Bei aller Krisenstimmung gibt es auch Unternehmen, die von der Pandemie profitieren. Die Supermarktkette « Cactus » stellt neues Personal ein und steigert ihre Umsätze. Angestellte klagen jedoch über Druck, mangelnde Anerkennung und sorglosen Umgang mit Infektionsrisiken.
« Seit Monaten ist bei uns jeder Tag wie Weihnachten. Cactus macht dieses Jahr das Geschäft seines Lebens », sagt Patrick Ourth, Präsident der Personaldelegation der « Cactus »-Gruppe im Gespräch mit Reporter.lu. « Ein besonderes Jahr, das uns einen zusätzlichen Schub gegeben hat », sagte auch Laurent Schonckert, CEO des mittlerweile 61 Geschäfte zählenden Unternehmens kürzlich in einem Interview mit « Paperjam ». Ein Mitarbeiter schüttelt hingegen den Kopf und erzählt von überfüllten Einkaufswagen, meterlangen Schlangen an den Kassen, Hamsterkäufen und Kaufrausch. « Was für eine Welt ist das? », fragt er. « Die kleinen Geschäfte machen zu und Cactus ist das Schlaraffenland der Krise. »
2019 hat Cactus einen Gesamtumsatz von fast 800 Millionen Euro gemacht, bei einem Gewinn von 37 Millionen. Die offiziellen Geschäftszahlen für 2020 sind bisher nicht öffentlich bekannt. Dennoch bestätigt das Unternehmen auch offiziell die positive Tendenz. Es seien « außergewöhnliche Zeiten », in denen sich « Cactus » insgesamt zwar mit geringeren Kundenzahlen konfrontiert sehe. Gleichzeitig können man aber auf « erhöhte Durchschnittseinkaufskörbe » der Kunden zählen, heißt es hierzu aus der Marketingabteilung der Supermarktkette. Seit Beginn der Krise sollen bereits 300 zusätzliche Mitarbeiter eingestellt worden sein.
Die Schattenseiten des Erfolges
Insgesamt wirkt sich das an die sanitäre Krise angepasste Einkaufsverhalten demnach positiv auf den Umsatz des Unternehmens aus. Die Menschen bleiben verstärkt zu Hause. Einkaufen gehen sie für gewöhnlich dort, wo sie alles bekommen: Große Supermärkte ohne Lieferengpässe, die nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kleidung, elektronische Geräte sowie Freizeit- und Kosmetikartikel anbieten.
Demnach ist die Geschäftsführung weiter auf Expansionskurs: Neue Filialen, vor allem im bisher von Cactus weniger erschlossenen Osten des Landes, sollen in naher Zukunft eröffnen. Bestehende Strukturen, wie zum Beispiel die Filiale in Esch-Lallange, werden vergrößert. Ab nächstem Jahr sollen zudem ein weiteres halbes Dutzend « Shoppis », die so genannten Cactus-Geschäfte in Tankstellen, hinzukommen.
Die Medien berichten von den untragbaren Verhältnissen für das Pflegepersonal in den Krankenhäusern. Wir werden mittlerweile vergessen. Und dabei arbeiten auch wir härter als je zuvor. »Eine Kassiererin im Cactus, Belle-Etoile
Doch hat dieser Erfolg auch Schattenseiten. Mitarbeiter beschweren sich über den hohen Leistungsdruck und die Angst vor einer Coronavirus-Infektion. « Sicherheitsmaßnahmen werden bei uns in der Filiale nicht eingehalten », sagt ein Mitarbeiter, der unter der Voraussetzung von Vertraulichkeit mit Reporter.lu sprach.
An vielen Tagen sei es zudem unmöglich, die von der Regierung vorgeschriebenen zehn Quadratmeter pro Kunde einzuhalten, sagt der Mitarbeiter. Er spricht von Gedränge in den Gängen und Rangeleien an den Theken. Und von desolaten Zuständen hinter den Kulissen, in den Lagern und den Mitarbeiter-Kantinen. Einen etwas abseits stehenden Tisch soll es dort geben, für Verdachtsfälle.
« Ich habe mich bei meinem Chef über das erhöhte Infektionsrisiko beschwert, wenn Mitarbeiter, die mit dem Virus in Kontakt gewesen sind, weiterhin zur Arbeit kommen », erzählt der Angestellte. Doch die Antwort sei klar gewesen: « Ich solle mich nicht so anstellen, schließlich würden ja alle eine Maske tragen. » Die Cactus-Direktion wollte auf Nachfrage von Reporter.lu zu den Arbeitsbedingungen und Sicherheitsmaßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt keine Stellung beziehen.
Druck aus dem « Middle Management »
Viele der Mitarbeiter im Cactus Belle-Etoile wirken erschöpft. « Ich habe schon lange nicht mehr richtig geschlafen », sagt eine Kassiererin. Infizierte Kollegen, Arbeitsausfälle, gestresste Kundschaft, Druck von oben: Die Arbeitsbedingungen hätten sich mit dem Andauern der Ausnahmesituation weiter verschlechtert. « Die Medien berichten von den untragbaren Verhältnissen für das Pflegepersonal in den Krankenhäusern », sagt sie. « Wir werden mittlerweile vergessen. Und dabei arbeiten auch wir härter als je zuvor. »

« Das ist die Zeit der aufgeblasenen Minibosse », sagt ein Angestellter einer kleinen hauptstädtischen Cactus-Filiale. Es sei nicht unbedingt die Direktion, von der Druck aufgebaut werde. Ein ungesundes Klima herrsche im « Middle Management »: Eine aufgeheizte Konkurrenzsituation unter Abteilungs- und Filialleitern führe dazu, dass einige von ihnen « nach unten treten ». Die Tritte würden dann jene treffen, die ohnehin in prekären Bedingungen arbeiteten, « meist Grenzgänger mit befristeten Verträgen », sagt der Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte.
« Der Personalchef des Cactus regt sich selbst über einige seiner Filialleiter auf », erzählt Patrick Ourth, Präsident der Personaldelegation des Cactus. Erst kürzlich sei noch ein Schreiben mit einem « Verhaltenskodex » an alle Leitungen herausgegangen, in dem die Direktion nochmals an die Sicherheitsmaßnahmen erinnerte. « Ich glaube nicht, dass die Direktion bewusst Regelverstöße toleriert », sagt der Gewerkschaftler, dennoch bemängelt auch er den fehlenden Dialog und einen autoritären Führungsstil beim mittlerweile drittgrößten Arbeitgeber des Landes.
Schleppende Kommunikation
« Der Sozialdialog funktioniert nicht », meint Patrick Ourth. « Uns werden Entscheidungen mitgeteilt, sie werden aber nicht gemeinsam getroffen, wie es eigentlich für große Betriebe vorgeschrieben ist », sagt er. Patrick Ourth erzählt von einem « Krisenstab », der von der Direktion des Cactus eingerichtet wurde, um bei Problemen in den Filialen direkt reagieren zu können. « Doch leider ist kein Personalvertreter dabei, nicht einmal unser Delegierter für gesundheitliche Sicherheit. Das geht nicht », sagt Patrick Ourth. Schließlich kämen die Beschwerden meist bei der Personalvertretung an und nicht in der Geschäftsführung. « Ich habe zur Zeit mehrere Dutzend Anrufe täglich », sagt der Delegationsleiter. « Die Arbeitnehmer sind beunruhigt, brauchen Unterstützung, Aufklärung. »
Infektionsgefahr in Supermärkten
Dass es in Supermärkten eine erhöhte Infektionsgefahr gibt, ist nicht nur ein subjektives Gefühl – auch erste Studien legen dies nahe. Daten der britischen Gesundheitsbehörde zufolge könnten sich Menschen häufiger als bisher gedacht in Supermärkten mit dem Coronavirus infizieren. Die Studie basiert auf zusammengestellten Daten der sogenannten « TraceApp » und Tests des « National Health Service ». Die britische Gesundheitsbehörde analysierte Daten von knapp 130.000 Menschen, die sich zwischen dem 5. und dem 9. November mit dem Virus infiziert hatten. Supermärkte wurden hierbei als ein Hauptkontaktpunkt festgestellt. 18,3 Prozent der Menschen, die sich mit dem Sars-CoV-2-Virus infiziert hatten, hatten laut der Studie einen Supermarkt besucht oder arbeiten dort. Die Daten können jedoch nicht beweisen, dass die Infektion auch tatsächlich im Supermarkt stattgefunden habe, wird in der Studie präzisiert.
« Es herrscht schon viel Panik im Moment », sagt auch David Angel, Zentralsekretär des OGBL-Syndikats Handel im Gespräch mit Reporter.lu. Für ihn liegt das Versagen vieler Unternehmen vor allem in der Kommunikation. « Die Betriebe kommunizieren nicht transparent », sagt er. Weder über betriebsinterne Covid-Infektionen noch über Arbeitsausfälle wegen möglicher Kontakte. « Kein Wunder, dass Unsicherheiten und Ressentiments entstehen. Die Leute kriegen das ja mit und reden », sagt David Angel. Cactus, mit seinen über 4.000 Mitarbeitern landesweit und mittlerweile 160 hausinternen Covid-19-Fällen, sei hier sicher keine Ausnahme.
Über das reine Infektionsrisiko hinaus birgt die außergewöhnliche Arbeitssituation weitere Gefahren. Belegschaften können leichter gespalten werden, indem Konkurrenzdruck aufgebaut und Abhängigkeiten geschaffen werden. Die meisten Mitarbeiter, die in diesem Jahr neu eingestellt wurden, haben lediglich einen befristeten Arbeitsvertrag, bestätigt Patrick Ourth auf Nachfrage. « Viele von ihnen kommen aus der Grenzregion und kennen ihre Rechte nicht », sagt der Gewerkschafter weiter. « Das schürt Unverständnis in anderen Teilen der Belegschaft. »
Pandemie fördert Ungleichheiten
Die sanitäre Krise verschärft aber auch den Konkurrenzdruck innerhalb des Sektors. Während Cactus expandiert, erwartet die „Confédération luxembourgeoise de commerce“ spätestens ab Januar einen deutlichen Anstieg der Insolvenzanträge im Einzelhandel. Durch die staatlichen Hilfen und die Fristverlängerungen bei Steuer- und Abgabenzahlungen sei die Situation bisher zwar weitestgehend stabil geblieben, erklärt ihr Direktor Nicolas Henckes im Gespräch mit Reporter.lu. « Doch irgendwann liegen die Rechnungen auf dem Tisch. »

Viele der Geschäfte aus dem Einzelhandel würden ihr Hauptgeschäft in der Weihnachtszeit machen. « Sie haben die Zähne zusammengebissen und bis jetzt durchgehalten, in der Hoffnung, Ende des Jahres aufzuholen », sagt Nicolas Henckes. « Doch sollte das nicht klappen, wird wohl für viele Schluss sein. » Fotos von überfüllten Einkaufsstraßen und langen Schlangen vor den Geschäften der Innenstadt, wie jene der vergangenen Wochenenden, würden ein verzerrtes Bild der Lage zeichnen. « Für viele sind die Einbußen seit März dennoch gravierend », so der Chef der Handelsföderation.
Mit dem am Donnerstag in Kraft getretenen partiellen Lockdown verschärfen sich die potenziellen Ungerechtigkeiten weiter. Und das nicht nur im Handel. Die neuen Maßnahmen « könnten von den Betroffenen als diskriminierend angesehen werden, da einige Aktivitäten verboten sind, andere jedoch nicht. Und das, obwohl die Verbreitung des Virus diffus ist und sich nicht auf einzelne Sektoren begrenzen lässt », schreibt die « Commission Consultative des Droits de l’Homme » in ihrer Stellungnahme zum neuen Covid-Gesetz.
Freizeitaktivitäten wie Kino- oder Theaterbesuche sind zum Beispiel nicht mehr gestattet. Restaurants und Cafés dürfen nur für Lieferungen und Take-Away offen bleiben. Auch Schwimmbäder, Fitnessstudios und Sportvereine müssen schließen. Was zum Ausgleich oder Zeitvertreib jedoch bleibt, ist das Einkaufen. Nicht selten auf Kosten der Angestellten, die, wie ein Mitarbeiter der Belle-Etoile meinte, die « Jahrmarktstimmung im Supermarkt » dann ausbaden müssen.