Erst die Pandemie, jetzt der Krieg in der Ukraine: Junge Menschen sind mit Krisen konfrontiert, die ihr Leben und ihr Denken entscheidend beeinflussen. Das kann das politische Bewusstsein stärken. Doch die Chancen zur Teilhabe sind noch immer nicht gleich verteilt.
Wird sich die europäische Landkarte verändern? Durchkreuzt der Krieg in der Ukraine den Kampf gegen den Klimawandel? Wie wird die EU die russische Bevölkerung unterstützen, die sich gegen Putin und den Krieg auflehnt? Warum ist der politische Wille, zu helfen, jetzt um so viel stärker als bei Flüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan? Gehört der Krieg wieder zum Alltag in Europa?
Es ist durchaus möglich, dass Roberta Metsola von den Schülerinnen und Schülern des Athénée stärker beeindruckt war als von ihrem Austausch in der Abgeordnetenkammer einige Stunden zuvor. Am Rande ihres offiziellen Besuchs in Luxemburg vergangene Woche stellte sich die Präsidentin des Europäischen Parlaments eine Stunde lang den vielen Fragen sehr interessierter, gut informierter und zum Teil auch politisch ambitionierter Jugendlicher.
Bei ihrer Frage, wer von ihnen sich denn vorstellen könne, sich europapolitisch zu engagieren, gingen mehr als die Hälfte der Arme der etwa 60 Schülerinnen und Schüler nach oben. Diese untermauerten ihre Wortbeiträge mit Zitaten, bezogen sich auf Gesetzestexte und EU-Verträge, benutzten geopolitische Fachbegriffe und formulierten ihre Fragen an die Parlamentspräsidentin in höflichem, aber bestimmtem Englisch.
Ungleiche Bildungschancen
Die Schülerinnen und Schüler des Athénée – viele von ihnen in Debattierclubs oder als « Botschafter » des Europäischen Parlaments aktiv – stehen natürlich nicht stellvertretend für eine gesamte Generation. Sie sind eher ein Beispiel dafür, welches Umfeld und welche Ressourcen dazu beitragen, damit sich politisches Bewusstsein bei jungen Menschen besonders gut entwickeln kann.
Selbst Ungleichheiten erfahren zu haben, ist noch lange kein Motivationsgrund, sich politisch zu engagieren. Ganz im Gegenteil. »Christiane Meyers, Universität Luxemburg
In der Tat bestätigen Studien und Umfragen, dass sich soziale Ungleichheit, der Ausschluss von Wahlen – sei es durch Nationalität oder durch Alter – sowie unterschiedliche, sich meist durch sprachliche Kompetenzen entscheidende Bildungschancen direkt auf die Entwicklung von politischem Bewusstsein und das Niveau politischer Bildung auswirken. „Sozialer Status und Bildungsniveau, das Engagement der Eltern in Politik und Gesellschaft sowie ihre Identifikation mit der repräsentativen Demokratie haben Einfluss auf das politische Bewusstsein von Kindern und Jugendlichen“, sagt Helmut Willems, Professor für allgemeine und Jugendsoziologie an der Universität Luxemburg, im Gespräch mit Reporter.lu.
„Selbst Ungleichheiten erfahren zu haben, ist noch lange kein Motivationsgrund, sich politisch zu engagieren. Ganz im Gegenteil“, stellt Christiane Meyers, Expertin für politische und soziale Partizipation von Jugendlichen an der Universität Luxemburg, fest. Der Jugendbericht von 2015, an dem Christiane Meyers und Helmut Willems mitwirkten und der sich mit der Übergangsphase vom Jugend- ins Erwachsenenalter beschäftigt, präsentierte in diesem Zusammenhang durchaus desaströse Ergebnisse.
„Auffallend sind das geringe politische Interesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ausländischer Nationalität sowie deren geringere gesellschaftliche und politische Beteiligung. Aus der starken Integrationskraft eines freiwilligen Engagements ziehen junge Menschen mit Migrationshintergrund somit nur selten Nutzen“, heißt es in dem Bericht.
Fehlende Partizipationskultur
Eine Erkenntnis der Forschung lautet: Die Schulen gestalten die Entwicklung zu autonomen und engagierten Bürgerinnen und Bürgern nicht hinreichend mit. Rezente Bemühungen, die außerschulische Bildung zu stärken, wie die Gründung des Zentrums für politische Bildung oder die verstärkte Unterstützung von Vereinen und Jugendhäusern, können als direkte Reaktion darauf verstanden werden.
„Was uns fehlt, ist eine Partizipationskultur“, sagt Christiane Meyers. Abgesehen von einigen Ausnahmen seien viele Schulen heute weiterhin durch „starre Machtstrukturen“ gekennzeichnet, die Kinder und Jugendliche daran hinderten, mitzureden und ihre Meinung zu formulieren, geschweige denn mitzuentscheiden. „Erwachsene glauben häufig, Kinder hätten diese Kompetenzen noch nicht. Dabei lassen sich demokratische Schritte von klein auf lernen“, so die Forscherin im Gespräch mit Reporter.lu.

Der Krieg in der Ukraine hat gerade auch bei Kindern und Jugendlichen ein besonderes Interesse ausgelöst. Viele Schulen organisieren Spendenaktionen, dadurch lernen bereits Schulkinder, dass ihr Handeln direkten Einfluss haben kann. „Selbstwirksamkeit und Teilhabe sind wichtige Motoren in der Entwicklung politischen Bewusstseins“, sagt Christiane Meyers.
Dieses Engagement kann ein Auftakt sein, der das politische Bewusstsein nachhaltig beeinflusst. Allerdings sind sich Forscher und Experten auch darin einig, dass diese Welle der Solidarität schnell erlöschen kann, bekommen Kinder und Jugendliche für ihre Fragen und ihr Handeln nicht den nötigen Raum.
Das Zentrum für politische Bildung hat zur Unterstützung von Lehrenden, Eltern und pädagogischem Fachpersonal Informationsmaterial zum Krieg in der Ukraine zusammengestellt und auf der Webseite des Zentrums veröffentlicht. „Es hängt nun vom Engagement des Einzelnen ab, wie viel Raum dem Thema gegeben wird, wie ernst genommen sich die Kinder und Jugendlichen in ihrem Interesse fühlen und wie bewusstseinsbildend einzelne Aktionen tatsächlich wirken werden“, meint der Direktor des Zentrums, Marc Schoentgen, im Gespräch mit Reporter.lu.
Werteverschiebung bei der Jugend
Montagnachmittag in einer Oberstufenklasse des Lycée Vauban. Lionel Metzler unterrichtet „Education morale et civique“. Die Stunde ist zu einer offenen Diskussionsrunde geworden. Der Lehrer lässt es zu, dass die Klasse von einem Thema zum nächsten springt. Vom Ukrainekrieg und der Rolle der NATO geht es schnell über zu den anstehenden französischen Präsidentschaftswahlen und dem Sinn und Zweck demokratischer Rechte, wie etwa dem Wahlrecht.
Zum ersten Mal seit Langem haben wir es hier mit einer Generation zu tun, die darüber nachdenkt, dass das Prinzip des ‘immer mehr’ nicht der richtige Weg sein kann. »Helmut Willems, Universität Luxemburg
Einerseits ist die Stimmung der Jugendlichen von einer großen Enttäuschung geprägt. Gerade einmal eineinhalb Minuten Sprechzeit hätten Eric Zemmour und Valérie Pécresse während ihres Fernsehduells ökologischen Fragen gewidmet, meint etwa ein Schüler. „Der Klimawandel interessiert sie alle nicht wirklich, jetzt mit dem Ausbruch des Krieges noch viel weniger“, fügt ein weiterer Schüler hinzu. „Wer dieses Jahr wählen geht, wählt nicht den Besten, sondern den am wenigsten Schlechten“, resümiert eine Mitschülerin.
Das Vertrauen in Führungspersonen und parteipolitische Wertvorstellungen hat durch das Krisenmanagement der letzten Jahre vor allem bei der Jugend weiter gelitten. Doch gleichzeitig scheinen die Jugendlichen für ihr Engagement keine Vorbilder oder glänzenden Politikgrößen zu brauchen. Vielmehr schöpfen sie ihre Motivation aus einer gefühlten Notwendigkeit heraus. Beinahe geschlossen bejaht die Klasse, dass sie auch weiterhin auf die Demonstrationen der « Fridays for Future »-Bewegung gehen werde. « Es ist unsere Zukunft. Wir brauchen den Klimaschutz. Natürlich machen wir weiter », lautet der allgemeine Tenor.
Partizipation oder « Alibi-Partizipation »?
„Zum ersten Mal seit Langem haben wir es hier mit einer Generation zu tun, die darüber nachdenkt, dass das Prinzip des ‘immer mehr’ nicht der richtige Weg sein kann“, beschreibt Helmut Willems diesen engagierten Teil der heutigen Jugend. Die Kritik am kapitalistischen Leistungssystem kehre zwar immer wieder zurück; allerdings kennzeichne sich die aktuelle Bewegung laut dem Soziologen durch einen stärker konstruktiven Ansatz und ein « enormes Mobilisierungspotenzial ». « Ihr Engagement ist vom Bedürfnis getrieben, ihre eigene Stimme in der Demokratie zu erheben und bei Weichenstellungen mitzubestimmen », so Helmut Willems.

Der Jugendbericht 2020, der sich mit der mentalen Gesundheit und dem Wohlbefinden der Jugend auseinandersetzt, geht indes von der Annahme aus, dass ein gesundes Leben vor allem auf der Bereitstellung von Handlungsmöglichkeiten basiert, die Jugendliche eigenverantwortlich umsetzen können. Dabei müsse man jedoch zwischen « Partizipation und Alibi-Partizipation » unterscheiden, betont Marc Schoentgen. « Werden Jugendliche in wichtige Entscheidungsprozesse eingebunden oder dürfen sie lediglich das Schulfest organisieren? », bringt der Direktor des Zentrums für politische Bildung das Problem auf den Punkt.
Die Untersuchungen für den Jugendbericht 2020 ergaben, dass Partizipationsräume und Mitbestimmungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in den letzten Jahren nicht gestärkt wurden, sondern eher weiter an Bedeutung verloren haben. Als Grund hierfür wird die Pandemie angeführt, die schnelles Handeln erforderte und eine Beteiligung der Bevölkerung insgesamt schwierig gemacht habe.
« Die Schulen wurden geschlossen, die sozialen Kontakte auf ein Minimum zurückgeschraubt. Das alles über die Köpfe der Jugend hinweg, die neben den vulnerablen Bevölkerungsgruppen sicher am stärksten unter der Pandemie gelitten hat », sagt Christiane Meyers. Für die Forscherin ist klar: « Die Corona-Krise hat gezeigt, dass bestehende politische Strukturen die Jugendlichen nicht genug mit einbeziehen. »
Oder wie es ein 17-jähriger Schüler am Rande der Veranstaltung im Athénée ausdrückte: « Die Alten kleben an ihren Stühlen. Solange Rentner und Greise uns in der Politik repräsentieren, bleibt uns nur die Straße. »