Das Projekt « Nordstad » steht vor einer ungewissen Zukunft. Grund ist eine Forderung der fünf Fusionsgemeinden an das Innenministerium. Ein internes Dokument offenbart, welche Projekte die kommunalen Verantwortlichen mit den insgesamt 120 Millionen finanzieren wollen.
Wie viel ist ein Bürger wert? Eigentlich eine eher zynische Frage und doch wurde sie in Luxemburg seit 2004 bereits 14 Mal beantwortet. Mal mit 2.500 Euro wie 2009 bei der Fusion von Clerf, Munshausen und Heinerscheid, mal mit nur 2.000 Euro wie vor vier Jahren beim Zusammenschluss von Rosport und Mompach.
Der Hintergrund: Entscheiden sich Gemeinden für einen Zusammenschluss, bezuschusst das Innenministerium dies mit einer einmaligen Unterstützungszahlung pro Einwohner. Das Geld soll die Gemeinden in der Übergangsphase unterstützen und gemeinsame Fusionsprojekte finanzieren.
Seit Ende März liegt in diesem Zusammenhang ein eher unerfreulicher Brief im Innenministerium. Versendet hat ihn die Bürgermeisterin der Gemeinde Bettendorf, Pascale Hansen. Verfasst wurde er im Fusionskomitee der Nordstad, dessen Sprecherin Pascale Hansen ist. In dem Brief fordern die Gemeindevertreter aus Diekirch, Ettelbrück, Bettendorf, Erpeldingen und Schieren 5.000 Euro pro Bürger der künftigen Nordstad. Bei rund 25.000 Einwohnern, die in der künftigen Nordstad leben würden, ergibt sich so eine Gesamtforderung in Höhe von 120 Millionen Euro.
Im Gespräch mit dem « Land » bezeichnete Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) die Forderung als « extrem hoch ». Sowohl der Bürgermeister von Diekirch, Claude Haagen (LSAP), als auch Pascale Hansen begründeten die Höhe des Zuschusses mit der Tragweite der Fusion. Denn mit der Nordstad würde im Norden des Landes die viertgrößte Gemeinde Luxemburgs entstehen. Und weil es sich dabei um die größte Fusion handele, die es in Luxemburg je gegeben hätte, müssten auch bei der staatlichen Beteiligung andere Maßstäbe gelten, so die Vertreter der beteiligten Kommunen. Schulen, Seniorenheime und Gemeindeinfrastruktur müssten schließlich der neuen Größe angepasst werden, so der Tenor.
Einblicke in Kosten der Fusionspläne
Die Fusion der Nordstad nimmt spätestens seit Ende 2018 konkrete Formen an. Damals hatten sich die Gemeinderäte von Bettendorf, Erpeldingen, Diekirch, Ettelbrück und Schieren mit insgesamt 52 Ja-Stimmen und nur einer Gegenstimme für Fusionsgespräche ausgesprochen. Wenn die Zusammenlegung gelingt, würde ein nördlicher Gegenpol zu den Ballungsräumen der Hauptstadt und im Süden entstehen. Aus landesplanerischer Sicht hat die Nordstad den gleichen Status wie Esch/Alzette und wird als « Centre de développement et d’attraction d’ordre moyen » (CDA) angesehen. Nach einer geglückten Fusion würde dies sich auch im Budget der neuen Gemeinde widerspiegeln und die Nordstad würde jährlich eine staatliche Förderung von 12,8 Millionen Euro erhalten.
Wofür genau die nun geforderten 5.000 Euro als Fusions-Beihilfe am Ende wirklich verwendet werden sollen, darüber schwiegen sich die Gemeindevertreter bislang größtenteils aus. Zwar ist bekannt, dass unter anderem ein Mountainbike-Park, eine Kletterwand sowie eine sogenannte « City Surfwave » – eine künstlich erzeugte Welle – angedacht sind, doch wieviel die einzelnen Projekte kosten, war bislang nicht gewusst.
Einblicke in die Finanzierung der jeweiligen Projekte liefert allerdings ein Sitzungsprotokoll des Fusionskomitees der Nordstad, das Reporter.lu vorliegt. Das Dokument aus dem Frühjahr dieses Jahres entstand kurz bevor die Forderung der Nordstad-Gemeinden im Innenministerium einging. Die darin enthaltene Liste mit sogenannten « Fusionsprojekten » gibt dabei auch Aufschluss über deren Kosten.
111 Millionen Euro für regionale Projekte
So werden für den Mountainbike-Park etwa zehn Millionen Euro veranschlagt. Für einen Indoor-Spielplatz sind es zwei Millionen Euro. Ein neuer Konzertsaal in Gilsdorf schlägt mit fünf Millionen Euro zu Buche. Für eine interaktive Ausstellung über die archäologische Ausgrabungsstätte in Schieren sind 4,2 Millionen Euro vorgesehen. Ein neues Verwaltungsgebäude für die Nordstad wird mit 17 Millionen Euro budgetiert. Für ein neues Schwimmbad mit Wellnessbereich und die bereits erwähnte « City Surfwave » insgesamt 16,5 Millionen Euro. Gesamtkosten für diese sogenannten « Projets d’envergure régionaux »: 111 Millionen Euro.

Zu diesen regionalen Projekten für die Nordstad kommen noch Infrastrukturprojekte in den einzelnen Gemeinden. Diese « Projets extraordinaires d’envergure » sollen ebenfalls im Zuge der Fusion umgesetzt werden. Vorgesehen ist etwa die Instandsetzung der Gemeindeinfrastruktur. So soll die Wasserversorgung in Bettendorf, Diekirch und Erpeldingen modernisiert werden. Zudem sollen die aktuellen Verwaltungsgebäude in Erpeldingen und Diekirch saniert werden. Neue Parkplätze sind sowohl in Diekirch als auch in Ettelbrück geplant.
Insgesamt belaufen sich die Kosten für die Infrastrukturprojekte auf 136 Millionen Euro. Davon entfallen 18 Millionen Euro auf die Gemeinde Bettendorf, 39 Millionen auf Diekirch, 16,5 Millionen auf Schieren, rund 10 Millionen auf Erpeldingen und 52,5 Millionen auf die größte beteiligte Gemeinde, Ettelbrück.
Personen, die mit den Fusionsverhandlungen vertraut sind, bezeichnen vor allem die regionalen Pläne als « Eitelkeitsprojekte », die schnell zusammengestellt wurden, um die hohe Forderung an das Innenministerium zu rechtfertigen. Wie ernst es den Gemeinden dennoch mit ihren Forderungen ist, unterstrich die Sprecherin des Fusionskomitees Pascale Hansen jüngst in einem Interview mit dem « Luxemburger Wort ». Solange die Gemeinden keine Antwort auf ihre Forderung haben, sei der Fusionsprozess blockiert, so die Bürgermeisterin von Bettendorf.
Hohe Forderung, enger Zeitplan
Damit scheint die Verwirklichung des ursprünglichen Fusionsplans zunehmend fraglich. Denn eigentlich war angedacht, das Fusionsgesetz noch vor den nächsten Gemeindewahlen zu verabschieden. Also vor Juni 2023. Die Begründung dafür: Die Fusion solle nicht « politisiert » werden. Das Problem ist jedoch, dass die Bürger davor noch in einem Referendum über den Zusammenschluss abstimmen müssen, wie es die Prozedur vorsieht. Soll der Zeitplan eingehalten werden, müsste das Referendum bereits im Juli 2022 abgehalten werden, also in weniger als einem Jahr.
Es soll sichergestellt werden, dass den Bürgerinnen und Bürgern keine falschen zeitlichen Versprechungen zum Fusionsprozess gemacht werden. »Beratender Bürgerrat
Vor diesem Hintergrund lesen sich die Forderungen der einzelnen Gemeinden durchaus in einem anderen Licht. Vielleicht nicht als Eitelkeitsprojekte der einzelnen Gemeinden, sondern als bewusst hohe Forderung, die das Innenministerium in eine unmögliche Lage versetzen soll. Denn würden die Hilfen bewilligt, wäre ein Präzedenzfall für zukünftige Fusionen geschaffen und andere Gemeinden könnten sich an den 5.000 Euro der Nordstad-Fusion orientieren.
Dass das Innenministerium den Forderungen der einzelnen Gemeinden nachkommen wird, ist dementsprechend fraglich. Im Interview mit « RTL » hatte die zuständige Ministerin Taina Bofferding aber Ende Juli schon betont, nicht nachgeben zu wollen. Die Finanzierung sei bei einer Fusion zwar wichtig, doch nicht alleine ausschlaggebend. Entscheidend sei auch eine gemeinsame Vision, so die Ministerin. Dabei schwingt implizit mit: Die Forderung ist eine Nebelkerze, die von den offenen politischen Fragen bei der Nordstad-Fusion ablenken soll.
Bürger äußern wesentliche Bedenken
Doch auch bei den Bürgern selbst, die am Ende über die Fusion entscheiden, sind noch Fragen offen. Das belegen die Resultate von Workshops, die 2020 in den einzelnen Gemeinden abgehalten wurden. Die Bedenken der Einwohner lesen sich wie ein Handlungsauftrag an die einzelnen Gemeindevertreter. Besonders die Themen der öffentlichen Einrichtungen, der politischen Autonomie und des Wohnens bereiten den Bürgern Sorgen.
In Hinblick auf eine Fusion erscheint der Aspekt Preissteigerung beim Wohnen als die zentrale Sorge in diesem Thema. »Nordstad-Bürgergutachten
So hält das Bürgergutachten etwa fest: « Es gibt eine große Sorge um den Erhalt lokaler Gemeindehäuser und Schulen. » Beim Thema Wohnen dominiert die Frage nach der Erschwinglichkeit: « In Hinblick auf eine Fusion erscheint der Aspekt Preissteigerung beim Wohnen als die zentrale Sorge in diesem Thema – gemeinsam mit den damit zusammenhängenden Sorgen um die territoriale Entwicklung. »
Über allem schwebt die Frage nach der Rolle, die die einzelnen Gemeinden in der zukünftigen Nordstad einnehmen sollen: « Themenübergreifend ist die Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung der kleineren Gemeinden eine entscheidende Thematik. Sie betrifft politische Repräsentation, öffentliche Finanzen, lokale Identität und anderes mehr. » Diesen Bedenken will das Fusionskomitee derweil mit einer Kommunikationskampagne begegnen. Mit einem Maximalbudget von 267.000 Euro sollen die Bürger von der Idee der Nordstad überzeugt werden.
Grundsteuer und andere Unterschiede
Im Zuge der Fusionsverhandlungen wurde ebenfalls ein gemeinsamer Bürgerrat gegründet. Er setzt sich aus 20 Bürgern der fünf Nordstad-Gemeinden zusammen. Das Gremium soll die Fusion beratend begleiten und Anregungen geben. Auch die Einschätzung des Bürgerrates zur aktuellen Lage ist eindeutig: « Der Beirat empfiehlt, den gesamten Zeitplan der Nordstad-Fusion kritisch zu überdenken und sowohl eine Verschiebung des Zeitplans, als auch eine Verlegung des Referendums in Erwägung zu ziehen. Es soll sichergestellt werden, dass den Bürgerinnen und Bürgern keine falschen zeitlichen Versprechungen zum Fusionsprozess gemacht werden. »
Die Politik selbst scheint sich der zahlreichen, noch offenen Fragen ebenfalls bewusst zu sein. So hält etwa der Sitzungsbericht fest: « Alle Gemeinden haben sich für die initiale Zeitschiene (Fusion Juni 2023) ausgesprochen. Das Komitee ist sich bewusst, dass das Timing sehr sportlich ist und noch viele Entscheidungen getroffen werden müssen, bevor man ins Referendum gehen kann. »

Kopfzerbrechen dürfte den Gemeinden dabei die Harmonisierung der unterschiedlichen Gemeindeverordnungen bereiten. Denn besonders bei der Besteuerung von Grundstücken gehen die geltenden Verordnungen zum Teil weit auseinander. So erhebt etwa die Gemeinde Bettendorf keine Grundsteuer auf ungenutztes Bauland, während die Gemeinde Diekirch 2020 den Grundsteuer-Hebesatz B6 von 700 Prozent auf 15.000 Prozent angehoben hat. Eine Entscheidung, die bei den anderen Nordstad-Gemeinden für Befremden gesorgt hatte, zumal sie nicht über den Entschluss informiert worden waren, wie das « Luxemburger Wort » damals berichtete.
Ungeklärt ist auch, wie die Nordstad künftig politisch organisiert sein wird. Denn drei der Fusionsgemeinden wählen nach dem Majorz-Prinzip, wohingegen Diekirch und Ettelbrück nach dem Proporz-System, also mit Parteilisten, funktionieren. Zwar ist eine politische Übergangsphase von zwölf Jahren denkbar, in der jede Kommune einen Schöffen in den Gemeinderat entsendet. Wie es darüber hinaus aussehen wird, bleibt jedoch im Dunkeln.
Eine Alternative in der Hinterhand
Eine mögliche Lösung der unterschiedlichen Probleme ist denkbar einfach: Die Entscheidung verschieben. Auch hier ist das Sitzungsprotokoll des Fusionskomitees aufschlussreich. Denn neben den Fusionsprojekten enthält das Dokument auch ein sogenanntes « Debriefing » nach einem Treffen mit dem Innenministerium. Gegenstand dieses Treffens war unter anderem der Zeitplan der Fusion. Zurückbehalten wurden zwei Möglichkeiten. Einerseits das Referendum nächstes Jahr und ein Fusionsgesetz vor den Gemeindewahlen 2023. Oder als Alternative eine Aufschiebung der Fusion bis nach den Gemeindewahlen.
In diesem Fall würden die Gemeinderäte realistisch erst 2024 über eine Volksbefragung entscheiden. Das eigentliche Referendum würde dann für März 2025 angesetzt und das Fusionsgesetz im Januar 2026 in Kraft treten. Ob bis dahin alle Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden, ist unsicher. Ebenso bleibt abzuwarten, ob die fünf Gemeinden in diesem Szenario noch an ihrer Forderung von 5.000 Euro pro Einwohner festhalten.