnahme eine leichte Überarbeitung des Wahlsystems vor, die auf die aktuelle Lage der Liberalen zugeschnitten scheint. Sie fordern nämlich das Beibehalten der Wahlkreise mit der Eigenart, dass eine Spitzenkandidatin oder ein Spitzenkandidat landesweit gewählt werden kann.

Die Maßnahme scheint nicht nur für die Premierpartei populär. Bereits mehrmals hätten die Wähler in den Umfragen nach den Wahlen den Wunsch geäußert, auch in ihrem Wahlbezirk für den nationalen Spitzenkandidaten abstimmen zu können, so Philippe Poirier. Für die Partei mit dem Premier und aktuell drittbeliebtesten Politiker des Landes könnte diese Änderung gleich mehrere Sitzgewinne bedeuten.

Alle Parteien formulieren in der Debatte ihre Partikularinteressen, doch sie vereint die Sorge vor dem Machtverlust nach einer Wahlrechtsreform. (Foto: Chambre des Députés)

Die Forderung nach einem einzigen Wahlbezirk findet sich denn auch in den meisten Briefen der kleineren Parteien wieder, die davon womöglich elektoral profitieren könnten. Nur die LSAP setzt sich für eine Mischform ein, ohne zu erklären, wie diese aussehen könnte. Eine parteiinterne Arbeitsgruppe sollte eigentlich einen eigenen Vorschlag unterbreiten, doch die Arbeiten seien noch immer nicht abgeschlossen, erklärt Parteipräsident Yves Cruchten auf Nachfrage von Reporter.lu.

„Das Problem ist, dass jede Partei mit dem Rechenschieber die verschiedenen Szenarien durchspielt. Eine Reform hat nur eine Chance, wenn nicht klar ist, wer Gewinner oder Verlierer sein wird“, sagt Alex Bodry. Doch die Wahlrechtsreformen des letzten Jahrhunderts zeigen auch, dass es unmöglich vorauszusagen ist, wem die Reform nutzt. « Die Liberalen setzten sich etwa für das Panaschieren ein, Gewinner der Reform war aber die Rechtspartei. Als das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre reduziert wurde, fürchtete die CSV, in der Wählergunst zu verlieren. Letztlich hat sich im Ergebnis jedoch nichts geändert », erklärt Philippe Poirier. Dennoch hat sich die Einteilung in potenzielle Gewinner und Verlierer in den Parteien gefestigt.

Klare Mehrheit für Mandatstrennung

Selbst bei dem immer wiederkehrenden Thema der Doppelmandate sind die Eigeninteressen klar erkennbar. Die Parteien wollen unter verschiedenen Bedingungen eine Trennung der Mandate von Abgeordneten und Bürgermeistern oder Schöffen. Die CSV spricht sich etwa „im Prinzip“ gegen das Doppelmandat aus. Im Gegenzug sollen die Lokalpolitiker gestärkt werden. In ihrem Wahlprogramm forderten die Christsozialen 2018 etwa die Schaffung einer Berufskammer für Bürgermeister, die zu allen Anliegen bezüglich der Kommunalpolitik Position beziehen soll. Zudem solle die Territorialreform mit verstärkten Gemeindefusionen gleichzeitig angegangen werden.

Eine ähnliche Forderung findet sich auch in der achtseitigen Antwort der Grünen wieder. Allerdings schlägt die Regierungspartei zusätzlich eine Gleichbehandlung von Abgeordneten und kommunalen Mandatsträgern hinsichtlich des politischen Urlaubs vor, um anschließend eine vollständige Freistellung für Abgeordnete zu fordern. Die gleichzeitige Ausübung eines Berufs sei eine „Quelle für potenzielle Interessenskonflikte“, so Déi Gréng. Auch die LSAP will das Mandat von Abgeordneten als Vollzeitberuf einstufen, somit wäre ein Doppelmandat nicht mehr möglich.

ADR und Déi Lénk sprechen sich gar für eine klare Trennung beider Mandate aus, ohne jegliche Gegenleistung. Lediglich die Piraten halten an den Doppelmandaten fest, solange der politische Urlaub nicht mehr als 40 Stunden wöchentlich beträgt. Somit wären Bürgermeister und Schöffen der zehn größten Gemeinden ausgenommen, andere könnten aber weiterhin beide Mandate ausüben.

Liberale Auslegung des Doppelmandats

Obwohl die DP sich mit ihrer Antwort ausreichend Zeit ließ, ignorierte sie schlicht das Thema der Doppelmandate. Die DP hadert schon lange mit dieser Frage. In ihrem Wahlprogramm forderte die Partei die Einführung eines Vollzeitmandats für Bürgermeister von größeren Gemeinden. „Erst dann könne zusammen mit den anderen Parteien über eine mögliche Abschaffung von den Doppelmandaten entschieden werden“, heißt es dort. Damit ist sie eigentlich auf einer Linie mit ihren beiden Koalitionspartnern.

Für die Beantwortung der Fragen des Premierministers richtete die Partei eine Arbeitsgruppe ein, die erst ein Jahr später eine Position ausgearbeitet hat. Umso erstaunlicher ist es, dass eine von drei Fragen ausgeblendet wurde. „Das liegt eher daran, dass die Position der DP in dieser Frage seit jeher bekannt ist und sich nicht verändert hat“, sagt der frühere DP-Fraktionssekretär und kommende Kabinettschef von Premierminister Xavier Bettel, Jeff Feller.

Entweder wir werden uns kurzfristig einig oder wir diskutieren in fünf Jahren wieder über ein ähnliches Problem. »
Gilles Roth, Député-Maire (CSV)

Auch 2013 forderte die Partei in ihrem Wahlprogramm bereits die volle Freistellung von Bürgermeistern und in einem zweiten Schritt die Abschaffung des Doppelmandats. Doch innerhalb der Partei ist die Position umstritten. „Es ist äußerst wichtig, dass Menschen, die die Situation vor Ort kennen, im Parlament vertreten sind“, sagte Lydie Polfer etwa Anfang des Jahres im Gespräch mit Reporter.lu. Als Bürgermeisterin von Luxemburg-Stadt, der größten Gemeinde des Landes, hat sie bereits jetzt ein Vollzeitmandat und will trotzdem an ihrem Abgeordnetenmandat festhalten.

Nicht nur Lydie Polfer tut sich mit der Frage schwer. „Wenn nur Schöffen und Bürgermeister nicht gleichzeitig ein Abgeordnetenmandat ausführen dürfen, sitzt danach die kommunale Opposition im Parlament. Das ist auch schwer zu rechtfertigen“, sagt Simone Asselborn-Bintz, LSAP-Abgeordnete und Bürgermeisterin der Gemeinde Sassenheim, im Gespräch mit Reporter.lu. Nach außen zeigen die Parteien sich demnach offen für eine Reform, doch die Begeisterung bei den Mandatsträgern selbst hält sich in Grenzen.

Parlamentarische Debatte steht aus

Die Interessen der einen sind demnach mit denen der anderen unvereinbar. Durch die geringen Schnittmengen zwischen den Positionen ließ das Staatsministerium das Projekt einer größeren Reform fallen. Im parlamentarischen Verfassungsausschuss war die Reform seit der Vorstellung des Koalitionsabkommens auch kein Thema mehr. Man habe sich mit den Parteien darauf geeinigt, nach der Verfassungsreform über die Möglichkeiten einer Wahlrechtsreform im Parlament zu diskutieren, heißt es aus dem Ministerium von Xavier Bettel.

In der Verfassungsreform wird die Möglichkeit einer weiteren Änderung jedoch bereits angedeutet. Die Bestimmungen über das Wahlsystem und die vier Wahlbezirke würden „vorerst“ unverändert bleiben, heißt es in der Begründung der Reform. Die verschiedenen Kapitel sollen wohl noch vor Ende des Jahres verabschiedet werden. Damit bliebe dem Parlament noch weniger als zwei Jahre, um das heikle Thema noch vor den kommenden Parlamentswahlen 2023 anzugehen. Angesichts der schwierigen Ausgangslage wird die Zeit jedoch knapp.

„Entweder wir werden uns kurzfristig einig oder wir diskutieren in fünf Jahren wieder über ein ähnliches Problem“, sagte Gilles Roth (CSV) kurz nach den Wahlen 2018 im Interview mit „Radio 100,7“. Vermutlich wird der Député-Maire aus Mamer Recht behalten. So kann die luxemburgische Tradition auch nach den nächsten Legislativwahlen im Jahr 2023 ein weiteres Mal fortgeführt werden.