Selbstbewusst, eigenwillig, mitunter unberechenbar: Pierre Gramegna bleibt sich auch bei seinem Rücktritt treu. Mit ihm verlässt ein Politiker die große Bühne, der eigentlich nie Politiker sein wollte – und der nicht nur in diesem Punkt an den eigenen Ansprüchen scheiterte. Ein Porträt.
« Luxemburg ist eine sozial gerechte Gesellschaft und eine Perle auf dem Planeten. Passen Sie gut auf unser Land auf. » Der Abschlusssatz in Pierre Gramegnas letzter Budgetrede war nicht nur an die Abgeordneten gerichtet; er verrät auch einiges über das Politik- und Selbstverständnis des Sprechers. Das Bild, das der scheidende Finanzminister gerne von sich selbst in die Geschichtsbücher zeichnen würde, ist ebenso simpel wie einseitig: Er hat das Land durch schwierige Gewässer geführt. Das müssen ihm seine Nachfolger erst einmal nachmachen.
Dass für Pierre Gramegna die Lage des Landes nahezu gleichbedeutend mit jener der Staatsfinanzen ist, gehört dabei auch zu den Kontinuitäten seiner politischen Karriere. « Wenn es den Finanzen gut geht, dann geht es auch dem Land gut », sagte der Mann, der seit über acht Jahren dem Finanzministerium vorsteht, in der gleichen Rede. Und obwohl Gramegna erst 2013 mit dem Eintritt in die Regierung DP-Mitglied wurde, hat er die Quintessenz des modernen Luxemburger Liberalismus wie kaum ein anderer verkörpert. Auf den Punkt gebracht lautet sie: Im Vergleich mit dem Rest der Welt geht es uns doch gut, also lasst uns nicht über mögliche Fehlentwicklungen lamentieren.
Zwischen Realpolitik und Opportunismus
Im Rückblick auf Gramegnas Amtszeit lässt sich jedoch feststellen, dass eine seiner großen Stärken seine Anpassungsfähigkeit ist. Man könnte es aber auch Opportunismus nennen. Bevor er Minister wurde, zeigte der heute 63-Jährige nämlich noch eine klare marktwirtschaftliche Kante. Im Oktober 2013, also wenige Wochen vor seiner Berufung zum Minister, hatte der damalige Generaldirektor der Handelskammer ein Konzept zur Reform des Luxemburger Sozialstaats vorgestellt. Die Stoßrichtung: Durch « sozial selektive » Maßnahmen ließen sich beim damaligen RMG, bei den Studien- und Wohnungsbeihilfen, beim Kindergeld und auch bei den Renten « mehrere Hundert Millionen Euro » einsparen.
Die Grundüberzeugung, wonach der Staat sparen müsse, behielt der frühere Arbeitgebervertreter zwar bei. Doch sollte seine Politik bald schon durch weitaus pragmatischere Maßnahmen geprägt sein. Das Gros der blau-rot-grünen Haushaltssanierung wurde über Steuererhöhungen vollbracht und Pierre Gramegna konnte sich schon bald als Verfechter einer « sozial-liberalen » Politik inszenieren. Seine ehemaligen ideologischen Reflexe schimmerten nur noch bei einer Frage durch: bei seinem fast schon obsessiven Bestreben nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt.
Wenn man ihm in den vergangenen Jahren genau zuhörte, so ging es Gramegna oft weniger um die harte Realität als um deren Anschein und öffentliche Darstellung – weniger um Politik als um PR. »
Doch auch in diesem Punkt passte sich Gramegna schon bald an die herrschende Realpolitik an. Nachdem ab 2014 die Konjunktur wieder anzog und die Konsolidierungspolitik des « Zukunftspak » überflüssig machte, schaltete er vollends in den Modus des Realpolitikers. Wollte er zu Beginn seiner Amtszeit noch als rigider Kassenwart glänzen, wird er nun als jener Finanzminister in die Geschichte eingehen, der sowohl die staatlichen Investitionen als auch die öffentliche Schuld in Rekordhöhen trieb. Und dieser Befund galt auch schon vor Beginn der Coronakrise.
Auf europäischer Ebene trat Gramegna von Beginn an als diplomatischer Moderator auf. So suchte er stets Kompromisse zwischen den Anhängern einer konservativen Fiskalpolitik und den Befürwortern einer Vergemeinschaftung von Schulden. Ausgerechnet in dieser Rolle musste Luxemburgs Finanzminister aber seine klarste und wohl schmerzhafteste Niederlage einstecken. Gleich zweimal scheiterte der DP-Politiker bei seinem Bestreben, Präsident der Eurogruppe zu werden. Bei seinem zweiten Versuch erhielt er lediglich drei (seine eigene inklusive) von 19 Stimmen aus dem Kreise seiner Amtskollegen.
Politische Erfolge und Errungenschaften
In einem Punkt hat er jedoch die Erwartungen seiner schärfsten Kritiker übertroffen: Pierre Gramegna hat bewiesen, dass er durchaus das Format zum Finanzminister hat – eine Erkenntnis, die nur im Rückblick wie eine Banalität erscheint. Bei seinem Amtsantritt gab es nämlich mehrere Stimmen, die an seiner Eignung für dieses Schlüsselressort zweifelten. Und unvergessen sind auch die Spannungen zwischen dem neuen Minister und mehreren hohen Beamten in der Rue de la Congrégation.
Nach und nach fand sich der ehemalige Botschafter jedoch in seinem ersten politischen Amt zurecht. Er streifte das ihm anfangs zugeschriebene Technokraten-Image ab, umgab sich mit loyalen Mitstreitern und stellte sein Haus komplett neu auf. Zu seinen Errungenschaften gehört denn auch, dass er das chronisch unterbesetzte Finanzministerium, insbesondere die Steuerverwaltung, personell konsequent aufstockte.

Pierre Gramegna war zudem ein Garant für die relativ reibungslose Umsetzung der großen Steuerreform der vergangenen Legislaturperiode. Wie es aus allen Koalitionsparteien heißt, sei der Minister bei Verhandlungen zudem meistens als konstruktiver und verlässlicher Vermittler aufgetreten. Nach einer längeren Eingewöhnungsphase hat er das politische Spiel nicht nur verstanden, sondern fand Gefallen daran. So rieb er sich in internen Sitzungen immer wieder an den roten und grünen Koalitionspartnern, nur um am Ende einer Diskussion als großer Kompromissmacher aufzutrumpfen.
Ein Politiker mit Vorliebe zur großen Spur
Mehrere Insider des politischen Betriebs betonen aber fast unisono, dass es auch eine Kehrseite des Politikers Pierre Gramegna gab. Denn Bescheidenheit gehört nicht unbedingt zu seinen Stärken. Vielmehr hat er einen ausgeprägten Hang für gewagte, ja zum Teil großspurige Aussagen. In Erinnerung bleibt etwa seine, im Parlament und in den Medien belächelte Ankündigung einer « kopernikanischen Wende » bei der Reform der Budgetmethode. Die Maßnahmen der Koalition in diesem Bereich standen jedoch nie im Verhältnis zu den revolutionären Worten des Ministers.
Ein weiteres Beispiel: Pierre Gramegna behauptete einst, die Steuerreform von 2017 sei die « gerechteste Steuerreform, die je gemacht wurde » – allein deshalb, weil sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen entlastet wurden. Und schließlich wird man sich auch an Gramegnas historisch zweifelhafte Aussage erinnern, als er die Luxleaks-Enthüllungen als « Attacke
gegen unser Land, wie es noch nie eine in unserer Geschichte gab » bezeichnete.
Das Image des Landes, sein eigenes Image und – nicht zu vergessen – der konstante Vergleich mit dem Ausland sind für Gramegna die wahren Maßstäbe guter Politik. »
Zu seiner Vorliebe für fragwürdige Ankündigungen passt auch sein angespanntes Verhältnis zu den Medien. Die Presseabteilung seines Ministeriums verstand sich bei Informationsanfragen oft – und oft genug erfolgreich – als Verhinderungsinstanz. Ansatzweise kritische Fragen von Journalisten empfand der Finanzminister mitunter als latente Majestätsbeleidigung. Er regte sich auch schon einmal darüber auf, dass nach einer Parlamentssitzung zuerst die Oppositionsvertreter interviewt wurden und er als Minister warten musste. Unvergessen ist zudem sein Auftritt nach den Luxleaks-Enthüllungen, als ihm nach wiederholtem Nachfragen einer Journalistin der Kragen platzte.
Seitdem mied Gramegna jegliche Interviews oder Situationen, in denen er oder seine Berater nicht Herren der Lage blieben. Stark waren seine Mitarbeiter stets in der wortreichen Lobpreisung der Politik ihres Dienstherrn. Doch bei kritischeren Dossiers gingen Gramegna und sein Ministerium auf Tauchstation. Je stärker es um die politische Substanz ging, desto mehr ließ der Finanzminister stichhaltige Erklärungen oder belastbares Zahlenmaterial zur Untermauerung seiner Politik vermissen.
Sein gespaltenes Verhältnis zu Journalisten ist aber nur eine Folge davon. Vielmehr blieben während seiner Amtszeit bei fundamentalen politischen Fragen auch die Bürgerinnen und Bürger außen vor. Wie wirken sich die rezent unternommenen Schritte zur internationalen Steuerharmonisierung konkret auf Luxemburgs Wirtschaft aus? Was bewirken seine Steckenpferde « Fintech » oder « nachhaltige Finanzen » konkret? Was unternimmt der Staat gegen systematischen Steuerbetrug wie die Cum-Ex-Deals? Das sind nicht nur Fragen, die Journalisten interessieren, sie betreffen auch die Rechenschaftspflicht gegenüber der gesamten Öffentlichkeit.
Streben nach Transparenz und andere Mantras
Ebenso wie Gramegna sein eigenes Image am Herzen liegt, setzte er sich aber auch für einen besseren Ruf des Landes ein. Dabei führte der Finanzminister stets einen ambivalenten Diskurs, wonach Luxemburg sein Geschäftsmodell verändern müsse, aber nicht allein an den Pranger gestellt werden dürfe. Am Ende gelang es ihm jedoch, dass das Großherzogtum zumindest punktuell und glaubwürdiger als zuvor seine Blockade in internationalen Steuerfragen aufgab. Dabei blieb er paradoxerweise nicht immer seinem Mantra des « Level playing field », also der globalen Gleichbehandlung als Voraussetzung für Luxemburger Zugeständnisse, treu.
Luxemburg mache nichts Illegales, lautete ein weiteres Mantra des Ministers. Und doch räumte Gramegna offener als andere Verantwortliche ein, dass die Praxis aggressiver Steueroptimierung für Unternehmen keine allzu moralische Grundlage des Luxemburger Geschäftsmodells sei. « Eine Politik, die mit sich bringt, dass Unternehmen nirgends fast keine Steuern zahlen, finden wir als Luxemburger Regierung nicht gut », sagte der Finanzminister am Tag der Luxleaks-Enthüllungen. Und auch wenn er sich « Luxleaks lieber erspart » hätte, wie er 2018 im Gespräch mit Reporter.lu sagte, habe dieser Skandal letztlich dazu beigetragen, dass die Politik den konstruktiven Weg, der schon 2013 mit der Aufgabe des Bankgeheimnisses begonnen wurde, weiter verfolgte.

Wie der geborene Escher dabei seine eigene Rolle sieht, brachte kürzlich das Magazin « Paperjam » auf den Punkt. « Gramegna: l’homme de la transparence », hieß es dort in einem eher wohlwollenden Porträt des scheidenden Finanzministers. Allerdings gilt auch in diesem Politikbereich, dass Gramegnas rhetorischer Anspruch und die nüchterne politische Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge sind. Denn das Grundproblem bleibt auch nach Gramegnas Amtszeit bestehen: Luxemburg ist nach wie vor ökonomisch, finanziell und sozial extrem auf seinen boomenden Finanzplatz angewiesen. Die Tage, an denen Luxemburg aktiv und hemmungslos zur globalen Steuervermeidung beitrug, sind vielleicht vorbei. Doch die Abhängigkeit von steuerpolitischen Souveränitätsnischen, die den Wohlstand des Landes antreiben, ist nicht überwunden.
Dass ein Minister die Grundlage des Geschäftsmodells eines Landes ändern könnte, ist aber ohnehin vielleicht etwas zu viel verlangt. Und darum ging es dem baldigen politischen Frührentner auch nicht. Wenn man ihm in den vergangenen Jahren genau zuhörte, so geht es Gramegna ohnehin oft weniger um die harte Realität als um deren Anschein und öffentliche Darstellung – weniger um Politik als um PR. So zählte der Minister in seiner letzten Budgetrede neben dem « Triple A », der « hohen Investitionspolitik » und dem « gratis öffentlichen Transport » den « verbesserten Ruf unseres Landes und unseres Finanzplatzes » zu seinen größten Erfolgen. Das Image des Landes, sein eigenes Image und – nicht zu vergessen – der konstante Vergleich mit dem Ausland sind für Gramegna die wahren Maßstäbe guter Politik.
Einmal Botschafter, immer Botschafter
Pierre Gramegnas Politikverständnis ist laut Weggefährten denn auch stark durch seine Biografie geprägt. In den 1980er Jahren trat er in den diplomatischen Dienst ein. Seine Karriere führte ihn nach Paris und San Francisco, und schließlich als Botschafter nach Japan. Der Minister habe oft von dieser Zeit erzählt und geschwärmt, heißt es von aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern. Es sei demnach auch kein Wunder, dass er sich als Minister stets wohler auf dem internationalen Parkett gefühlt habe als zu Hause.
Und auch seine Zurückhaltung, wenn es darum geht, der Öffentlichkeit Rechenschaft über seine Arbeit abzulegen, dürfte durch seine lange Erfahrung als Diplomat erklärbar sein. Die politische Balance und die öffentliche Meinung seien sicherlich eine « Lernkurve » gewesen, gab Pierre Gramegna schon vor den vergangenen Wahlen im Gespräch mit der « Luxembourg Times » zu. « Als Diplomat gehört es etwa nicht zu den Prioritäten, sich zu überlegen, wie man die Öffentlichkeit überzeugt. » Besonders an dieser Stelle darf man gespannt sein, inwiefern die neue Finanzministerin Yuriko Backes (DP), ebenso eine ehemalige Berufsdiplomatin, von den Versäumnissen ihres Vorgängers lernen kann.

Was den Ausschlag für seinen Rücktritt gab, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. War es die immer noch herausfordernde « Lernkurve »? Oder waren es eher die Anforderungen der Pandemiebewältigung? Der Frage seines Rücktrittsgrundes ist Pierre Gramegna bisher erfolgreich ausgewichen. Er wolle mehr Zeit mit seiner Familie verbringen, zumal er erstmals Großvater werde, sagte der Minister zwar Anfang Dezember im « RTL »-Interview. Warum tritt er gerade jetzt zurück? Darauf gab der baldige Ex-Minister keine Antwort.
Abruptes Ende einer überraschenden Karriere
Dabei hat der Zeitpunkt selbst manche Kabinettskollegen und dem Vernehmen nach auch Spitzenbeamte im Finanzministerium überrascht. Ein politischer Mitstreiter spricht gar von einer « Kurzschlusshandlung », die vom angekündigten Rücktritt der zwei LSAP-Minister Dan Kersch und Romain Schneider ausgelöst worden sei. Andererseits erinnert sich manch einer von Gramegnas Weggefährten aber auch daran, dass der Minister zumindest von der Sorge vor gesundheitlichen Beschwerden berichtete. Und dass es auch noch wichtigere Dinge gebe als Politik und einen ausgeglichenen Staatshaushalt.
Als Kopernikus der Luxemburger Politik wird Pierre Gramegna nicht in die Geschichte eingehen. Aber das hat außer ihm selbst wohl auch niemand erwartet. »
Wie es aus Koalitionskreisen heißt, weilte Gramegna denn auch schon während seiner Amtszeit, wann immer er konnte, in seiner zweiten Heimat, der südlichen Toskana. Dort, fern von der sozial gerechten Triple-A-Perle des Planeten, soll denn auch künftig sein ganz persönliches « Level playing field » stattfinden. Er wolle « von nachhaltigen Finanzen zu nachhaltiger Landwirtschaft » wechseln, verriet Pierre Gramegna Anfang 2021 im Interview mit « Delano ». « Ich will Olivenbäume anbauen und Wein herstellen. » Allerdings war damals mit dem Jahre 2031 noch von einem ganz anderen Zeithorizont die Rede.
Bis zur nächsten Olivenernte dürfte dem imagebewussten Politiker aber viel an seinem politischen Vermächtnis liegen. Seine Bilanz fällt durchaus gemischt aus und sie wird notgedrungen durch die andauernde Coronakrise verklärt. Doch auch sein abrupter Abgang dürfte im Rückblick den Eindruck einer unvollkommenen Aufgabe verfestigen. Einerseits wurden alle hehren Ziele, die er beim Amtsantritt hatte, verfehlt. Andererseits passte Gramegna sich an die Gegebenheiten an und wurde für seine Partei zum politischen Schwergewicht. Eines steht indes fest: Als Kopernikus der Luxemburger Politik wird Pierre Gramegna nicht in die Geschichte eingehen. Aber das hat außer ihm selbst wohl auch niemand erwartet.




