Eigentlich wollte die Gemeinde Diekirch nur einige Grundstücke neu ausweisen. Doch laut der Justiz höhlte das Vorgehen des früheren Bürgermeisters Claude Haagen die Demokratie aus. Auch das Innenministerium spielte in der Angelegenheit eine zweifelhafte Rolle.
Es sind deutliche Worte, die der oberste Richter des Verwaltungsgerichtshofs in seinem Urteil findet. Absurd sei die Situation und eines Rechtsstaats unwürdig. Die Vorgehensweise des Gemeinderats, aber vor allem die des damaligen Bürgermeisters Claude Haagen (LSAP), sei « (…) in einer parlamentarischen Demokratie vollkommen unzulässig ».
Auch die zuständige Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) kritisiert der Richter unmissverständlich. Diese habe sich das Fehlverhalten des Gemeinderats durch ihr Nichteinschreiten gewissermaßen zu Eigen gemacht. Und auf dem Spiel stehe viel, so der Gerichtshof weiter, denn in der Sache gehe es um die Grundfesten eines Rechtsstaats und den Respekt der Rechtsordnung. Nicht mehr und nicht weniger.
Dabei geht es eigentlich nur um mehrere Grundstücke in Diekirch. Konkret handelt es sich um Baugrund von mehreren Parteien, der im Überschwemmungsgebiet der Sauer liegt. Dies nahm die Gemeinde Diekirch zum Anlass, die Grundstücke in ihrem neuen allgemeinen Bebauungsplan (PAG) fortan als Grünzone (« Zone verte ») auszuweisen. Demnach dürfen sie nicht mehr bebaut werden. Die Begründung damals: Die Gemeinde trage die Verantwortung für die Sicherheit und die Versorgung der Flutopfer im Falle einer Überschwemmung. Deshalb sei eine Bebauung der Parzellen unverantwortlich, schließlich lägen sie am tiefsten Punkt hinter der Deichmauer. Das war Anfang 2016. Seitdem beschäftigen jene Grundstücke die Gerichte.
Eine Nicht-Entscheidung mit Folgen
Nachdem der Einspruch der Grundstücksbesitzer sowohl bei der Gemeinde als auch beim Innenministerium abgelehnt wird, reichen die Eigentümer Klage beim Verwaltungsgericht ein. 2019 gibt die « Cour administrative » den Klägern Recht und fordert die Gemeinde auf, das Urteil umzusetzen und die betroffenen Grundstücke im Bebauungsplan wieder in Bauland umzuwidmen.
Doch anstatt dem Urteil zu folgen, wird der Gemeinderat kreativ. Am 6. Mai 2019 stimmt er erneut über den Einspruch der Grundstücksbesitzer ab. Bei der Abstimmung nutzt der Rat eine Besonderheit des Gemeindegesetzes. Dieses sieht nämlich in Artikel 19 vor, dass die Entscheidung bei einer Pattsituation im Gemeinderat auf die nächste Sitzung vertagt wird. Demnach stimmen sechs Räte für die Umklassierung, sechs Räte dagegen und Bürgermeister Claude Haagen enthält sich.
Ce mode de fonctionner est absolument inadmissible en démocratie parlementaire tant au niveau national que local. »
Urteil der « Cour administrative »
Am 13. Juni folgt die zweite Abstimmung, mit dem gleichen Ergebnis. Und das hat wesentliche Folgen. Denn Artikel 19 sieht vor, dass bei der Zweitabstimmung und einer wiederholten Pattsituation die Stimme des Bürgermeisters entscheidet. Doch durch seine Enthaltung hat der damalige Bürgermeister und jetzige Minister Claude Haagen eine Situation herbeigeführt, die im Gesetz so nicht vorgesehen, aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird. Eine Entscheidung, die faktisch keine Entscheidung ist, aber die Umsetzung des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs in der Praxis verhindert.
Die Grundbesitzer wenden sich daraufhin an das Innenministerium, um Einspruch gegen die Abstimmung im Gemeinderat einzulegen. Die Antwort der Ministerin: Sie sehe sich nicht befugt, ihrer Weisungsbefugnis an die Gemeinde nachzukommen. Denn, so die Ministerin weiter in ihrem Schreiben: « (…) aucune majorité n’a pu se dégager des deux votes précités et que le conseil communal n’a dès lors pas pu prendre de décision conformément à l’article 14 de la loi précitée. » Der vom Innenministerium angesprochene Artikel ist Teil des PAG-Gesetzes aus dem Jahr 2004. Er sieht drei Möglichkeiten vor, wie der Gemeinderat mit Einsprüchen umgehen kann: Er kann den ursprünglichen PAG-Entwurf annehmen, ihn mit Änderungen annehmen oder ihn ablehnen.
Justiz pocht auf Entscheidung
Die Besitzer klagen erneut. Diesmal gegen die Abstimmung im Gemeinderat und gegen die Entscheidung des Innenministeriums. In einem ersten Urteil stellt das Verwaltungsgericht fest, dass die fehlende gesetzliche Klarheit zu « (…) des situations quasi inextricables » führen könne. Dennoch sei eine Enthaltung des Bürgermeisters nicht mit einer impliziten Ablehnung gleichzusetzen. Demnach sei die Entscheidung des Innenministeriums, keine Entscheidung zu treffen, rechtmäßig.
Dieser Lesart widerspricht der Verwaltungsgerichtshof in seinem jetzigen Urteil vehement. Bei diesem Fall gehe es um die Unterscheidung zwischen Zweck und Form von Gesetzestexten. Der genaue Wortlaut eines Textes und dessen Form dürften nie über dem Ziel, das ein Gesetz verfolgt, stehen. Die Aufgabe eines Richters sei es deshalb, vorrangig zwei Grundfragen zu klären: « Was macht Sinn? » und « Was sagt der gesunde Menschenverstand? »
Ein Ziel des PAG-Gesetzes sei es, Schwierigkeiten zwischen Bürgern und der Gemeinde bei der Neuausarbeitung des allgemeinen Bebauungsplans zu regeln. Dafür sehe das Gesetz eine Reihe von Einspruchsmöglichkeiten vor, beginnend beim Gemeinderat, über das Innenministerium bis zu, in letzter Instanz, dem Verwaltungsgerichtshof. Und in diesem Rechtsgefüge sei der Gemeinderat schlicht dazu verpflichtet, Urteile des höchsten Gerichts, immerhin der letzten Instanz, auch umzusetzen, heißt es im Urteil.
Kritik am Innenministerium
Demnach sei der Gemeinderat in Diekirch bereits 2019 dazu verpflichtet gewesen, dem damaligen Urteil des Gerichtshofs zu folgen und die Flächen wieder in Bauland umzuwidmen. Denn zu diesem Zeitpunkt habe er schlicht nicht mehr die Freiheit gehabt, « (…) de refuser ce qui avait été définitivement jugé et décidé. » Doch eine Enthaltung des Bürgermeisters komme in diesem Zusammenhang einer impliziten Ablehnung gleich, stellt das Urteil fest.
Ja, das Ministerium wurde im Vorfeld darüber informiert, dass es bei der Abstimmung zu einer Pattsituation kommen könnte. »Sprecher des Innenministeriums
Auch beim Innenministerium spart das Urteil nicht mit Kritik. Schließlich hätte auch das Ministerium feststellen müssen, dass das Abstimmungsverhalten im Gemeinderat unzulässig sei, weil es gegen die geltende Rechtsordnung verstoße, so die Richter. Demnach sei es die eigentliche Aufgabe des Innenministeriums gewesen, die Nicht-Entscheidung der Gemeinde zu annullieren und den Rat aufzufordern, gemäß dem Urteil abzustimmen.
Deshalb erklärt der Verwaltungsgerichtshof die Stellungnahme des Ministeriums von 2019 für nichtig und fordert das Innenministerium unmissverständlich auf, dem jetzigen Urteil Rechnung zu tragen. Zudem verurteilt es den Staat zur Zahlung einer Verfahrensentschädigung in Höhe von 5.000 Euro an die Geschädigten.
Auf Nachfrage von Reporter.lu erklärt das Innenministerium, dass man mit der Gemeinde Diekirch Kontakt aufnehmen werde, um über die Umsetzung des Urteils zu beraten. Auf das Abstimmungsverhalten des Gemeinderats angesprochen und die Frage, ob das Ministerium zuvor davor in Kenntnis gesetzt wurde, erklärt ein Sprecher schriftlich: « Ja, das Ministerium wurde im Vorfeld darüber informiert, dass es bei der Abstimmung zu einer Pattsituation kommen könnte. » Auch Mitglieder des Gemeinderats bestätigen auf Nachfrage von Reporter.lu, dass es vor der Abstimmung Nachfragen zum Stimmverhalten der Opposition gegeben habe. Es sei demnach klar gewesen, dass eine Pattsituation herbeigeführt werden sollte.
Allerdings habe das Innenministerium dies nicht verbieten können, da man damals einer Interpretation des Gemeindegesetzes gefolgt sei, die ein solches Abstimmungsverhalten nicht untersagt habe. Zudem hätte ein Einschreiten des Ministeriums einen Eingriff in die Gemeindeautonomie dargestellt, so die Erklärung des Sprechers von Ministerin Taina Bofferding.
Kommunaler Präzedenzfall
Für die Zukunft und ähnliche Entscheidungen in anderen Gemeinden dürfte das Urteil derweil Folgen haben. Denn durch den Präzedenzfall ergebe sich ein « neuer Moment », wie das Innenministerium erklärt. Deshalb werde man diesem in Zukunft Rechnung tragen.
Die Gemeinde Diekirch hält sich indes bedeckt. Auf Nachfrage von Reporter.lu erklärt der amtierende Bürgermeister Claude Thill (LSAP): « Kein Kommentar. » Öffentlich thematisiert wurde das Urteil im Gemeinderat bisher nicht. Allerdings soll der Gemeinderat, laut Informationen von Reporter.lu, im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung am vergangenen Mittwoch darüber informiert worden sein, dass das Urteil vorliege.
Aus Oppositionskreisen heißt es, dass man das Urteil derzeit noch nicht kommentieren wolle, da man es noch nicht in Gänze gelesen habe. Der ehemalige Bürgermeister und jetzige Landwirtschafts- und Sozialminister Claude Haagen ließ bereits beim Urteil des Verwaltungsgerichtshofs zur geplanten « Seniorenresidenz » in Diekirch ausrichten, dass er generell keine Dossiers aus Diekirch mehr kommentiere.